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Partizipation von oben nach unten

Edgardo Lander über die Logik des Erdölstaates in Venezuela und ihre Folgen *


Edgardo Lander hat in Harvard Soziologie studiert und arbeitet als Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Lateinamerika. Mit Lander sprach für »nd« Tobias Lambert.


Die andauernden Straßenproteste in Venezuela sind abgeklungen, aber der politische Dialog in Venezuela zwischen der Regierung und dem moderaten Teil der Opposition liegt vorerst auf Eis. Haben diese Gespräche überhaupt noch Aussichten auf Erfolg?

Das Problem ist, dass beide Verhandlungspartner unter enormem Druck aus den eigenen Reihen stehen. Die radikalen Sektoren der Opposition versuchen, den Dialog zu sabotieren. Die Regierung hingegen hat keinen finanziellen Spielraum mehr, um politische Initiativen zu ergreifen. Präsident Nicolás Maduro, der gerade auch als Parteivorsitzender zum Nachfolger von Hugo Chávez gewählt wurde, mangelt es im Gegensatz zu jenem an Charisma, um den Chavismus insgesamt von diesem Dialog zu überzeugen. Viele sagen, warum verhandeln sie mit der Opposition und nicht mit der Bevölkerung? Am Tisch saßen also zwei Verhandlungspartner, denen auf die eine oder andere Weise die Arme gebunden sind.

Der Erdölpreis ist momentan recht stabil, wieso ist der finanzielle Spielraum der Regierung so eng geworden?

Der venezolanische Staat ist überdehnt, was seine finanziellen Verpflichtungen angeht. Die sozialpolitischen Maßnahmen und die Verstaatlichungen werden stetig ausgeweitet und führen zu neuen Forderungen. Gleichzeitig braucht der Staat immense Summen, um in den Erdölsektor zu investieren. Neuverschuldung ist nur zu sehr hohen Zinsen möglich. Das heißt nicht, dass Venezuela kein Erdöl mehr fördern kann oder die Wirtschaft zusammenbricht. Aber die wichtigste und schwierigste Herausforderung für Venezuela besteht darin, den Fallstricken des Erdölmodells zu entkommen, das seit hundert Jahren in Venezuela vorherrscht.

Aber durch die Umverteilung der Erdöleinnahmen hat sich die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung seit 1998 doch deutlich verbessert ...

Ja, die Erdöleinnahmen konnten von einer Minderheit zur breiten Masse umgelenkt werden, die Sozialpolitiken ausgebaut, und die Ungleichheit verringert werden. Doch alle Versuche, in den vergangenen Jahren Logiken jenseits des Erdölmodells zu stärken, sind gescheitert.

Was meinen Sie konkret?

Zum Beispiel haben die Verstaatlichungen den Staat nicht gestärkt, sondern geschwächt. Denn ein großer Teil dieser verstaatlichten Unternehmen überlebt nur aufgrund von Subventionen. Hier gibt es also eine Tendenz, Sozialismus mit Etatismus gleichzusetzen. In Venezuela gleitet das manchmal ins Karikaturenhafte ab, etwa wenn vor einem frisch verstaatlichten Unternehmen am folgenden Tag ein großes Banner mit dem Slogan »Sozialistisches Unternehmen« prangt. Und wenn zwei Monate später nichts mehr produziert wird, bleibt das Banner einfach hängen.

Aber der bolivarianische Prozess in Venezuela lässt sich doch nicht auf Verstaatlichungen reduzieren. Wie steht es um den Ausbau politischer und ökonomischer Partizipation?

Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, postkapitalistische Strukturen zu schaffen, sei es durch Kooperativen oder kommunale Räte, wo es um eine soziale Ökonomie, eine Kontrolle von unten geht. Das Problem ist, dass jedes große Ziel, das sich der bolivarianische Transformationsprozess gesetzt hat, durch die Logik des Erdölstaates konterkariert wird. Solange die lokale, basisdemokratische Ebene von den Erdöleinnahmen abhängt, wird Politik von oben nach unten gemacht. Die überbewertete Währung verteuert die heimische Produktion und es ist häufig billiger, Waren zu importieren. Vor ein paar Jahren wurden 280 000 Kooperativen gegründet, von denen heute keine Rede mehr ist. Obwohl der Staat immense Summen in die soziale Ökonomie steckt, kann diese sich nicht entfalten.

