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Gezielte Provokation

Venezuela: Agenten der Geheimpolizei SEBIN verhaftet. Verwicklung von Beamten in Gewalt erinnert an Putschversuch 2002

Von André Scheer *

In Venezuela sind am Montag fünf Beamte des Nationalen Bolivarischen Nachrichtendienstes (SEBIN) unter Mordvorwurf festgenommen worden. Sie sollen in den Tod von Bassil Da Costa und Juan Montoya verwickelt sein, hieß es dazu in einer am Mittwoch (Ortszeit) verbreiteten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft in Caracas. Die beiden jungen Männer waren am 12. Februar am Rande einer Oppositionsdemonstration erschossen worden – offenbar aus derselben Waffe, wie erste Untersuchungen ergaben. Allerdings war Juan »Juancho« Montoya ein Mitglied der linken Basisgruppe »Widerstandsfront Tupamaro« aus dem Stadtviertel 23 de Enero – einer Hochburg der Regierungsanhänger –, während Da Costa oppositionelle Studentenvereinigungen unterstützte. Der Mörder der beiden so unterschiedlichen Männer hatte seine Opfer also offensichtlich nicht wegen ihrer politischen Orientierung ausgesucht – oder bewußt nach Zielen aus beiden Richtungen gesucht.

Kurz nach dem Tod der beiden hatte die Tageszeitung Últimas Noticias Fotos und Videoaufnahmen ins Internet gestellt, die eine Verwicklung des SEBIN in die Vorfälle nahelegten. Auch Staatspräsident Nicolás Maduro hatte eingeräumt, daß die Beamten sich am Tatort aufgehalten hätten. Damit hatten sie gegen seine Anordnung verstoßen, daß die Angehörigen dieser politischen Polizei nicht ausrücken durften. Wenige Tage darauf hatte er SEBIN-Chef Manuel Gregorio Bernal Martínez von seinem Posten abberufen.

Erinnerungen an 2002

Mit der Festnahme der fünf Beamten am Montag sitzen bereits acht Angehörige des SEBIN in Haft, nachdem drei schon wenige Tage nach den Ereignissen festgenommen worden waren. Die mutmaßliche Verwicklung der Behörde in die Unruhen weckt düstere Erinnerungen. Schon für den Putsch am 11. April 2002 gegen Hugo Chávez hatten Polizisten den Vorwand geliefert. Beamte der damaligen, unter dem Befehl des Oppositionellen Alfredo Peña stehenden Hauptstadtpolizei Policía Metropolitana hatten damals sowohl auf Unterstützer als auch auf Gegner der Regierung das Feuer eröffnet. 19 Menschen wurden getötet, verantwortlich dafür gemacht wurde von den privaten Fernsehsendern umgehend Hugo Chávez. Das diente dem Oberkommando als Begründung für den Staatsstreich.

Auch die Wurzeln des SEBIN sind wenig vertrauenserweckend. Er ging 2009 aus der 1969 gegründeten »Nationalen Direktion der Präventions- und Nachrichtendienste« (DISIP) hervor. Diese politische Geheimpolizei hatte hauptsächlich dem Kampf gegen die Guerilla und andere linke Organisationen gedient. Zu ihren Chefs gehörte etwa der heute unbehelligt in Miami lebende CIA-Terrorist Luis Posada Carriles, dessen Auslieferung Venezuela wegen Folterungen an politischen Gefangenen und wegen seiner Verantwortung für den Bombenanschlag auf ein kubanisches Verkehrsflugzeug seit Jahren betreibt. Bei dem Attentat 1976 waren 73 Menschen getötet worden. Der daraufhin in Venezuela inhaftierte Posada Carriles konnte 1985 mit Hilfe der CIA aus dem Gefängnis fliehen.

