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20 Jahre "Politik der Erneuerung" ("Doi Moi")

Vietnam hat die höchsten Wachstumsraten Südostasiens - Klagen über Korruption, Verschwendung und Bereicherungssucht

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel aus der Tagespresse, die sich mit dem am 18. April 2006 beginnenden Parteitag der KP Vietnams befassen. Auf solchen Parteitagen wird eine Leistungsbilanz des Staates und seiner Volkswirtschaft gezogen und werden politische und wirtschaftliche Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen.



Vietnam im Aufschwung

KP-Parteitag in Hanoi zwischen Theorie und Wachstum

Von Annick Schneider*

Es war – trotz seiner mehrstündigen Dauer – ein aufsehenerregender Rechenschaftsbericht, den Nong Duc Manh vorlegte. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) präsentierte dem seit Dienstag in Hanoi tagenden zehnten Kongreß seiner Partei ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum seit 2001 um jährlich 7,5 Prozent. Damit weist Vietnams Ökonomie im gesamten südostasiatischen Raum derzeit die stärksten Zuwachsraten auf – 2005 lagen sie sogar über acht Prozent. Diese Entwicklung, so der KP-Chef, sei, trotz mancher Schwierigkeit, mit einer deutlichen Steigerung des Lebensstandards bei gleichzeitiger Verringerung der Armut einhergegangen.

Zum Kongreßauftakt hatte Staatspräsident Tran Duc Luong in der Ba- Dinh-Halle erklärt, daß die Sozialistische Republik Vietnam weiterhin an ihrer Politik der Erneuerung festhalten werde. Diese als »Doi Moi« bezeichnete Politik war bereits auf dem 6. Parteitag 1986 beschlossen worden – damals vor allem als Reaktion auf die wirtschaftliche Notlage des Landes. Vietnam befand sich zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich in einer tiefen Krise, vornehmlich bedingt durch die - auch heute noch deutlich spürbaren - verheerenden Auswirkungen der US-Aggression. Vordringlichstes Ziel war seinerzeit zunächst die Sicherung der existentiellen Lebensbedürfnisse der Bevölkerung sowie ein Ausbau der Infrastruktur.

In den neunziger Jahren stand Vietnam mit dem Untergang der Sowjetunion als dem stärksten Wirtschaftspartner zudem international vor der Herausforderung, seine Eigenständigkeit zu wahren. Inzwischen konzentriert sich das Land außenpolitisch auf eine breite internationale Zusammenarbeit – wirtschaftlich wie politisch. So stehen die Verhandlungen zu einem Beitritt der Welthandelsorganisation (WTO) vor ihrem Abschluß. Zudem engagiert sich Vietnam zunehmend in regional an Bedeutung gewinnenden Organisationen wie ASEAN.

Für den bevorstehenden Fünf-Jahres-Abschnitt steht eine strukturelle Festigung der vietnamesischen Wirtschaftskraft im Zentrum der KP-Aktivitäten – ein Thema, das an den zurückliegenden drei Kongreßtagen die Debatte prägte. Bis 2010 sollen konstant hohe Wachstumsraten von 7,5 bis acht Prozent realisiert und die Armut weiter gesenkt werden. Von dieser sind derzeit vor allem immer noch etwa 15 Prozent der ländlichen Bevölkerung des 83 Millionen Einwohner zählenden Staates betroffen. Die städtische Arbeitslosenrate liegt bei etwa sechs Prozent.

Indes konnten die sichtbaren wirtschaftlichen Erfolge programmatisch-personelle Probleme der KP nicht überdecken. So konstatierte Nong Duc Manh ein niedriges theoretisches Niveau vieler Parteikader, eine zunehmende Bürokratisierung und Korruption. Diese Erscheinungen, so der Genralsekretär, müßten auf allen Ebenen bekämpft werden. Derzeit zähle die Partei etwa 3,1 Millionen Mitglieder – allein in den vergangenen fünf Jahren seien über 750 000 hinzugekommen, darunter ein großer Teil bisheriger Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes Ho Chi Minh.

Der achttägige Parteikongreß endet am kommenden Dienstag. Zu Wochenbeginn wählen die 1.176 Delegierten ein neues Parteikomitee sowie das fünfzehnköpfige Politbüros.

* Aus: junge Welt, 21. April 2006


KP Vietnams feiert 20 Jahre "Doi Moi"

Rasches Wachstum und viele Spekulationen ums Führungspersonal

Von Detlef D. Pries**

Vietnam verfügt derzeit über die am schnellsten wachsende Wirtschaft Südostasiens. Für die vietnamesischen Kommunisten ist das ein unbestreitbarer Erfolg ihrer »Doi Moi«, der vor 20 Jahren eingeleiteten Politik der Erneuerung.

