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Holländische Krankheit

Venezuelas Regierung verlässt sich seit Jahren auf die Einnahmen aus der Erdölförderung zur Finanzierung ihrer Sozialprogramme. Mit dem fallenden Preis für den Rohstoff geraten Ökonomie und Gesellschaft des Landes ins Straucheln

Von Jörg Roesler *

Es gibt in Venezuela vieles, das sich in den anderthalb Jahrzehnten, seitdem Hugo Chávez 1999 die »Bolivarische Revolution« verkündete, zum Positiven entwickelt hat. So begegnet man auf den Straßen Caracas, der Metropole des Landes – anders als etwa in Kolumbiens Bogota oder in weiteren Hauptstädten südamerikanischer Staaten –, kaum bettelnden oder obdachlosen Menschen. Die Innenstadtviertel von Caracas wurden saniert, ohne dass ihre proletarischen Bewohner hinausgedrängt wurden. Der öffentliche Nahverkehr wurde ausgebaut. Die an den Hängen gelegenen Armenviertel, die Barrios, sind heute als gleichberechtigte Teile der Stadt anerkannt. Sie sind inzwischen mit Seilbahnen ans Verkehrsnetz angeschlossen worden. Die Benutzung der städtischen Bus- und Bahnlinien ist praktisch kostenlos. Gleiches gilt auch für die übrigen Städte, in denen – anders als in den übrigen, stärker ländlich geprägten lateinamerikanischen Ländern – 90 Prozent der Bevölkerung leben, drei Viertel davon in Barrios. Chávez hatte zu Beginn seiner Präsidentschaft 1999 versprochen, sich um die Armen zu kümmern. Er hat Wort gehalten.

Vor seinem Antritt 1999 kontrollierten die politische und die ökonomische Elite Venezuelas, ob sich ihre Präsidenten nun als Christ- oder Sozialdemokraten bezeichneten, uneingeschränkt das große staatliche Erdölunternehmen Petróleos de Venezuela (PDVSA) sowie die staatlichen Verwaltungen und wirtschafteten vor allem in die eigene Tasche. Dagegen gab es 1992 eine Rebellion von Militärs, an der auch Chávez als Oberstleutnant teilnahm. Der Coup schlug fehl, Chávez wurde verhaftet. Zwei Jahre später begnadigt, gewann er dann im Dezember 1998 die Präsidentschaftswahlen. Zwischen 1999 und 2013, seinem Todesjahr, wurden er und seine Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei lokalen, Parlaments- und Präsidentenwahlen ununterbrochen wiedergewählt. Die PSUV war keine Massenpartei, eher ein Wahlapparat. Die Verbindung zur Bevölkerung wurde durch Chávez selbst hergestellt. Der charismatische Präsident hatte eine gewaltige Mobilisierungskraft. Diese beruhte grundsätzlich auf seiner Vision von einer sozial gerechten Gesellschaft und den unter seiner Herrschaft realisierten sozialpolitischen Errungenschaften. In einem Land, in dem vor 1999 drei Viertel der Bevölkerung unter extrem prekären Bedingungen gelebt hatten, garantierte am Ende seiner Regierungszeit der Staat die materielle Grundversorgung für jedermann. Nahrungsmittel wurden in den staatlichen Supermärkten »Mercal« oder direkt von Lkw herab zu festen Preisen stark verbilligt verkauft. Es entstanden 600.000 Sozialwohnungen. Die medizinische Erstbehandlung funktionierte – nicht zuletzt wegen des von der venezolanischen Regierung organisierten Einsatzes kubanischer Ärzte in den Barrios. Insgesamt wendete 2012 die Regierung 42,2 Prozent der Haushaltsmittel für sozialpolitische Maßnahmen auf.

Viel getan wurde auch für die Bildung der Armen. Die Zahl der Lehrkräfte stieg von 65.000 auf 350.000. Nach Berechnungen der UN-Kommission für Lateinamerika drängte Venezuela (neben Ecuador) zwischen 1996 und 2012 in Südamerika Armut am stärksten zurück. Am Ende von Chávez’ Regierungszeit wies die Bolivarische Republik den besten Gini-Koeffizienten, d. h. die geringste soziale Ungleichheit, unter den Staaten des Kontinents auf.