War das Verhalten der SEBIN-Agenten also eine gezielte Provokation? Der Tod der zwei jungen Männer und eines weiteren mehrere Stunden später war für die rechte Opposition in Venezuela der Anlaß, der Regierung eine brutale Unterdrückung »friedlicher Demonstranten« vorzuwerfen. Doch so friedlich waren die Proteste schon am 12. Februar nicht, denn kurz nach Abschluß der damaligen Kundgebung versuchten militante Regierungsgegner, das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft zu stürmen. Seither reißt die Serie gewaltsamer Proteste vor allem kleinerer Gruppen, die immer wieder brennende Barrikaden errichten, nicht ab. Von diesen in Venezuela »Guarimbas« genannten Provokationen distanzieren sich inzwischen sogar gemäßigte Oppositionspolitiker. So erklärte Leopoldo Puchi, einer der führenden Köpfe der rechtssozialdemokratischen Partei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), am Mittwoch, Straßenschlachten seien keine friedlichen Demonstrationen und müßten sofort beendet werden, »das ist die Verantwortung der politischen Kräfte der Opposition«. Diese hätten sich bislang nicht eindeutig genug von den Ausschreitungen distanziert. Tatsächlich hatten der inzwischen festgenommene Politiker Leopoldo López von der Rechtspartei »Volkswille« (VP) und die parteilose Abgeordnete María Corina Machado die Ausschreitungen sogar offen unterstützt. Auf ihrer Homepage jubelte Machado etwa: »Wieviel haben wir in diesen Tagen doch erreicht. Das Volk auf der Straße hat seine eigene Kraft und das Ausmaß unserer Kampfentschlossenheit erkannt.« Ziel sollten nicht nur einzelne Zugeständnisse des »Regimes« sein, sondern der »politische Wechsel«.

Diese Orientierung auf einen Sturz der Regierung hat dazu geführt, daß nicht nur Venezuelas Linke, sondern auch zahlreiche Staaten der Region die Gewalt der Opposition als versuchten Staatsstreich brandmarken. Demonstrativ nahmen am Mittwoch in Berlin die Botschafterin Boliviens, Elizabeth Salguero, und ihr Amtskollege aus Ecuador, Jorge Jurado, an einer Pressekonferenz in der venezolanischen Vertretung teil. »Bolivien unterstützt die Regierung Venezuela uneingeschränkt gegen den laufenden Putschversuch«, betonte Salguero und erinnerte daran, daß auch ihr Staatschef Evo Morales sowie Ecuadors Präsident Rafael Correa Opfer von Umsturzversuchen geworden waren.

Der Botschafter der Bolivarischen Republik, Rodrigo Chaves, führte die Kampagne der Rechten zudem auf interne Auseinandersetzungen unter den Regierungsgegnern zurück. Es gehe auch darum, wer bei einer künftigen Präsidentschaftswahl für das Oppositionslager ins Rennen gehen werde. Der zweifache Kandidat Henrique Capriles Radonski, der 2012 Hugo Chávez und 2013 Maduro unterlegen war, gilt vielen als verbraucht. Zudem distanzierte er sich in den vergangenen Wochen mehrfach von der Strategie seiner Gesinnungsgenossen, die er als chancenlos ansah.

Setzen auf Straßenkampf

Doch Leopoldo López und Marina Corina Machado setzen unverdrossen auf den Straßenkampf. Dem schon in den Putsch gegen Chávez 2002 verwickelten López war 2008 wegen einer Korruptionsaffäre aus seiner Zeit als Bürgermeister von Chacao in Caracas bis Ende 2013 das passive Wahlrecht entzogen worden. Erst seit Januar darf er überhaupt wieder ein öffentliches Amt übernehmen. Trotzdem war er 2012 bei den damaligen Vorwahlen der Opposition angetreten, hatte sich später angesichts für ihn negativer Umfragewerte jedoch zugunsten von Capriles zurückgezogen. Inzwischen wird er von rechten Medien als der eigentliche Oppositionsführer und »bessere« Kandidat gehandelt. Dagegen bringt sich bereits Machado in Stellung, die bei den Vorwahlen mit nur 3,7 Prozent abgeschlagen ausgeschieden war und wegen ihrer radikalen Linie sogar im Oppositionsbündnis MUD isoliert ist. Da sie trotz ihres Extremismus als Abgeordnete bislang Immunität genießt und ihr Konkurrent im Gefängnis sitzt, könnte sie nun jedoch nach oben gespült werden.