Bevor der 10. Kongress der Kommunisten Vietnams am Dienstag in der Hanoier Ba-Dinh-Halle begann, erwiesen die knapp 1.200 Delegierten von 3,1 Millionen KPV-Mitgliedern traditionsgemäß ihrem Lehrmeister Ho Chi Minh in seinem Mausoleum die Ehre. Marxismus-Leninismus und Ho Chi Minhs Gedanken gelten unverändert als ideologische Grundlagen der KPV-Politik, wobei die Lehren von »Onkel Ho« häufig zur Begründung von Pragmatismus und Flexibilität herangezogen werden. So war es auch vor 20 Jahren, als unter dem damaligen KPV-Generalsekretär Nguyen Van Linh die bisweilen als »vietnamesische Perestroika« bezeichnete »Doi Moi« (Erneuerung) eingeleitet wurde.

Vietnam nahm Kurs auf eine »sozialistisch orientierte Marktwirtschaft« – und fährt inzwischen erste Erfolge ein. Der gegenwärtige Generalsekretär Nong Duc Manh bilanzierte im Bericht des Zentralkomitees an den Parteitag für die vergangenen fünf Jahre ein durchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent, 2005 waren es sogar 8,4 Prozent. Besser als zuvor sei es gelungen, die Wirtschaftsentwicklung mit der Lösung sozialer Probleme zu verbinden, so dass sich die Lebenslage aller Schichten der Bevölkerung verbessert habe.

Ungeachtet dessen sieht die KPV Vietnam nach wie vor im Status der Unterentwicklung, den sie so schnell wie möglich überwinden will. Durch weiteres jährliches Wachstum um 7,5 bis 8 Prozent soll sich das Bruttoinlandsprodukt bis 2010 gegenüber 2000 verdoppeln. Dies wird laut Bericht die Grundlage sein, um Vietnam bis 2020 in einen »modernen Industriestaat« zu verwandeln. Der Anteil der armen Haushalte »nach neuen Kriterien« soll bis 2010 auf 10 bis 11 Prozent gedrückt werden. Arm nach diesem Maßstab sind städtische Haushalte, denen pro Kopf und Monat nicht mehr als 260.000 Dong (knapp 14 Euro) zur Verfügung stehen. Auf dem Lande liegt die Grenze bei 200.000 Dong.

Die Partei weiß sehr wohl, dass sie ihren Führungsanspruch auf Dauer nur rechtfertigen kann, wenn sich das Alltagsleben der 83 Millionen Landesbewohner stetig verbessert. Berichte über Korruption, Verschwendung und Bereicherungssucht auch hoher Funktionäre, wie sie immer wieder bekannt werden, schaden dem Ansehen der KPV dagegen erheblich. Unmittelbar vor dem Parteitag war die Veruntreuung von mehreren Millionen Dollar durch Mitarbeiter einer Projektverwaltungsbehörde (PMU 18) ruchbar geworden, die dem Verkehrsministerium untersteht. Der Minister musste seinen Hut nehmen, sein direkt verantwortlicher Stellvertreter wurde verhaftet. So beklagte auch Generalsekretär Nong Duc Manh Opportunismus, Individualismus, Bürokratie und Korruption eines Teils der Funktionäre. In einer demokratischen Gesellschaft hätten Parteimitglieder und Beamte Diener des Volkes zu sein. Und der Vorsitzende der Vaterländischen Front, Pham The Duyet, sprach sich gegenüber der Zeitung »Tien Phong« (Avantgarde) dafür aus, dass sich jeder Amtsinhaber jährlich einer Vertrauensabstimmung stellt.

Längst betrachtet sich die KPV nicht mehr als Vertreterin alllein der Arbeiterklasse, sondern als Vorhut der ganzen Nation. So wird das Statut Parteimitgliedern künftig auch offiziell gestatten, private Unternehmen – gleich welcher Größe – zu gründen und dadurch einen Teil der 8 Milllionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen, die der Fünfjahrplan bis 2010 vorsieht. In einer Mehrsektorenwirtschaft soll der staatliche Sektor jedoch die führende Rolle behaupten.

Viel wurde vor dem Parteitag über Personalfragen spekuliert: Bleibt Nong Duc Manh – der erste Vertreter einer nationalen Minderheit an der Parteispitze – Generalsekretär? Wird sein Amt nach chinesischem Vorbild mit dem des Staatspräsidenten vereinigt? Werden Präsident Tran Duc Luong und Ministerpräsident Phan Van Khai nach den Parlamentswahlen 2007 ersetzt? Von heftigen Machtkämpfen zwischen »Reformern« und »Traditionalisten« war die Rede, obwohl die KPV in 20 Jahren »Doi Moi« bereits mehrere Führungswechsel ohne größere Erschütterungen und Richtungsänderungen überstanden hat. Inzwischen sind die Entscheidungen gefallen: Das 15. ZK-Plenum billigte drei Tage vor Kongressbeginn die Personalpläne. Die Öffentlichkeit wird sich jedoch noch bis zum Abschluss des Parteitags am 25. April gedulden müssen.

** Aus: Neues Deutschland, 20. April 2006


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