War das schon der vom Präsidenten propagierte »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«? Bereits von seiner schweren Krebserkrankung gezeichnet, hatte er sich gegenüber seinem Biographen Ignacio Ramonet mit den Ergebnissen seiner Präsidentschaft, über den in Venezuela erreichten Stand des Aufbaus des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« sehr zufrieden gezeigt. Der in Mexiko City lehrende Soziologieprofessor Heinz Dieterich, der 1996 seine eigenen Sozialismusvorstellungen in einem Buch mit jenem Titel veröffentlichte und zeitweise einer von Chávez’ Beratern war, zeigte sich dagegen mit der Politik des Präsidenten unzufrieden: »Es ist deutlich geworden, dass er nicht bereit ist, den wirklichen Schritt hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu tun.« Er mache »nicht mehr als sozialdemokratische Politik.« Finanzierung der Sozialprogramme

Soviel in Venezuela unter Chávez auch auf sozialem Gebiet verändert wurde, so bescheiden waren die Umstrukturierungsbemühungen des Präsidenten im Bereich der Ökonomie. Die Wirtschaft war seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem dadurch gekennzeichnet, das sich der Ölreichtum, die Basis der Ökonomie des Landes, fast vollständig in der Hand von politischen Eliten und transnationalen Konzernen befand. Der Erdölkonzern PDVSA war zwar kein Privatunternehmen. Die erzielten Gewinne gelangten aber ganz überwiegend am Staat vorbei in die Hände der Bourgeoisie. Bis 1999 bekam das Volk davon bestenfalls Almosen.

Für die Chávisten war das Ziel der »Bolivarischen Revolution« im Bereich der Ökonomie die unmittelbare Übernahme der wirtschaftlichen Kommandohöhen durch den Staat. Nur bei weitgehender Aneignung der Gewinne von PDVSA konnte die großzügige Finanzierung der »Misiones« und anderer Sozialprogramme der Regierung verwirklicht werden, konnte der Benzinpreis auf einen symbolische Betrag gesenkt, konnten für 21.000 Erzeugnisse staatlich garantierte Niedrigpreise eingeführt werden. Allein 2011 flossen für diese Wohltaten 40 Milliarden US-Dollar. Zur Absicherung der Sozialprogramme wurden auch Privatunternehmen, wenn sie sich den Kabinettsbeschlüsse verweigerten, verstaatlicht, z. B. Betriebe der Baustoffindustrie zur Realisierung des Wohnungsbauprogramms. In der Landwirtschaft sollte zwecks Steigerung der Agrarproduktion eine Landreform zur Bildung von Genossenschaften führen. Jedoch führen heute nicht mehr als zwei von 100 Unternehmen im Land diese Rechtsform.

Die Konzentration der Umstrukturierungen in der Ökonomie vorwiegend auf den Erdölsektor schien der richtige Weg zur Finanzierung der »Bolivarischen Revolution« zu sein. Die Abhängigkeit der gesamten venezolanischen Wirtschaft vom Erdöl blieb unter Chávez’ Reformpolitik somit nicht nur erhalten, sondern nahm noch zu. Dank seit Mitte der 80er Jahre konstant hoher Erdölpreise auf dem Weltmarkt stieg der Anteil der aus diesem Geschäft verfügbaren Devisen von 1999 bis 2013 von 70 auf 95 Prozent. Kein Wunder also, dass die Regierenden meinten, sich um die anderen Bereiche der Volkswirtschaft wenig kümmern zu müssen. Der Anteil von Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft an der Erzeugung ging relativ zurück; der der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank zwischen 1987 und 2011 von 22,2 auf 14,4 Prozent. Der wachsende Bedarf an Verbrauchsgütern für die Bevölkerung, Agrarerzeugnisse eingeschlossen, wurden zunehmend durch Importe gedeckt.