Maduro seinerseits vertraut auf die Mobilisierung seiner Anhänger. Am Mittwoch demonstrierten in Caracas Tausende Bauern, Fischer und Indígenas, zeigten ihre Unterstützung für die Regierung und forderten ein entschlosseneres Vorgehen. »Dies ist der Moment der Vertiefung der Revolution, der Vertiefung des Sozialismus. Wir werden die Bolivarische Revolution radikalisieren«, erklärte der Sprecher der Bauernbewegung Movimiento Campesino, Luis Hernández, in seiner Rede. Wie schon in den Tagen zuvor Erdölarbeiter, Frauen, Rentner, Motorradfahrer und Beschäftigte des staatlichen Telekommunikationsunternehmens CANTV wurden auch die aus allen Teilen des Landes angereisten Landarbeiter von Präsident Nicolás Maduro begrüßt. Der Staatschef verurteilte in seiner über alle Rundfunk- und Fernsehsender übertragenen Ansprache die Gewalt und bezifferte die Zahl der Menschen, die direkt oder indirekt infolge der »Guarimbas« getötet wurden, auf 50.

Am Mittwoch abend eröffnete Maduro außerdem eine Nationale Friedenskonferenz, an der neben Ministern und Vertretern linker Organisationen auch Repräsentanten der katholischen, evangelischen und islamischen Religionsgemeinschaften, Künstler, Unternehmer und Angehörige der gemäßigten Regierungsgegner teilnahmen. So sprach sich der oppositionelle Abgeordnete Ricardo Sánchez dafür aus, einen Vorschlag des Präsidenten aufzugreifen und mit einer »Wahrheitskommission« die tatsächlichen Hintergründe der gewaltsamen Auseinandersetzungen der vergangenen Tage zu untersuchen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014


Caracas verfügt weitere Verhaftung

Oppositionspolitiker wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gesucht **

Während die Behörden gegen die Opposition mit Hilfe der Justiz vorgehen, demonstrieren in Venezuela weiter Regierungsgegner.

In Venezuela hat die Justiz die Verhaftung eines weiteren Oppositionspolitikers angeordnet. Carlos Vecchio von der rechtskonservativen Voluntad Popular wird nach Angaben seiner Partei wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anstiftung zur Gewalt gesucht. Der gleichen Delikte wird sein Parteifreund Leopoldo López beschuldigt, inhaftiert seit 18. Februar.

In der Hauptstadt Caracas gingen erneut bis zu 3000 überwiegend studentische Gegner der Regierung des linksgerichteten Präsidenten Nicolás Maduro auf die Straße. Bei den seit Anfang Februar andauernden Protesten, bei denen sich Sicherheitskräfte und Demonstranten immer wieder Straßenschlachten liefern, wurden mindestens 14 Menschen getötet und 140 verletzt. Der Unmut richtet sich vor allem gegen die hohe Inflation, die verbreitete Korruption, die häufigen Versorgungsengpässe und die grassierende Kriminalität.

Die Demonstration vom Donnerstag (Ortszeit) unter dem Motto »Keinen Toten mehr« fand im wohlhabenden Viertel Chacao statt, einer Hochburg der Regierungsgegner im Osten der Hauptstadt. Sie verlief zunächst friedlich. Doch als etwa 200 Demonstranten aus dem Marsch ausscherten, um eine nahe gelegene Autobahn zu blockieren, kam es zu Zusammenstößen mit den Ordnungskräften. Diese setzten Tränengas ein, um die Blockierer auseinanderzutreiben. Nach Behördenangaben gab es 20 Verletzte.

Tausende Regierungsanhänger versammelten sich vor dem Präsidentenpalast, um des Aufstandes vor 25 Jahren gegen die neoliberale Politik des Präsidenten Carlos Andrés Pérez zu gedenken. Bei der Niederschlagung des sogenannten Caracazo am 27. Februar 1989 töteten Polizei, Armee und Nationalgarde Hunderte Menschen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 1. März 2014


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