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Nachwehen des Krieges

Vietnams Frauen sind aktiv in Politik und Erwerbsleben. Doch überkommene Traditionen und Folgen der US-Invasion behindern Gleichstellung

Von Florence Hervé *

Hang Chuoi N° 39: Ein Palast am Rande der quirligen Altstadt Hanois, Sitz der Frauenunion Vietnams, einer Organisation mit 13 Millionen Mitgliedern, die über verschiedene Einrichtungen wie ein Gesundheitszentrum, eine Ausbildungsschule, einen Verlag, ein Mu­seum, ein Informationszentrum und ein Frauenhaus verfügt – sowie seit 2007 über ein Zentrum für Frauen und Entwicklung. Sie gibt außerdem die Monatszeitschrift Women in Vietnam mit einer Auflage von eine Million Exemplaren heraus.

Die Union, die eng mit dem Kampf für nationale Unabhängigkeit verbunden ist, wacht heute über die Umsetzung der Gleichstellungsgesetze, hilft bei der wirtschaftlichen Entwicklung, bei Qualifikationsmaßnahmen und der Schaffung von Arbeitsplätzen.

Die Vizepräsidentin der Organisation, Hoàng Thi Ái Nhiên, zählt die Errungenschaften auf: Frauen stellen mit 17 Millionen 49 Prozent der Erwerbstätigen. Und mit 25,7 Prozent Frauen in der Nationalversammlung hat Vietnam diesbezüglich die dritthöchste Quote in der Asien-Pazifik-Region. Dazu eine Regierungsvizepräsidentin, eine Ministerin für Arbeit, Kriegsinvaliden und Sozialangelegenheiten und die Präsidentin der Nationalversammlung.

Die Frauenunion, die sich als Netzwerk auf allen Verwaltungsebenen versteht, arbeitet eng mit der Regierung zusammen. Sie war maßgeblich an den Gesetzen zur Gleichstellung (2006) und gegen häusliche Gewalt (2007) beteiligt. Sie informiert Frauen im ganzen Land über ihre Rechte, beispielsweise über ein seit 2003 existierendes Gesetz, in dem die Eigentümerrechte von Frauen und Männer namentlich festgelegt werden. Bis heute nehmen manche Frauen aus Unwissenheit ihr Recht auf Zugang und Verwendung von Land und Gütern noch nicht wahr.

Auch in Vietnam bekommen Frauen noch zwischen 20 und 30 Prozent weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen. Aber 25 Prozent der Unternehmer und rund 30 Prozent der Beschäftigten in Wissenschaft und Technologie sind Frauen. Doch von den Hochschulprofessuren sind – ähnlich wie in Deutschland – nur fünf bis elf Prozent in weiblicher Hand.

Hauptproblem Armut

Zur Bekämpfung und zur Reduzierung von Armut und Hunger versucht die Union, Frauen mit Banken in Kontakt zu bringen. Jedes Jahr erhalten 500000 Familien sogenannte Mikrokredite. Auf diese Weise will die Union 90 Prozent der armen weiblichen Haushaltsvorstände unterstützen. Außerdem sollen jährlich 50000 Frauen in den Genuß einer Berufsausbildung kommen.

Besonders schwer haben es alleinstehende Frauen, die oft »unfair und verächtlich« behandelt werden, wie es die Philosophieprofessorin Lê Thi in ihrer 2008 erschienenen Studie »Single Women« ausdrückt. Die Herausgeberin zahlreicher Zeitschriften und Bücher über Frauen und Familien begründet darin die Tatsache, daß fast 85 Prozent der Alleinstehenden Frauen sind, unter anderen mit den verbreiteten traditionellen Ansichten. Dies sei aber auch eine Folge des langjährigen US-Interventionskrieges, der im April 1975 mit dem Sieg der Kommunisten endete. Ehe und Familie stehen traditionsgemäß hoch im Kurs, schreibt Thi, und betont: Frauen müssen das Recht auf Heiraten wie auch auf Nichtheiraten haben; das Recht, Kinder zu bekommen und zu erziehen, auch außerhalb der Institution Ehe; und das Recht, mit ihren Kindern auch als Alleinerziehende zu leben. Sie fordert den Staat auf, eine Politik zugunsten alleinstehender Frauen zu entwickeln, etwa durch niedrige Steuern und günstige Preise für Wasser und Elektrizität.

Nach einer Untersuchung des Komitees für soziale Angelegenheiten in acht Provinzen werden 30 Prozent der Ehefrauen in Vietnam zum Sex gezwungen. Die verbreitete häusliche Gewalt wird mit patriarchaler Tradition, dem Überdauern feudaler Strukturen etwa in ländlichen Regionen und der Kriegsgeschichte des Landes erklärt.

Eine relativ neue Erscheinung ist der Frauen- und Kinderhandel an der kambodschanischen und chinesischen Grenze. Frauen werden als Sexarbeiterinnen nach Thailand, Europa und Afrika verkauft. Zwischen 2005 und 2007 konnten 2200 Verschleppte aufgefunden und zurückgeholt werden. Die Prostitution nimmt zu und damit auch die Zahl der mit HIV infizierten Frauen. Es sind derzeit rund 138000.

Die Regierung propagiert auch deshalb Maßnahmen zur Familienplanung. Hauptgrund für die Kampagne ist jedoch das anhaltende Bevölkerungswachstum. An die Bürger wird appelliert, nicht mehr als zwei Kinder zu bekommen. Ziel ist es, den Zuwachs von 1,21 auf 1,14 Prozent pro Jahr zu reduzieren. Im Zuge der Kampagne soll bis 2010 für 70 Prozent der Bürger der Zugang zu modernen Verhütungsmitteln gesichert werden. Viele Männer weigern sich jedoch, Kondome zu benutzen – aus Angst um ihre Potenz und weil in ihren Augen Familienplanung Sache der Frauen ist. Vietnam hat mit jährlich 500000 Schwangerschaftsabbrüchen eine der höchsten Abtreibungsquoten in der Region.

Kämpferinnen gewürdigt

Ein besonderes Anliegen der Frauenunion ist es, die Erinnerung an Freiheitskämpferinnen wachzuhalten. Das Frauenmuseum etwa zeigt in der ständigen Ausstellung »Bleibende Erinnerungen« den großen Anteil, den die Frauen am Kampf gegen die Invasoren hatten. Mit Dokumenten, Briefen, Gedichten und zahlreichen Gegenständen werden die Geschichten von 73 Freiheitskämpferinnen erzählt. Die dargestellten Schicksale zeugen von den Schrecken des Kolonialkrieges, von Folter und Leid, aber auch von Menschenwürde, Mut, Ausdauer und Freiheitsliebe.

* Aus: junge Welt, 24. Juli 2009


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