Zwar bedeutete der Rückgang des Anteils außerhalb der Erdölwirtschaft nicht die Schrumpfung der übrigen Bereiche, denn die Ökonomie wuchs kräftig. Doch davon profitierten vor allem die Unternehmen im Handel und der Bausektor, die weiterhin überwiegend in privater Hand lagen. Dadurch konnte die Bourgeoisie ihre Positionen in der Wirtschaft ungeachtet des Fortgangs der »Bolivarischen Revolution« absichern. Der Anteil der Einkommen aus Kapitalbesitz, der 1997 bei 42 Prozent vom Nationaleinkommen lag, konnte die Bourgeoisie halten.

. Mängel der Basisdemokratie

Wieweit fand dies die Aufmerksamkeit der Regierenden, die sich dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« verschrieben hatten und die eigentlich – vor allem hinsichtlich der langfristigen Entwicklungstendenzen – hätten beunruhigt sein müssen? Es gab lange Zeit kein Eingeständnis dieser ökonomischen Defizite. Erst ein halbes Jahr nach Chávez’ Tod, im Herbst 2013, riskierte Finanzminister Nelson Merentes ein offenes Wort, als er zur besten Sendezeit in einem der regierungsnahen Fernsehsender erklärte: »Diese Regierung hat Erfolg im sozialen Bereich gehabt, aber was uns fehlt, ist der Erfolg im Ökonomischen.«

Die weitgehende Beschränkung der Wirtschaftspolitik auf die Sicherung der Voraussetzungen für eine Umverteilungspolitik zugunsten der Armen – um nicht zu sagen: für Geschenke an die ärmeren Schichten im Fall der zu Niedrigpreisen in den Barrios vertriebenen Verbrauchsgüter bzw. an jeden venezolanischen Bürger wie mit dem symbolischen Benzinpreis von umgerechnet zwei Eurocent pro Liter – verlockte zum Missbrauch und blieb nicht ohne Folgen für die »Bolivarische Revolution« selbst. Die für sie typische basisdemokratische Bewegung – die vielfältigen Formen regionaler Räte und Initiativen, darunter die Nachbarschaftsräte, die die lokale Selbstregierung sicherstellen sollten, und in den ersten Jahren nach Chávez’ Machtantritt in die Armenviertel tatsächlich frischen Wind brachten – sind kein Vortrupp der Revolution mehr. Sie »sind heute«, schreibt einer der besten Kenner des Landes, der in Bogotá lehrende Universitätsprofessor Raul Zelik, »in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten«. Auch die Staatsbeamten, vielfach aus den örtlichen Räten zu einem Regierungsamt gekommen, denken laut Zelik nicht anders. »Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamte und Privatunternehmer immer wieder von neuem einen unauflösbaren politökonomischen Filz aus. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden.«

Maduro zögert

2012 war das letzte Jahr, in der Wirtschaft und Gesellschaft, das Erdölmodell und die chávistische Regierung noch wie gewohnt funktionierten oder doch zu funktionieren schienen. Chávez’ Nachfolger, der frühere Vizepräsident Nicolás Maduro, verfügt nicht über das Charisma seines Vorgängers, der allein durch seine visionären Reden die Massen begeistern konnte. Das einzige verbleibende Verbindungsglied zwischen Führung und Mehrheit des Volkes sind jetzt die sozialpolitischen Errungenschaften. Aber gerade beim zum Wohle der Bevölkerung entwickelten Subventions- und Preisregulierungssystem traten nach Chávez’ Tod Funktionsstörungen, die bereits in den Jahren zuvor entstanden waren, immer deutlicher zu Tage. Dafür nur zwei Beispiele: Die extreme Subventionierung des Benzinpreises, seit vielen Jahren unverändert stabil, verschlingt inzwischen nach Regierungsangaben jährlich 12,5 Milliarden US-Dollar, laut Internationaler Energieagentur sogar 28 Milliarden. Von vielen Venezolanern, ob nun Anhänger oder Gegner der Revolution, wird das billige Benzin über die Grenze nach Kolumbien gebracht, um dort die Preisdifferenz einzustreichen. Die Treibstoffsubventionen wären sicher nützlicher angelegt gewesen, hätte man sie für die Verbesserung der nicht sonderlich guten Infrastruktur verwendet, wo sie indirekt der Gütererzeugung zugute gekommen wären.

