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Revolution geht weiter

Nicolás Maduro mit 50,7 Prozent zum neuen Präsidenten Venezuelas gewählt. Diskussion um überraschend knappen Ausgang

Von André Scheer, Caracas *

Nicolás Maduro ist der erste Arbeiter, der zum Präsidenten Venezuelas gewählt worden ist. Mit knapp 50,7 Prozent setzte er sich am Sonntag gegen den Oppositionskandidaten Henrique Capriles Radonski durch, der auf gut 49 Prozent kam. Der Bekanntgabe dieses Ergebnisses durch den Nationalen Wahlrat (CNE) am Sonntag gegen 23 Uhr Ortszeit war ein Nervenkrimi vorausgegangen. Kurz nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr hatten inoffizielle Prognosen auf der Grundlage von Nachwahlbefragungen einen klaren Sieg Maduros vorausgesagt. Je später der Abend wurde, desto mehr schrumpfte dessen Vorsprung in den Prognosen jedoch zusammen – bis sogar eine Niederlage der bolivarischen Bewegung nicht mehr ausgeschlossen wurde. So war das erste Gefühl, nachdem CNE-Präsidentin Tibisay Lucena die Ergebnisse bekanntgegeben hatte, Erleichterung: Knapp, aber gewonnen. Capriles Radonski sprach von »Wahlbetrug« und erkannte das Ergebnis nicht an.

Carlos Aquino, der dem Politbüro der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) angehört, betonte in einer ersten Stellungnahme gegenüber junge Welt die erneut hohe Wahlbeteiligung von fast 80 Prozent. Das Ergebnis von mehr als 50 Prozent sei zudem ein ausreichend klares Votum. Nun komme es darauf an, ob die Rechte das Ergebnis anerkenne oder versuche, Gewalt zu schüren. »Ausschlaggebend für dieses knappe Ergebnis war möglicherweise das fehlende Engagement für eine Vertiefung der Revolution. Es hat in der Politik verschiedener Instanzen bereits in den vergangenen Jahren Defizite gegeben, die jedoch durch die starke Führungskraft des Präsidenten Hugo Chávez relativiert wurden«, so Aquino.

Auf den knappen Ausgang der Wahl hatte im Vorfeld jedoch praktisch nichts hingedeutet. Alle Befragungen der bekannten Meinungsforschungsinstitute Venezuelas hatten einen klaren Triumph Maduros vorausgesagt. Am vergangenen Donnerstag demonstrierten mehrere Millionen Menschen im Zentrum von Caracas ihre Unterstützung für den sozialistischen Kandidaten. Auch am Sonntag prägten siegessichere Unterstützer Maduros das Straßenbild.

Maduro wies in seiner ersten Ansprache nach Bekanntgabe der Ergebnisse vor dem Präsidentenpalast Miraflores jede Möglichkeit eines Paktes mit der rechten Opposition zurück. In Venezuela werde der Aufbau des »demokratischen, bolivarischen und christlichen Sozialismus« fortgesetzt. Als Konsequenz aus dem Ergebnis müsse die Volksmacht gestärkt und ausgebaut werden, um die Mängel und Fehler der vergangenen Jahre zu überwinden. Vor dem Palast hatten sich mehrere tausend Anhänger des neuen Staatschefs versammelt. Eine überschwengliche Siegesfeier wie im vergangenen Oktober blieb jedoch aus.

»Der Wahlsieg von Nicolas Maduro ist eine erneute Bestätigung der seit 1999 begonnenen tiefgreifenden sozialen und demokratischen Erneuerung in dem lateinamerikanischen Land«, erklärte die Linke-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel am Montag. Die Nichtanerkennung des Wahlergebnisses durch Capriles Radonski zeige den »undemokratischen Charakter« des Oppositionsbündnisses. Die Linke begrüße die besonnene Reaktion des gewählten Präsidenten Maduro und seine Zusage, alle Stimmzettel nachzählen zu lassen, um damit Transparenz zu beweisen.

* Aus: junge Welt, 16. April 2013


Kein Zurück zum Gestern

Venezuelas Verbündete gratulieren **

Im Ausland wurde der Ausgang der Wahl in Venezuela mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Während die engsten Verbündeten Venezuelas in Lateinamerika - Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua - auch wegen bisheriger Petro-Dollar-Hilfen aus Venezuela Genugtuung äußerten, wird der Wahlsieg in Washington wohl nüchtern zu Kenntnis genommen werden. Auch unter dem neuen »Comandante« wird Caracas zu den stärksten Gegenpolen und Kritikern der USA in Lateinamerika gehören.

Bereits kurz nach Mitteilung der Ergebnisse gratulierte Ecuadors Staatspräsident Rafael Correa: »Ruhm für das tapfere venezolanische Volk, das das Joch besiegt hat. Glückwunsch Präsident Maduro. Comandante Chávez: Venezuela kehrt nie mehr in die Vergangenheit zurück«, twitterte Correa.

