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Auf nach Vietnam?

Asien-Investoren haben ein neues Lieblingsziel: Zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt locken Extraprofite – trotz zunehmender Proteste gegen Dumpinglöhne

Von Rosso Vincenzo *

Während sich die Aufmerksamkeit der Weltmedien zunehmend auf die ex­pandierende Wirtschaftsgroßmacht China richtet, zieht es einen nicht geringen Teil des auf der Suche nach Extraprofiten um den Globus vagabundierenden Kapitals bereits weiter nach Süden. Beliebtestes Ziel derzeit ist Vietnam. Nach einer Studie des Beratungskonzerns PricewaterhouseCoopers gilt das südostasiatische Land gegenwärtig als attraktivstes Investitionsziel unter 20 ausgewählten Schwellenländern, deren Spektrum von China bis Polen reicht. Anfang Oktober konstatierte das Handelsblatt eine »neue Runde im Outsourcing« externer Dienstleister. Vietnam sei dabei »mittlerweile einer der beliebtesten Standorte«, weil »selbst China schon manchen zu teuer ist«. Die Produktion in Vietnam, die Lohnbuchhaltung auf den Philippinen, das Call-Center in der Türkei, dies sei für viele Firmen heute Alltag, so das Wirtschaftsblatt.

Die wirtschaftlichen Perspektiven Vietnams scheinen großartig: Beim Weltwirtschaftsforum in Singapur verkündete Vizeregierungschef Ngyuen Sinh Hung jüngst, bis 2020 werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seines Landes jährlich um acht bis zehn Prozent zulegen. Im ersten Quartal 2007 wuchs die Wirtschaft Vietnams um 7,7 Prozent, und die Exporte stiegen in den ersten neun Monaten 2007 um 19,4 Prozent. Damit ist Vietnam (nach China) die am zweitschnellsten wachsende Volkswirtschaft in der Region. Allein in diesem Jahr rechnet die Regierung in Hanoi mit Auslandsinvestitionen von 15 Milliarden US-Dollar. Das entspricht dem Volumen Indiens, obwohl Vietnam mit 81,4 Millionen Einwohnern nur knapp acht Prozent der Bevölkerung des Subkontinents erreicht.

Völlig problemlos läuft die Profitmacherei allerdings nicht. Von ausländischen Investoren betriebenen Unternehmen bilden einen zunehmenden Unruheherd. Immer wieder kommt es zu spontanen Massenstreiks, hauptsächlich gegen die gezahlten Dumpinglöhne. Zwischen 600000 und einer Million vietnamesischer Dong erhalten die dort Beschäftigten im Monat. Das entspricht 37 bis 62 US-Dollar und ist auch in Vietnam zuwenig zum Überleben. Nachdem im Januar 2006 40000 Arbeiter in der Provinz Dong Nai nahe Ho-Chi-Minh-Stadt, wo 280000 Vietnamesen in 540 ausländischen Fabriken arbeiten, wegen zu niedriger Löhne in Streik getreten waren, hatte die Regierung einen Mindestlohn von 37 Dollar eingeführt. Im März dieses Jahres legten dort 30000 Beschäftigte in zwölf Betrieben wegen zu magerer Lohnerhöhungen erneut die Arbeit nieder. Teilweise hatten die Unternehmen den Jahreslohn nur um einen bis zwei Dollar erhöht. Den Statistiken der Provinzregierung zufolge, gab es dort von Januar bis Juli 2007 66 Streiks in ausländischen Firmen, von denen die meisten drei bis fünf Tage dauerten.

Um überleben zu können, sind Überstunden, Sonderschichten oder Zweitjobs unabdingbar. Doch das ist schwierig, da nach einer Ende September veröffentlichten Untersuchung des staatlichen Gewerkschaftsbundes Vietnam Confederation of Labour (VCL) 65 Prozent der Beschäftigten bereits jetzt regulär eine Sechs-, 25 Prozent sogar eine Sieben-Tage-Woche haben. Zudem besitzen den Angaben zufolge von den bereits langjährig bei solchen Unternehmen Beschäftigten knapp 30 Prozent nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Betriebliche Tarifabkommen gibt es nur in der Hälfte der Unternehmen. Die meisten davon seien zudem wenig hilfreich für die Beschäftigten. Die Auslandsfirmen weisen nicht nur die höchste Streikquote aller Wirtschaftssektoren auf. Hier sind 59,3 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Viele davon allerdings in neu entstandenen unabhängigen Basisgewerkschaften, da sich die Staatsgewerkschaft bislang nicht gerade als kämpferische Interessenvertretung präsentiert hat.

Seit Beginn der »Doi Moi« (wirtschaftliche Öffnung) genannten Hinwendung zur kapitalistischen Marktwirtschaft 1986 hat die »Sozialistische Republik Vietnam« eine grundlegende soziale Veränderung durchgemacht. Ein Prozeß, der durch die vorübergehende Kapitalflucht im Gefolge der Asienkrise 1998 nur kurzzeitig ins Stocken geriet. Heute tragen die Staatsunternehmen nur noch 39 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt, 37 Prozent zur industriellen Fertigung und 35 Prozent zu den Exporten (außer Rohöl) bei. Zudem ist die Reform der verbliebenen 3200 Staatsunternehmen das oberste strukturpolitische Ziel der Regierung des ehemaligen Zentralbankgouverneurs und heutigen Ministerpräsidenten Nguyen Tan Dung. Wichtigste Hindernisse auf diesem Weg sind sowohl die Furcht vor landesweiten sozialen Unruhen, als auch ein Restwiderstand verbliebener »orthodoxer« Kreise in der 2,8 Millionen Mitglieder zählenden KP Vietnams (CPV).

Der Chef der Auslandsabteilung des Zentralkomitees der CPV, Tran Van Hang, gestand in einem Interview für die australische Wochenzeitung Left Green Weekly Anfang September offen ein, daß die kapitalistische Entwicklung in Vietnam gegenwärtig die Realität sei, und zeigte darüber hinaus, daß »die führende Partei« längst nicht mehr führt: »Theoretisch verstehen wir sehr genau, warum wir diese Phase kapitalistischer Entwicklung durchmachen müssen, wir arbeiten allerdings noch an unserem theoretischen Verständnis des Weges, der uns von hier aus zum Sozialismus führt.«

* Aus: junge Welt, 26. Oktober 2007


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