Ein zweites Beispiel: Um die beginnende Inflation in den Griff zu kriegen, führte Chávez 2003 feste Wechselkurse für den Umtausch in Dollar und andere ausländische Währungen ein. Auf einen Antrag hin, in dem sie ihr Geschäftsgebaren offenzulegen haben, erhalten einheimische Unternehmen die Dollar zu einem bewusst niedrig angesetzten, seit Jahren stabilgehaltenen Wechselkurs von 6,3 Bolívares pro Dollar. Auf dem Schwarzmarkt aber ist heute ein deutlich höherer Kurs die Regel, bis zu 55 Bolívares pro Dollar. Das veranlasste viele private Unternehmen, die billig erhaltene US-Währung auf dem Schwarzmarkt umzuschlagen. Schätzungen zufolge werden so 15 bis 20 Prozent der Deviseneinnahmen zweckentfremdet verwendet. Dieses ökonomische Lenkungsinstrument, zur Steuerung und Förderung der einheimischen Wirtschaft gedacht, kurbelte nunmehr vor allem Spekulation und Korruption an. Der Regierung entgleitet auf diese Weise mehr und mehr die Kontrolle über das Wirtschaftsgeschehen, vor allem aber über die tatsächliche Preisentwicklung. Die Folge ist eine inzwischen sehr hohe Inflationsquote von 68,5 Prozent Ende 2014.

Wie überall in Lateinamerika schädigt die Inflation vor allem die von ihren laufenden Einnahmen lebenden kleinen Leute und verringert deren Kaufkraft. Auf dem dritten Parteitag der PSUV im Frühjahr 2014 forderten deshalb Ökonomen aus den Reihen der Chávistas eine drastische Abwertung des Bolívar, um einen realistischen Wechselkurs zu erreichen. Sie verlangten das Ende des subventionierten Währungsumtauschs und die Abkehr von den Benzinsubventionen. Präsident Maduro wagte es jedoch nicht, auf die Forderungen seiner Ökonomen einzugehen. Er entließ im Sommer 2014 sogar den Wirtschaftsminister, als dieser die Politik der Regierung kritisierte. Offensichtlich hat der Präsident – etwa für den Fall einer Abschaffung des gestützten Spritpreises – Angst vor Protesten der Bevölkerung und vor dem Widerstand der Funktionäre im Staatsapparat, ob diese nun zu den alten Eliten zählen oder aus chávistischen Basisgruppen kommend in ihm aufgestiegen sind.

Nicolás Maduro ist ein gebranntes Kind. Nicht einmal ein Jahr nach der Übernahme des Präsidentenamtes hatte er im Februar 2014 Demonstrationen gegen die Regierung erlebt, ausgelöst durch Korruption, Teuerung und Versorgungsengpässe bei staatlich subventionierten Lebensmitteln. Die Kundgebungen flauten allerdings mangels Führung durch die zerstrittene Opposition rasch ab. Maduro weiß aber, dass der Benzinpreis den Venezolanern als heilige Kuh gilt. Er hatte den »Caracazo« erlebt, als 1989 das Volk auf die Straße ging. Der mehrtägige Aufstand war damals durch sinkende Kaufkraft und eine Verschlechterung der sozialen Situation der Bevölkerung ausgelöst worden.

Statt die von seinen Ökonomen geforderten konkreten Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, entschloss sich der Präsident im Sommer 2014 zu eine aktivistischen »Reformoffensive«, kündigte wortreich eine »produktive Revolution«, einen »Wirtschaftskrieg gegen die steigenden Preise« an. Er erneuerte Chávez’ Versprechen, die Ölabhängigkeit der Wirtschaft zu überwinden sowie Bürokratie und Korruption stärker zu bekämpfen. In den der PSUV nahestehenden Medien führte er eine Kampagne gegen die Schuldigen an den Wirtschaftsproblemen, erging sich in Boykott- und Blockadevorwürfen an die einheimische Opposition und verurteilte die gegen das Land gerichteten »Machenschaften des US-amerikanischen Imperialismus«.