Was müsste die Regierung tun, um der Erdöllogik zu entkommen?

Das Problem ist, dass die Regierung bereits vor Jahren hätte handeln müssen. Und zwar aus einer Position der Stärke heraus. Nun müsste sie unangenehme Entscheidungen in einem Moment treffen, in dem die politische Konfrontation sehr hoch und die wirtschaftliche Lage sehr prekär ist. Das Benzin kostet in Kolumbien zum Beispiel 78 Mal so viel wie in Venezuela. Wenn eine Person fünf Mal pro Woche 100 Meter nach Kolumbien reinfährt und ihre Tankfüllung dort weiterverkauft, verdient sie mehr als die große Mehrheit der Venezolaner. Diese Verzerrungen haben ihre Ursachen in den staatlichen Subventionen für Benzin und dem staatlich festgesetzten Wechselkurs. Eine Beendigung der Subventionen und eine drastische Währungsabwertung hätten aber einen dramatischen Anpassungsprozess zur Folge. Daher sind solche Maßnahmen nur in Momenten möglich, in denen die politische Unterstützung und Geld für Kompensationszahlungen da sind.

In anderen Ländern der Region laufen Debatten über das Entwicklungsmodell und Extraktivismus. In Venezuela scheint diese Debatte kaum eine Rolle zu spielen ...

Es gibt ein Beispiel, das gut verdeutlicht, dass diese politische Debatte hier tatsächlich nicht stattfindet: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 sind Hugo Chávez und Henrique Capriles mit zwei völlig unterschiedlichen Programmen gegeneinander angetreten. Es gab nur eine einzige Übereinstimmung. In beiden Programmen war das Ziel enthalten, die Erdölproduktion von drei auf sechs Millionen Barrel Erdöl pro Tag zu verdoppeln. Wir haben in Venezuela einen großen nationalen Erdölkonsens. Mit dieser Logik zu brechen ist notwendig, aber äußerst schwierig. Es würde bedeuten, dass wir unseren Lebensstil ändern müssten, der extrem und völlig übertrieben auf Konsum ausgerichtet ist.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. Juli 2014


Motor zum Glück

Venezuelas Sozialisten beraten Wirtschaftspolitik. Festgenommener Diplomat wieder frei. General wegen Putschverdacht ­verhaftet

Von André Scheer **


Die diplomatische Krise zwischen Den Haag und Caracas ist schneller zu Ende gegangen, als zu befürchten war – und Venezuelas Präsident Nicolás Maduro war plötzlich voll des Lobes für die Regierung der Niederlande. Diese hatte am Sonntag den drei Tage zuvor auf Aruba, einer 25 Kilometer vor der Nordküste gelegenen Insel im Besitz der Niederlande, den designierten Generalkonsul Venezuelas, Hugo Carvajal, festnehmen lassen (jW berichtete). Am Sonntag räumte die Haager Regierung dann in einem offiziellen Statement ein, daß die Verhaftung eine Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen gewesen sei und ordnete die sofortige Freilassung Carvajals an. Am Sonntag abend (Ortszeit) traf der General in Caracas ein.

Maduro lobte anschließend, die niederländische Regierung habe eine »mutige Entscheidung« getroffen, als sie in einer offiziellen Note einräumte, internationale Verträge gebrochen zu haben. Den Haag habe sich durch die Freilassung gegen die »Mafia von Miami« und gegen den ultrarechten früheren kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe gestellt. Diese stünden hinter den gegen Carvajal erhobenen Anschuldigungen, die FARC-Guerilla in Kolumbien unterstützt zu haben. Offenbar hatten die USA die Auslieferung Carvajals gefordert, der von 2004 bis 2009 an der Spitze des Militärgeheimdienstes DIM stand.

