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"Auffallend dumm"

Venezuela: Das Abwahlbegehren gegen Präsident Chavez

Im Folgenden dokumentieren wir einen Bericht über die für Außenstehende verwirrende Lage im südamerikanischen Venezuela. Der Autor fühlt sich in das Chile zur Zeit Salvador Allendes erinnert. Wünschen wir der Bevölkerung ein besseres Ende und möge der Beitrag etwas mehr Licht in die Verhältnisse bringen. Der Artikel erschien in der Wochenzeitung "Freitag".


Von Raul Zelik

Um Mitternacht reißen Böller und Feuerwerk aus dem Schlaf, schon seit Tagen kennen die Privatsender nur noch ein Thema: die oppositionelle Großdemonstration in der Avenida Libertador. Der Nachrichtensender Globovision - im Vorjahr an zwei Putschversuchen gegen die Regierung von Hugo Chávez beteiligt - rührt die Werbetrommel: Ein großer Tag für Venezuela, nicht wegen des Geburtstages der Regierung, sondern weil nun das Ende des Präsidenten gekommen sei. Man schreibt den 20. August 2003 - Halbzeit des sechsjährigen Mandats für den Präsidenten Chávez.

Laut der 1999 verabschiedeten Verfassung kann jedes Mandat nach der Hälfte der Amtszeit per Referendum widerrufen werden, wenn 20 Prozent der Wähler ein entsprechendes Begehren unterschreiben und sich bei der folgenden Abstimmung mindestens ebenso viele Personen für eine Abwahl aussprechen, wie der Mandatsträger ursprünglich an Stimmen erhalten hat. Die Rechte ließ die Verabschiedung der "bolivarianischen Konstitution" vor vier Jahren zwar erbittert bekämpfen, jetzt jedoch kommen ihr die neuen plebiszitären Element sehr gelegen.

Ab neun Uhr morgens strömen die Bewohner von Appartementhäusern und Villen auf die Straße - Geschäftsleute, die in den vergangenen Jahren schmerzliche Verluste hinnehmen mussten, Hausfrauen, die um die Zukunft ihrer Familien bangen, Akademiker, die vor Chávez sicher sein konnten, im staatlichen Erdölunternehmen PDVSA oder der Staatsbürokratie einen gut bezahlten Job zu bekommen.

Mit bis zu 3,5 Millionen Barrel Förderleistung täglich gehört Venezuela zu den vier größten Ölproduzenten der Welt. Zwischen 18 und 22 Milliarden US-Dollar betragen die jährlichen Einnahmen, die auf eine vergleichsweise kleine Bevölkerung von 24 Millionen Menschen verteilt werden müssen. In Lateinamerika verkörpert dieser Staat damit eine Ausnahme: Nicht nur die Oligarchie, sondern auch eine breite Mittelschicht kann sich einen fast nordamerikanischen Lebensstil leisten: Immobilieneigentum, Ferienwohnungen, Auslandsurlaub.

Auflauf der Besserverdienenden

Von den Privatsendern wird die Demonstration live übertragen. Luftaufnahmen mit Geigenmusik, Show-Einlagen auf der Bühne und Interviews mit Politikern der verschiedenen Oppositionsparteien lösen sich ab. Dazu gehören die traditionellen Parteien Acción Democrática und COPEI, die sich jahrzehntelang die Pfründe im Land geteilt haben, das sozialdemokratische Movimiento al Socialismo, das sich erst vor kurzem in einen regierungsfreundlichen und einen oppositionellen Flügel gespalten hat, und die von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützte Partei Primero Justicia, die bei den Putschversuchen 2002 eine Schlüsselrolle spielte.

Überall wehen Nationalfahnen, und die Privatsender sprechen von einer der größten Demonstrationen der Geschichte, seriöse Schätzungen gehen von 100.000 Teilnehmern aus. CNN wird die Kundgebung als Nachricht des Tages platzieren. Immer wieder ist die Forderung nach dem sofortigen Abtritt des Präsidenten zu hören. Die Leute, die ich anspreche, begründen ihre Haltung ausnahmslos mit den gleichen Argumenten: Chávez sei Kommunist und Diktator, die wirtschaftliche Situation habe sich verschlechtert, Armut und Arbeitslosigkeit würden wachsen. Zumindest Letzteres scheint einleuchtend, doch bemerkenswerter Weise ist auf der Demonstration von jenen 60 Prozent der Bevölkerung, die von der Verarmung am stärksten betroffen sind, nichts zu sehen. Die versammelte Menge setzt sich sozial weitgehend homogen zusammen: eine Kundgebung der Besserverdienenden.