Doch derartiger Aktivismus und die sicher in mancher Hinsicht durchaus gerechtfertigte Propaganda gegen die Feinde der »Bolivarischen Revolution« wird nur begrenzte Wirkung zeigen, wenn das Kabinett nicht zwei Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft löst. Die sind zwar älter als die chávistische Herrschaft, ihre Lösung aber wurde unter Chávez nicht angepackt. Sie verschärften sich in seiner 13jährigen Regierungszeit weiter: die »holländische Krankheit« der Wirtschaft und der Klientelismus innerhalb der Gesellschaft. Verbreiteter Klientelismus

Die »holländische Krankheit« wurde von den Wirtschaftswissenschaftlern zuerst in den Niederlanden beobachtet und beschrieben, nachdem dort in den 1960er Jahren umfangreiche Erdgasvorkommen entdeckt worden waren. Das plötzliche Vorhandensein von reichlich Bodenschätzen hatte zur Folge, dass der Rohstoffsektor, weil er einen wichtigen Beitrag zur Erwirtschaftung von Devisen leistete, besonders stark gefördert wurde und entsprechend rasch expandierte, während die Weiterentwicklung der verarbeitenden Industrie vernachlässigt wurde. Das führte zu einer Verminderung der Lieferfähigkeit der Niederlande bei industriellen Gütern für den Inlandsverbrauch und für den Export.

Ähnliches widerfuhr Venezuela. Durch das anschwellende Exportgeschäft flossen vermehrt Devisen ins Land, deren Umtausch zu einer realen Aufwertung der nationalen Währung führte, was wiederum Importe begünstigte. Damit entfielen Anreize für die Expansion der inländischen Industrie bzw. die Steigerung der Agrarproduktion. Ein zunehmendes Defizit in der Zahlungsbilanz ist die Folge. Ein immer größerer Teil der Einnahmen aus dem Erdölsektor muss aufgebracht werden, um sie auszugleichen bzw. die Auslandsschulden Venezuelas – sie belaufen sich inzwischen auf 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – in Grenzen zu halten. So war der Erdölsegen schließlich zum Ressourcenfluch geworden, der am Ende der Regierungszeit von Chávez nicht mehr »nur« ein wirtschaftliches, sondern ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges war.

Das zweite Übel, dem die Regierung nicht genug Aufmerksamkeit widmete und widmet, ist der in Südamerika – aber auch anderswo – weit verbreitete Klientelismus. Darunter verstehen die Soziologen ein System ungleicher personeller Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Bürgern, Staatsbediensteten, Unternehmern und anderen über gesellschaftlichen Einfluss verfügenden Personen. Es funktioniert auf der Grundlage sowohl legaler als auch nicht legaler »Dienste«, von Leistung und Gegenleistung nach dem Grundsatz »Eine Hand wäscht die andere«. Neben der öffentlichen, hierarchisch gegliederten Verwaltung des Staates und neben den auf marktwirtschaftlicher Konkurrenz beruhenden Austauschbeziehungen sind auf diese Weise Netzwerke entstanden, die die offiziellen Organisationsstrukturen unterlaufen, deren Wirksamkeit stark beeinträchtigen. Auch in Venezuela haben sich die vom Chávismus geschaffenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen gegenüber dem Klientelismus im Lande anfällig erwiesen und u. a. bewirkt, dass diese Abhängigkeitsverhältnisse vielfach das Leistungsprinzip untergraben haben.

Vor Maduro stehen also gewaltige Aufgaben, will er die »Bolivarische Revolution« im Sinne ihres Begründers fortsetzen. Ob das gelingen wird, ist offen. Der im Juni 2014 einsetzende Absturz der Erdölpreise von 120 auf 50 Dollar je Barrel hat Venezuelas wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. Nach Einschätzung von Fachleuten benötigt das Land einen Erdölpreis von 97 Dollar pro Barrel, um seinen Verbindlichkeiten weiterhin nachzukommen. Nicht auszuschließen ist, das sich die düstere Prophezeiung des intellektuellen »Erfinders« des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, Heinz Dieterich, aus dem Jahre 2011 erfüllen wird, die da lautet: »Jetzt ist es zu spät. Das System wird nicht explodieren, sondern implodieren, weil es von der Mehrheit nicht mehr unterstützt wird.«

Jörg Roesler ist Autor des Buches »Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert«. Leipziger Universitätsverlag 2009, 242 Seiten, 19 Euro. Andere Titel des Autors sind im jW-Shop erhältlich.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 25. März 2015


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