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Der ausgebliebene Sturz

Jahresrückblick 2014. Heute: Venezuela. Aufstand der Opposition gescheitert. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten halten an

Von André Scheer *

Christine Lagarde, die Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF), betätigte sich am 5. Dezember in Santiago de Chile als Analystin der lateinamerikanischen Politik. Die neuen Zusammenschlüsse von Staaten der Region wie Mercosur, ALBA, UNASUR seien »ein Teller Spaghetti« ohne klaren Nutzen. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro beschied der »Französin mit der Mentalität eines Gringos« tags darauf: »Wir sind frei vom IWF, von der Weltbank und von den Spaghetti, die die IWF-Präsidentin in ihrem Kopf hat.« Man brauche solche Ratschläge der Dame und ihrer Institution nicht: »Lateinamerika hat die Etappe der Wirtschaftsrezepte überwunden, die heute Europa zerstören.« Die IWF-Präsidentin solle sich ansehen, welche Folgen die Hungerpolitik ihrer Organisation in Spanien gehabt habe, das heute unter 27 Prozent Erwerbslosigkeit und 57 Prozent Jugendarbeitslosigkeit stöhne.

Auch am Ende des Jahres 2014 ist Venezuela auf der internationalen Bühne ein Akteur geblieben, der Alternativen zu den Rezepten der imperialistischen Hauptmächte vertritt. Zehn Jahre nach der Gründung der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) und als Mitglied der von Lagarde so geringgeschätzten Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) sowie des Gemeinsamen Südamerikanischen Marktes (Mercosur) ist Caracas eingebunden in regionale Strukturen, die sich der Dominanz des Nordens entziehen. Im kommenden Jahr wird Venezuela seine Stimme noch deutlicher hören lassen können, denn während der UN-Vollversammlung in New York wurde das Land mit Unterstützung aller Länder Lateinamerikas für zwei Jahre als nicht ständiges Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt.

Dabei sah es Anfang des Jahres noch so aus, als drohe der Bolivarischen Revolution der Untergang in blutigen Auseinandersetzungen. Nachdem Proteste der Opposition am 4. Februar zunächst im Westen des Landes begonnen hatten, eskalierte am 12. Februar eine Demonstration von Regierungsgegnern in Caracas, als Vermummte versuchten, das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft im Zentrum der Hauptstadt zu stürmen. Es gab Tote. Später stellte sich heraus, dass sich entgegen dem ausdrücklichen Befehl der Regierung Beamte der politischen Geheimpolizei SEBIN bewaffnet am Ort aufgehalten und das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatten. Es deutet manches darauf hin, dass Kräfte der radikalen Opposition auf diese Weise das Muster des 11. April 2002 wiederholen wollten, als Heckenschützen auf oppositionelle und regierungstreue Demonstranten geschossen und so den Vorwand für den Sturz des damaligen Präsidenten Hugo Chávez geliefert hatten. Auch diesmal machten die Regierungsgegner den Staatschef unmittelbar für die Toten verantwortlich und sorgten wochenlang durch gewaltsame Straßenproteste – in Venezuela »Guarimbas« genannt – für Unruhe. Die Regierung ihrerseits bezichtigte den Oppositionspolitiker Leopoldo López und ließ ihn unter dem Vorwurf, einen Staatsstreich vorbereitet zu haben, festnehmen. Seit mehreren Monaten wartet er im Gefängnis auf seinen Prozess, während er von den Regierungsgegnern und ihren Verbündeten im Ausland als »politischer Gefangener« gefeiert wird. Die offizielle Bilanz der Gewalt bis Ende Mai: Auf beiden Seiten 42 Tote und fast 900 Verletzte.

Während Maduro seine Anhänger zu Großdemonstrationen gegen den »Terrorismus« aufrief, erklärten ihn manche selbsternannte Experten schon für gescheitert. So prognostizierte der als »früherer Berater von Hugo Chávez« hofierte deutsch-mexikanische Soziologe Heinz Dieterich am 3. März im Gespräch mit Spiegel online, Maduro werde »keine acht Wochen mehr an der Regierung sein«. Eine deutsche Internetseite veröffentlichte daraufhin einen Countdown, der die dafür verbleibende Zeit herunterzählte – und seither festhält, seit wie vielen Tagen der Sturz des venezolanischen Präsidenten überfällig ist. Am heutigen Freitag zeigt der Zähler 249 Tage an.

