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Venezuelas alltäglicher Mangel

Volle Regale haben in den Supermärkten Seltenheitswert und Besserung ist nicht greifbar

Von Jürgen Vogt, Caracas *

Die Proteste gegen die Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela sind abgeflaut. Die Versorgungslage ist jedoch nach wie vor prekär und eine wirtschaftliche Erholung nicht in Sicht.

Zügig bewegt sich der Einkaufswagenkorso vor dem »Gran Abasto Bicentenario« voran. Der große staatliche Supermarkt, nur einen Steinwurf von der Plaza Venezuela entfernt im Zentrum der Hauptstadt Caracas, ist ein beliebter Einkaufsort. Hier gelten die staatlich festgesetzten Preise und das gemischte Personal aus Supermarktbelegschaft und uniformierten Soldatinnen und Soldaten sorgt dafür, dass sie auch an die Kundschaft weitergegeben werden.

»Wenn wir drin sind, stellen wir uns gleich in die nächste Schlange.« Oscar Morales kommt regelmäßig ins »Bicentenario«. Als Rentner könnte er sofort hinein. »Solange ich ordentlich laufen kann, stell‘ ich mich an«, sagte er und schiebt seinen Wagen ein Stück voran. »Obst, Gemüse, Brot, Reis, Linsen und Bohnen kriegst du überall.« Problematisch seien Zucker, Mehl, Speiseöl, Frischmilch, Butter, Kaffee sowie Fleisch zu günstigen Preisen. »Wo immer es das gibt, stehen die Leute Schlange.« Venezuelas Bevölkerung leidet seit Monaten unter Versorgungsproblemen. Nach der offiziellen Statistik fehlen in jedem Supermarkt vier von zehn Produkten.

Eine halbe Stunde später sind wir drin. »Dorthin, da ist die Schlange zu den Produkten des täglichen Bedarfs«, schmunzelt der 66-Jährige. Die Schlange führt zu einem abgetrennten Bereich. Hier geben Angestellte an die Vorbeiziehenden zwei Pfund Margarine, zwei Pfund Kaffee (24 Bolívares pro Pfund, etwa 2,78 Euro), zwei Kilo Zucker und zwei Liter Speiseöl pro Person aus. Mehl gab es letzte Woche, beim Wort Frischmilch erntet Oscar ein Lächeln. Dafür kann er noch zwei gefrorene Hühner und 4 Kilo gefrorenes Rindfleisch mitnehmen.

»Alles was du hier sonst siehst, kriegst du auch anderswo. Aber nimm den Zucker«, sagt Oscar und rechnet vor: Das Kilo kostet im »Bicentenario« 6,50 Bolívares (Bs). Im »Mercal«, einer ebenfalls staatlichen Einkaufskette, sind die Preise zudem subventioniert und das Kilo kostet 3 Bs (0,35 Euro), sei aber nur selten zu kriegen. In den privaten Supermärkten seien mindestens 25 Bs zu bezahlen. »So ist es bei allen knappen Produkten, und hier in der Hauptstadt haben wir es noch gut.« Kein Vergleich zur Versorgungslage im Landesinnern.

José Reverán arbeitet seit drei Jahren in der Verwaltung des »Bicentenario«. Die Schlangen sind für ihn eine organisatorische Normalität. »Der Supermarkt ist für eine Tageskapazität von maximal 4000 Personen ausgelegt«, sagt er. Es kämen aber täglich 10 000 Menschen. Zudem gebe es nur 2000 Einkaufswagen. »Wir können gar nicht alle auf einmal hineinlassen«, gesteht der 31-Jährige.

Für die fehlenden Waren in den Regalen hat José seine eigene Erklärung. »Vor einem Jahr hat die Regierung einen zweiten arbeitsfreien Tag eingeführt. Zuvor war nur der Sonntag frei, jetzt wird Sonnabend und Sonntag nicht gearbeitet. Das verkraftet keine Volkswirtschaft von heute auf morgen, und seither kommt es zu den Engpässen.« Er zeigt auf ein mager aufgefülltes Regal.

Oscar hat ebenfalls einen eigenen Reim auf die Engpässe. »Fast die gesamten Nahrungsmittel hier sind Importe. Die gibt es nur gegen harte Dollar, und davon haben wir anscheinend immer weniger.« Der Rentner hat sich in die Schlange zur Kasse eingereiht. Auf dem Band wird die Einhaltung der Höchstmenge pro Person kontrolliert. Dem strengen Blick der Uniformierten hinter der Kassiererin entgeht kein Kilo zu viel. Zwei Stunden dauert Oscars Einkaufstour. »Normal«, lautet sein Fazit.

Bis vor einem Jahr kam er mit seiner Rente noch zum Monatsende. Seither unterstützt ihn sein Sohn. Wie ihm geht es vielen. Das Einkommen sei nicht geringer, aber dessen Kaufkraft schwinde. »Laut unserer Zentralbank haben wir die weltweit höchste Inflationsrate.« Für das staatliche Statistikamt gebe es dennoch immer weniger Armut. »Dass wir alle am Abrutschen sind, wird dort nicht sichtbar.«

Ein Aufschwung ist nicht in Sicht: Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) prognostiziert für 2014 eine Schrumpfung der Wirtschaft um 0,5 Prozent. In dieses düstere Szenario passt die Ankündigung von Alitalia, Flüge nach Caracas vorerst einzustellen. Internationale Fluglinien fordern von der venezolanischen Regierung fast vier Milliarden Dollar ausstehende Ticketeinnahmen. Zahlreiche andere Fluglinien haben ihre Verbindungen nach Venezuela bereits reduziert, darunter auch die Lufthansa. Und Devisen werden auch für den Nahrungsmittelimport gebraucht. Sonst bleibt der Mangel.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 20. Mai 2014


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