Auch Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner schrieb: »Glückwünsche an den neuen Präsidenten Nicolás Maduro. Andenken und Dankbarkeit für immer an den Freund und Genossen Hugo Chávez.«

Aus Übersee sandte der russische Präsident Wladimir Putin dem Wahlsieger seine Glückwünsche: »Ich bin überzeugt, dass unter Ihrer Leitung Venezuela und die strategische Partnerschaft zu Russland stabil sein werden«, telegrafierte er an Nicolás Maduro. Moskau und Caracas sind enge Partner.

Als neuerliche Bestätigung der 1999 begonnenen tief greifenden sozialen und demokratischen Erneuerung in dem lateinamerikanischen Land bezeichnete Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, den Wahlsieg Maduros. Die Nichtanerkennung der Wahl durch den unterlegenen Oppositionskandidaten Capriles Radonski zeige den undemokratischen Charakter des Oppositionsbündnisses und habe ihre Vorgeschichte bereits in der Beteiligung am Putschversuch gegen Hugo Chávez im Jahr 2002. Dieser Versuch der Destabilisierung des Landes nach dem Tod von Präsident Chávez müsse international zurückgewiesen werden. »DIE LINKE begrüßt die besonnene Reaktion des gewählten Präsidenten Maduro und seine Zusage, alle Stimmzettel nachzählen zu lassen, um damit Transparenz zu beweisen«, heißt es in der Erklärung weiter. »Der Wahlsieg Maduros garantiert eine Fortführung der Armutsbekämpfung in Venezuela und der Vertiefung der regionalen Integration in Lateinamerika für eine selbstbestimmte Entwicklung.«

** Aus: neues deutschland, 16. April 2013


Glückwünsche für Venezuelas Präsident Maduro aus Havanna

Havanna. In der kubanischen Hauptstadt Havanna ist der Sieg Nicolás Maduros bei der Präsidentschaftswahl in Venezuela am Sonntag trotz des knappen Vorsprungs mit Zufriedenheit aufgenommen worden. Präsident Raúl Castro beglückwünschte Maduro im Namen der Regierung und des Volkes von Kuba zu dem »bedeutenden Triumph, der die Kraft der Ideen und der Arbeit des Comandante Hugo Chávez bestätigt«. Er sei überzeugt davon, daß dieser Sieg die Fortsetzung der Bolivarianischen Revolution und der Integration der lateinamerikanischen Staaten sicherstelle. Der kubanische Präsident versicherte seinen Amtskollegen der Solidarität und Verläßlichkeit des kubanischen Volkes.

Am Malecon, wo sich an den Wochenenden traditionell Hunderte junge Leute versammeln, wurde am späten Sonntag abend öfter »Gloria al Bravo Pueblo«, die venezolanische Nationalhymne, angestimmt. Venezolaner, die in Kuba arbeiten, studieren oder wohnen, feierten den Triumph des sozialistischen Kandidaten mit kubanischen Kollegen und Freunden.

Der Botschafter Nikaraguas, Luis Cabrera, bezeichnete die Wahl Maduros als »Sieg aller Völker Lateinamerikas und der Karibik«. Dies sei eine »Garantie für unser Amerika«, daß der Kurs des Comandante Chávez gegen alle Feinde des revolutionären Prozesses fortgesetzt werde.

Der Botschafter der Republik Kongo, Pascal Onguemby, sagte, daß die Wahl in Venezuela eine Lehre für die Völker Afrikas sei, weil sie gezeigt habe, daß der Kapitalismus keine Zukunft hat. Nach dem Niedergang des sozialistischen Lagers habe Venezuela der Idee des Sozialismus in der Welt wieder einen festen Platz verschafft. Er erinnerte daran, daß Hugo Chávez ein Forum zur Zusammenarbeit der Völker Amerikas und des südlichen Afrika (ASA) eingerichtet hatte, das auf bisher drei Gipfeltreffen in Abuya (Nigeria), auf der Isla Margarita (Venezuela) und in Malabo (Äquatorialguinea) eine hoffnungsvolle Arbeit begonnen habe. Mit dem Wahlsieg Maduros könne diese nun fortgesetzt werden. Deshalb sei Maduros Erfolg auch ein Sieg für die Völker Afrikas, sagte der Botschafter.

Die Präsidentin des Kubanischen Instituts für Völkerfreundschaft (ICAP), Kenia Serrano, bekundete ihren Respekt und ihre Solidarität mit dem venezolanischen Volk. »Wir freuen uns, daß der sozialistische Prozeß dort weitergeführt werden kann. Der heutige Tag hat den Schmerz über den Verlust des Comandante Hugo Chávez in die Zuversicht verwandelt, daß seine Arbeit fortgeführt wird«, sagte Serrano, die auch Abgeordnete der kubanischen Nationalversammlung ist.

*** Aus: junge Welt, 16. April 2013


Drei Jahre Zeit

Präsidentschaftswahl in Venezuela

Von André Scheer ****


Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Venezuela war ein Warnschuß für die revolutionäre Bewegung. Es war ein Schock, als die Präsidentin des Nationalen Wahlrates, Tibisay Lucena, am Sonntag abend vor die Presse trat und das offizielle Ergebnis der Abstimmung verkündete: 50,66 Prozent für Nicolás Maduro – gewählt, aber mit wenig mehr als anderthalb Prozentpunkten Vorsprung. Dabei waren zuvor Werte gehandelt worden, die dem Ergebnis von Hugo Chávez im vergangenen Oktober nahegekommen wären. Selbst ein noch größerer Sieg als damals wurde nicht ausgeschlossen.