Auf der parallel verlaufenen Avenida Bolívar, einen Kilometer weiter südlich, findet zeitgleich die Gegenveranstaltung statt, ein so genannter Megamercado. Auch hier sind Zehntausende unterwegs, deren Versammlung allerdings keinen Eingang in die Hauptnachrichten finden wird - Informationsstände, Gesundheitsposten, Lebensmittelverkäufer. Die Frauen- und die Volksbank stellen ihre Programme zur Vergabe von Mikrokrediten vor, die staatliche Einrichtung MERCAL verteilt Lebensmittel zum Vorzugspreis. Der Kontrast zu der Kundgebung der Opposition könnte kaum drastischer sein: Hier ist die andere Seite der sozial segregierten Stadt unterwegs. Barrio-Bewohner, Straßenhändler, Tagelöhner. Und hier wird das politische Programm klarer artikuliert als bei der Opposition: Zwar gibt es viel Personenkult um Hugo Chávez, der von seinen Anhänger geradezu abgöttisch verehrt wird, doch mindestens ebenso viel Raum nehmen Inhalte ein. Es geht um Transformationen zugunsten der sozial und politisch Exkludierten, um eine lateinamerikanische Integration unabhängig von der Hegemonialmacht USA und eine Wirtschaft, die kein marktliberaler Kapitalismus, sondern einer Form der Solidarökonomie ist.

Wie zu Zeiten Salvador Allendes

Erstaunlicherweise kann dieses Projekt trotz einer handfesten Krise Venezuelas und eines regelrechten Medienbombardements nach wie vor auf große Unterstützung zählen. Die Umsturzversuche der Opposition haben die Politisierung der Unterschichten sogar noch beschleunigt, was den Ex-Vizeplanungsminister Roland Denis vor kurzem dazu veranlasste, den Putsch vom 11. April 2002 zur eigentlichen Geburtsstunde der "Bolivarianischen Revolution" zu erklären. Landlosenbewegung, Stadtteilkomitees und Planungsräte wachsen ebenso wie die neue Linkspartei Podemos des Vizepräsidenten José Rangel oder der im April gegründete Gewerkschaftsverband UNT, der den rechten Dachverband CTV aus dem Stand überrundet hat. Die Mobilisierungskraft der Linken scheint ungebrochen. Als am Samstag zu einer Kundgebung gegen das Referendum aufgerufen wird, erfüllen Hunderttausende die Stadt mit einer Stimmung, die auf eigentümliche Weise an Bilder aus dem Chile Salvador Allendes erinnert.

Vor diesem Hintergrund ist völlig offen, ob die Opposition mit ihrem Abwahlbegehren Erfolg hat, denn bisher steht nicht fest, wie die Oberste Wahlkommission CNE die von der Opposition eingereichten Unterschriften überhaupt bewertet. Greg Wilpert, deutsch-amerikanischer Sozialwissenschaftler und einer der besten Kenner Venezuelas, sieht drei gewichtige Argumente gegen die Anerkennung. "Zum einen sind die Unterschriften von Februar 2003. Die Verfassung schreibt jedoch vor, dass ein Abwahlverfahren erst nach der Hälfte der Amtszeit, also ab August, eingeleitet werden kann. Zum zweiten entspricht der Text, den die Unterzeichner unterschrieben haben, nicht den gesetzlichen Vorgaben. Und drittens sind auf bereits vor einigen Monaten veröffentlichten Unterschriftenlisten die Namen von Leuten aufgetaucht, die offensichtlich ohne deren Wissen aus Datenbanken kopiert wurden."

Wenn die CNE, die dieser Tage vom Obersten Gerichtshof neu berufen wird, die vorliegenden Listen ablehnt, muss die Opposition erst einmal 2,4 Millionen Unterschriften sammeln. Falls sie das schafft - was angesichts der aufgeheizten Stimmung gut möglich ist - würde innerhalb von 60 Tagen nach der Bestätigung der neuen Unterschriften durch die CNE das Referendum abgehalten werden, bei dem wiederum 3,7 Millionen der zwölf Millionen venezolanischen Wahlberechtigten gegen Chávez stimmen müssten. Eine Reihe von Hürden für eine Opposition, die noch mit einem weiteren ernsten Problem zu kämpfen hat.

"Diese Opposition ist bisweilen auffallend dumm", meint Wilpert. Ihre wütenden Attacken richteten sich zur Zeit ausgerechnet gegen zwei Programme, die sowohl bei internationalen Organisationen als auch den Betroffenen auf viel Anerkennung stoßen: die Alphabetisierungskampagne Misión Robinson und die Entsendung von kubanischen Ärzten in die venezolanischen Armenviertel. Die einheimischen Akademiker bezeichnen die Einreise von ausländischen Fachkräften als antinational. Doch Tatsache ist, dass die aus den Mittelschichten stammenden venezolanischen Ärzte in den vergangenen Jahren nie bereit waren, in Slums zu arbeiten, geschweige denn dort zu wohnen.

Aus: Freitag, Die Ost-West-Wochenzeitung 36, 29. August 2003


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