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"Bis zur Selbstaufgabe"

"Mothers Soul" zeigt prekären Alltag der Mehrheit in Vietnam. Frauen bis heute unterdrückt. Ein Gespräch mit Pham Nhue Giang *


Pham Nhue Giang, 1957 in Hanoi geboren, ist eine der wenigen Filmemacherinnen Vietnams.

Ihr Film »Mothers Soul« schildert prekäre Arbeitsbedingungen und einen hektischen Alltag. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Thu, das ganz auf sich gestellt ist, weil seine Mutter, eine Straßenverkäuferin, und deren Liebhaber, ein Lastwagenfahrer, mit sich beschäftigt sind. Ist das eine Geschichte von Außenseitern in der zuvor von zwei Kriegen gebeutelten Sozialistischen Republik Vietnam?

Nein, in Vietnam leben derzeit 90 Prozent der Bevölkerung in Armut, zehn Prozent schwimmen im Geld. Das Land hat noch keine Moral gefunden – so wie viele Staaten, die Kriege in jüngster Vergangenheit hinter sich haben: Zunächst tobte von 1946 bis 1954 der »Indochinakrieg« Frankreichs, und zehn Jahre später zettelten die USA den Vietnamkrieg an, der bis 1973 dauerte. 1975 zwang das kommunistische Nordvietnam den Süden des Landes zur Kapitulation. Noch immer herrscht Korruption, die Regierung hat es nicht geschafft, soziale Verhältnisse zu schaffen. Ich wollte einen sehr realen Film über das Leben von Kindern und Frauen in weniger privilegierten Schichten machen. Er ist ein Manifest für das Recht von Kindern, geliebt und umsorgt zu werden.

Der Film zeigt eine extreme Leistungsgesellschaft…

In der Tat arbeiten alle fast rund um die Uhr, in ständiger Verfügbarkeit. Thu muß ihrer Mutter helfen, Mangos und Orangen auf dem Markt in Hanoi zu verkaufen. Kommen morgens um vier Lastwagen dort an, muß um diese Uhrzeit verkauft werden. Als Alleinerziehende schafft die Mutter es kaum, sich und ihr Kind zu ernähren. Sie hat Schulden, drängelnde Gläubiger machen ihr das Leben schwer. Weil sie kein Kapital hat, kann sie nur bereits faulendes Obst ankaufen, das kaum Abnehmer findet.

Klingt wie Turbokapitalismus.

Wenn Sie nach dem Sozialismus fragen: Er existiert. Parallel gibt es aber viele Privatisierungen.

Wie steht es um die Gleichberechtigung der Frauen in Ihrer Heimat?

Frauen sind traditionell unterdrückt. Viele kennen nichts anderes, als sich unterzuordnen bis zur Selbstaufgabe. Allerdings kann so keine Familie funktionieren. Junge Leute in Vietnam streben oft keine Heirat an. Kinder und Erwachsene sind mit der Widersprüchlichkeit der Gesellschaft überfordert. Ziel müßte es jetzt sein, die Ökonomie voranzubringen, Frauen und Kindern zu ihrem Recht zu verhelfen. Es gibt Projekte, die Frauen fördern – aber zu wenige. Sie können sich dort zum Beispiel Geld vom Staat leihen und müssen kaum Zinsen zahlen.

Läuft Ihr Film in Vietnam in den Kinos? Sind die Menschen bereit, sich mit der Problematik des prekären Lebens auseinanderzusetzen – oder bevorzugen sie Blockbuster oder Liebesschnulzen?

Wie anderswo auf der Welt auch: Kunstfilme haben es schwer, erst recht, wenn sie traurige Realität widerspiegeln. In Vietnam wird »Mothers Soul« aber erst im September anlaufen, zu den Reaktionen kann ich also noch nichts sagen.

Wer entscheidet, welche Filme in die Kinos kommen? Gibt es Zensur?

Das ist eine schwere Frage. Sehen Sie: Ich gebe das Skript ab, bevor über die Finanzierung des Films entschieden wird. Ist er fertig, muß er abgenommen werden. Aber ist das nicht in Deutschland im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ähnlich? Die Freiheit von Filmautoren wird so begrenzt, die Finanzierung ist schwierig. Ich arbeite für eines der beiden staatlichen Filmstudios mit jeweils etwa 100 Mitarbeitern. Vietnam ist ein kleines, nicht besonders reiches Land. Zur Zeit hat die Regierung andere Vorstellungen, welche Filme gefördert werden sollen. 2014 ist der Sieg Vietnams über die französische Kolonialmacht 60 Jahre her, kommendes Jahr wird es deshalb viele Historienfilme geben. Man ist stolz darauf, daß so ein kleines Land seine Unabhängigkeit verteidigen konnte – gegen Frankreich und später gegen die USA. Deshalb gibt es für thematisch anders gelagerte Filme weniger Geld. Ngo Phung Lan, Chef im Cinema Department, findet meinen Film gut, aber in Regierungskreisen gibt es kein Interesse dafür.

Wie ist Ihr Auskommen als Filmemacherin?

Ich bin privilegiert gegenüber vielen anderen Vietnamesen. Mein Vater war Filmdirektor in einem der staatlichen Studios. Ich erhalte ein monatliches Salär, aber nicht viel, meist gibt es Förderungen vom Ausland. Die Privatisierung, die die Regierung auch befürwortet, hat für mich Vorteile: Ich mache Fernsehserien für einen privaten Sender, der besser zahlt, und investiere dieses Geld in einen staatlich produzierten Kunstfilm.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Freitag, 19. April 2013


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