Allerdings darf die böse Überraschung – die auch zu einer Katastrophe hätte werden können, wenn Capriles noch ein paar hunderttausend Stimmen mehr gewonnen hätte – nicht davon ablenken, was dieses Ergebnis im internationalen Maßstab bedeutet: Mit einem sozialistischen Programm und einer klaren Orientierung auf die Arbeiterklasse gewinnt ein ehemaliger Busfahrer ohne die Präsenz einer Symbolfigur wie Hugo Chávez mit fast 50,7 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahl. Über 50,7 Prozent würden sich in Deutschland, in Frankreich, in Italien oder in Spanien alle politischen Kräfte freuen. Als US-Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr mit einem ähnlichen Ergebnis wiedergewählt wurde, war in den internationalen Medien von einem »klaren Sieg« die Rede. Und ein Arbeiter als Präsident – das hat es in Deutschland bislang nur einmal gegeben: Wilhelm Pieck in der DDR.

Nicolás Maduro hat jetzt gut drei Jahre Zeit. Sobald seine halbe Amtszeit abgelaufen ist, wird die Opposition ein Amtsenthebungsreferendum anstrengen, wie sie es 2004 gegen Hugo Chávez versucht hatte. Drei Jahre sind wenig Zeit für die dringenden Aufgaben, die der revolutionäre Prozeß angehen muß, wenn er beweisen will, daß er auch ohne den »ewigen Comandante« eine bessere Zukunft für alle Venezolaner bedeutet. Dazu gehören die Bekämpfung der Kriminalität, der Inflation, der Korruption und der Ineffizienz der staatlichen Behörden. Dazu gehören aber auch die Fortsetzung und der Ausbau der sozialen Missionen wie des Wohnungsbauprogramms.

Es wird jetzt nicht an Ratschlägen für Maduro fehlen, die radikalen Töne eines Hugo Chávez sein zu lassen, den Antiimperialismus und die Freundschaft mit Kuba aufzugeben. Washington und Brüssel, vielleicht auch Berlin, werden dem neuen venezolanischen Präsidenten den roten Teppich ausrollen, um ihn einzukaufen. Das aber wäre für das politische Projekt Venezuelas ebenso fatal wie eine Radikalisierung, die die Menschen nicht mitnimmt. Es geht in Venezuela nicht um Parolen und Heiligenbilder, sondern um konkrete Ergebnisse zum Wohl der Menschen. Und solche sozialen Verbesserungen sind nur im Kampf gegen die kapitalistische Weltordnung möglich.

Nicolás Maduro hat in seiner ersten Rede nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse jeden Pakt mit der Rechten abgelehnt und betont, daß der Aufbau des Sozialismus in Venezuela fortgesetzt werden soll. Die Lehre aus dem Wahlergebnis sei, daß die Volksmacht ausgebaut und verstärkt werden muß. Das ist die richtige Richtung.

**** Aus: junge Welt, 16. April 2013


Maduros Bewährungsprobe

Von Martin Ling *****

Die Chavisten können durchatmen, aufatmen können sie nicht. Weit knapper als erwartet setzte sich Chávez Wunschkandidat Nicolás Maduro bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela durch. So knapp, dass sich Henrique Capriles schlicht weigert, sich in die Niederlage zu fügen. Lenkt er nicht bald ein, steht Venezuelas Demokratie in der Nach-Chávez-Ära vor ihrer ersten, schweren Belastungsprobe. Maduros Bereitschaft, alle Stimmzettel nachzählen zu lassen, um damit Transparenz zu beweisen, ist ein wichtiger Schritt zur Deeskalation. Denn Venezuela ist ein stark polarisiertes Land, seit in der Ära von Chávez (1999-2013) mit der Umverteilung von oben nach unten ernst gemacht wurde, was Ober- und weite Teile der Mittelschicht wenig begeisterte.

Die erneut hohe Wahlbeteiligung von über 78 Prozent zeigt einmal mehr, dass in Venezuela noch über Grundsätzliches entschieden wird. Dort stehen sich zwei stark unterscheidende Politikansätze gegenüber: die chavistische Position, die Bedürfnisse der Unterprivilegierten in den Mittelpunkt zu stellen, versus die neoliberale Position von Capriles, der zuerst die Wirtschaftsinteressen bedienen will, um dann beim Wohlstand auf den Sickereffekt nach unten zu vertrauen. Dass er für diese antiquierte Position einen solch großen Zulauf hielt, wird Maduro zu denken geben. Offensichtlich hat die hohe Inflation für Zweifel an der Nachhaltigkeit des Umverteilungsmodells gesorgt. Vor allem am Wirtschaftskurs wird Maduro gemessen werden – nicht zuletzt von seinen Wählern.

***** Aus: neues deutschland, 16. April 2013 (Kommentar)


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