Nach seiner Rückkehr wurde Carvajal im Teresa-Carreño-Theater in Caracas von den Delegierten des dort noch bis Donnerstag stattfindenden Kongresses der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) begeistert empfangen. Die mehr als 500 Abgesandten der offiziell nach Millionen zählenden Mitgliedschaft der Regierungspartei waren zu ihrem ersten Parteitag nach dem Tod von Hugo Chávez zusammengekommen. Dessen Nachfolge an der Spitze der Regierungspartei hat erwartungsgemäß Maduro übernommen. Bereits zum Auftakt des Kongresses wurde er von den Delegierten einstimmig zum neuen Vorsitzenden gewählt.

In seiner Ansprache vor dem Parteitag wies Maduro Vorwürfe aus Teilen der Mitgliedschaft zurück, daß es auf dem Kongreß keinen Platz für Kritik und Diskussionen gebe. »Diese Revolution wurde dank Chávez damit geboren, die Kritik, die Meinungsäußerungen des Volkes, zu befördern. Dies ist die Partei der Kritik und der Wahrheit.« Deshalb sei auch die Linie des Kongresses »eine freie und konstruktive Diskussion, kreatives Handeln und größtmögliche Loyalität zur Bolivarischen Revolution«. Ohne konkreter zu werden, räumte Maduro ein, daß in der Partei »nicht alles perfekt« sei und sie nicht so funktioniere, wie sie müsse. Zugleich zeigte er sich überzeugt, daß die PSUV über genügend Kräfte verfüge, um diese Probleme zu lösen.

Ideologisch forderte Maduro von seiner Partei eine klare Konzeption des Sozialismus als »Weg zum größtmöglichen Glück«, womit er eine Formulierung des Nationalhelden Simón Bolívar aufgriff. Ohne Sozialismus könnten weder die Souveränität noch die Unabhängigkeit des Landes Bestand haben. Dabei distanzierte er sich von einem »dahinsiechenden Linksradikalismus« ebenso wie von einem »kapitulierenden Reformismus«. Die Zukunft des bolivarischen Prozesses hänge davon ab, auf dem Weg des Übergangs zum Sozialismus eine produktive Ökonomie zu schaffen und dadurch die Abhängigkeit von den Erdöleinnahmen zu überwinden. Die entscheidende Rolle dabei spiele die Arbeiterklasse als Motor der Revolution, so der Parteichef.

In diesem Zusammenhang schlug Maduro vor, im Dezember eine »Außerordentliche Nationalkonferenz« der PSUV durchzuführen, um »das sozio-ökonomische Projekt der Bolivarischen Revolution« zu diskutieren. Dazu sollten Fachleute aus dem In- und Ausland eingeladen werden, um als einziges Thema über die Ökonomie im Übergang zum Sozialismus zu sprechen.

Am Wochenende meldete die Tageszeitung Últimas Noticias, daß General José Aquiles Vietri Vietri vom Militärgeheimdienst DIM festgenommen wurde. Im April 2002, als der damalige Präsident Hugo Chávez durch einen Putsch kurzzeitig entmachtet worden war, war Vietri Chef von dessen Ehrengarde, die damals eine wichtige Rolle bei der Rückeroberung des Regierungspalastes Miraflores spielte. Nun jedoch soll der General, der 2006 aus dem aktiven Dienst ausschied, in Putschpläne gegen Maduro verwickelt sein. Dem Bericht des unabhängigen Blattes zufolge, sollen in seinem Haus bei einer Razzia Unterlagen gefunden worden sein, in denen eine Absetzung Maduros und die Bildung einer Regierungsjunta geplant wurden. Ob weitere Militärs an der Verschwörung beteiligt waren, wurde zunächst nicht bekannt. Bereits im März hatte Maduro über die Verhaftung von drei Luftwaffengenerälen informiert, die ebenfalls einen Staatsstreich vorbereitet haben sollen.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Juli 2014


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