Inzwischen rechnet niemand mehr mit einem schnellen Abtritt Maduros. Während sich die militanten Regierungsgegner über Wochen in Straßenkämpfen und Scharmützeln mit Polizei und Nationalgarde aufrieben, konnte sich der Regierungschef als Garant des Friedens profilieren. Im April empfing er seine Gegner vor laufenden Kameras im Präsidentenpalast Miraflores zu Gesprächen, die von der UNASUR vermittelt worden waren. Auch eine mutmaßliche Verschwörung in Kreisen des Militärs konnte zerschlagen werden. Ende März teilte Maduro mit, drei Generäle der Luftwaffe seien festgenommen worden, weil sie einen Putsch vorbereitet hätten. Während die Informationen darüber zunächst rar blieben, erklärte der Präsident Anfang Dezember, die Militärs hätten mit einem Kampfflugzeug unter anderem den Präsidentenpalast, den Fernsehsender TeleSur und mehrere Ministerien bombardieren wollen, um damit das Zeichen zum Aufstand zu geben.

Während sich die innenpolitische Situation seit Mitte des Jahres stabilisiert hat, blieb die wirtschaftliche Lage in dem südamerikanischen Land angespannt. Vor allem der Niedergang der Erdölpreise leert die öffentlichen Kassen Venezuelas. Für den Staatshaushalt 2015 wurde mit einem Preis von 60 Dollar für das Barrel Erdöl kalkuliert. Als die Abgeordneten der Nationalversammlung mit den Beratungen über die Finanzen begannen, hatte wurden für das venezolanische Öl noch 86 Dollar gezahlt, Anfang Dezember hatte der Preis dann diese vorsichtig angesetzte Marke erreicht. Dabei hatten Analysten noch im Sommer vor dem Hintergrund der Lage in der Ukraine und im Nahen und Mittleren Osten für das Jahresende Preise oberhalb der 100-Dollar-Marke prognostiziert.

Verschärft wurde die wirtschaftliche Lage, die sich in vielen Supermärkten in Form leerer Regale bemerkbar machte, durch Schmuggel und Unterschlagung. Dagegen rief Maduro im August eine Großoffensive der Sicherheitskräfte aus, die bei Razzien tonnenweise Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs beschlagnahmten. Die Grenze zu Kolumbien wurde zeitweilig geschlossen, die Kontrollen verschärft. Zugleich begann die Regierung mit der Einführung von Fingerabdruckgeräten in den Supermärkten. Durch die Identitätskontrollen, die bis Ende November in den staatlichen und in grenznahen Geschäften durchgeführt wurden, sollte aufgedeckt werden, ob jemand besonders viele Waren einkaufte, um sie dann weiterzuverkaufen – etwa in Kolumbien, wo das Kilogramm Mehl bis zu sechsmal teurer ist als in Venezuela. Die Opposition warf Maduro daraufhin vor, durch die Hintertür eine Lebensmittelrationierung einführen zu wollen.

Die große Schwäche der Regierungsgegner ist jedoch, dass sie in der Öffentlichkeit nur durch das Ablehnen jeder Initiative der Regierung sichtbar sind. »Es gibt keinen Vorschlag der Opposition«, stellte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces, Óscar Schemel, Anfang Dezember im privaten Fernsehsender Televen fest. Zwar gebe es tatsächlich wirtschaftliche Schwierigkeiten, die niemand leugne und die »den Prozess des sozialen Aufstiegs und der materiellen Verbesserungen gestoppt haben, die es bis dahin kontinuierlich in diesem Land gegeben hat«. Die Katastrophenszenarien, die von der Opposition beschworen würden, seien jedoch dieselben wie in den vergangenen 15 Jahren. Tatsächlich habe Venezuela jedoch alle Möglichkeiten, die Krise zu überwinden, da es genügend Währungs- und Erdölreserven gebe und zudem vor allem aus Mittelamerika viele Zahlungen für Rohstofflieferungen bevorstünden.

Die ungebrochene Mobilisierungskraft der Regierung und ihrer Anhänger zeigte sich zuletzt am 15. Dezember, als Hunderttausende Menschen auf der Avenida Bolívar im Zentrum von Caracas mit einer Großkundgebung den 15. Jahrestag der Verabschiedung der neuen venezolanischen Verfassung feierten. »Es war wieder wie mit Chávez«, erinnerte eine Teilnehmerin gegenüber junge Welt an frühere Massendemonstrationen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 2. Januar 2015


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