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Auf den Angstfaktor kann die Rechte nicht zählen

Trotz aller Probleme punktet Hugo Chávez mit der Sozialpolitik

Von Raul Zelik, Medellín *

Kurz vor der Präsidentenwahl in Venezuela haben Staatschef Hugo Chávez und sein wichtigster Herausforderer, Henrique Capriles Radonski, noch einmal ihre Anhänger mobilisiert. Chávez trat am Donnerstag (Ortszeit) in Caracas auf, während Capriles in der Provinz seine letzten Kundgebungen absolvierte.

Trotz gerade erst überstandener Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarischen Revolution hat Präsident Hugo Chávez gute Chancen, aus den morgigen Wahlen erneut als Sieger hervorzugehen. In den meisten Umfragen liegt der Staatschef in Führung. Zu eindeutig repräsentiert der Kandidat der Rechten, der ehemalige Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der eigenen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen.

Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexperten beraten wird, bemüht sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und verspricht, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen. Das hieße auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen zu akzeptieren und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückzukehren.

Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie - anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua - nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg wieder aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist eine Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.

Doch was macht Chávez - der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker (selbst der legendäre Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) - so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicherstellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte »Boli-Bourgeoisie«. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit »Verrat« von linken Aufsteigern als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamte und Privatunternehmer immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus.

Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 Prozent gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitraum stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind, anders als in so mancher europäischen Großstadt, kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37 Prozent auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42 Prozent liegt). Und auch die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zukommen sollte, sind kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal zwei Prozent der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.

So bleibt als Errungenschaft der letzten Jahre vor allem die Durchsetzung einer souveränen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Durch den 1999 bis 2003 - gegen den heftigen Widerstand einheimischer Eliten und der USA - durchgesetzten Politikwechsel übt der venezolanische Staat heute wieder die direkte Kontrolle auf die Erdöleinnahmen aus. Dass der staatliche Erdölkonzern PdVSA allein im vergangenen Jahr 40 Milliarden US-Dollar für die so genannten Misiones, also für Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme ausgeben konnte, war nicht nur den hohen Ölpreisen zu verdanken. Noch entscheidender war die politische Bereitschaft der Chávez-Regierung, die Privatisierung öffentlicher Güter rückgängig zu machen und den Reichtum des Landes zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Enteignungsideologie wahrlich keine Kleinigkeit.

Raul Zelik ist Schriftsteller und Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbien. Über Venezuela schrieb er neben zahlreichen Artikeln das Buch »Made in Venezuela – Notizen zur ›Bolivarischen Revolution‹«. Sein nächster Roman »Der Eindringling « erscheint am 17. Oktober bei Suhrkamp.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 06. Oktober 2012


"Die Bevölkerung hat ein Bewusstsein entwickelt"

Venezuelas Botschafter Rodrigo Oswaldo Chaves Samudio über die Bolivarianische Revolution und die wegweisenden Wahlen am Sonntag **

Der Chirurg Rodrigo Oswaldo Chaves Samudio ist seit Jahren im diplomatischen Dienst Venezuelas tätig. Seit dem 24. August ist er Botschafter Venezuelas in Deutschland. Mit ihm sprach für »nd« Harald Neuber.


nd: Für die Präsidentschaftswahlen wird eine Art Schicksalsentscheidung zwischen linker Regierung und Opposition vorhergesagt. Zeit für eine Zwischenbilanz: Wie steht es um den Reformprozess in Ihrem Land nach 13 Jahren?

Samudio: Wichtig ist zunächst, den bolivarianischen Prozess vom historischen Standpunkt aus zu betrachten. In Venezuela hat es einen brutalen Prozess der Eroberung gegeben. Rund 97 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung wurden vernichtet. Und Venezuela hat wegen seiner Bodenschätze schon immer Begehrlichkeiten geweckt. Nach der Unabhängigkeitserklärung kamen daher die transnationalen Unternehmen aus den USA. Die Einkünfte flossen in private Taschen weniger. So kam es zu einem sozialen Aufstand 1989 und der folgenden Rebellion im Jahr 1992, an der auch Hugo Chávez als Oberstleutnant teilnahm.

Dieser Aufstand wird heute als Vorspiel zu einem Reformprozess, zur Bolivarianischen Revolution bezeichnet.

Der konservative Präsident Rafael Caldera hatte die Wahlen des Jahres 1994 nur mit Bezug auf den Aufstand 1992 und mit einem sozialkritischen Diskurs gewonnen. Er begnadigte die Aufständischen - auch Hugo Chávez. Die folgende Umwandlung der Untergrundbewegung in eine politische Partei brachte Chávez durch die Wahlen 1998 zu Anfang des Jahres 1999 an die Regierung.

Welche Rolle haben dabei Basisbewegungen gespielt?

Während der ersten Jahre befand sich die Regierung in der Defensive. Die alten Eliten kontrollierten das staatliche Ölunternehmen PdVSA und Teile der Verwaltung. Weil sie aber nicht die Unterstützung der Bevölkerung hatten, scheiterten ihr Putschversuch 2002 und die spätere Sabotage der Erdölindustrie. Bis 2004 spielten die Basisbewegungen eine zentrale Rolle. Denn sie verteidigten den Transitionsprozess. Nicht eine Partei, sondern die Menschen auf der Straße.

Was ist seither erreicht worden?

Die große Errungenschaft des bolivarianischen Prozesses ist wohl, dass die Bevölkerung ein politisches und patriotisches Bewusstsein entwickelt hat. Vor 40 Jahren war der große Traum eines Venezolaners, nach Miami zu fliegen. Heute sind sich die Menschen in meinem Land ihrer Identität bewusst: als Mischung aus Europäern, Afrikanern und Ureinwohnern.

Sie vertreten Venezuela seit Ende August als Botschafter in Deutschland. Eigentlich sind Sie aber Chirurg, zudem waren Sie lange in Basisbewegungen aktiv. Ist das für Venezuela eine besondere Karriere?

Nein, heute stammen viele staatliche Funktionsträger aus sozialen Bewegungen. Der Grund ist, dass diese Bewegungen über Jahre hinweg das natürliche Betätigungsfeld für Aktivisten waren. Anders als in Parteien sagte dir dort niemand, was du zu denken oder zu tun hast. Deswegen nehmen die Basisbewegungen eine zentrale Rolle im Transformationsprozess ein: weil sie eine neue politische Kultur begründet haben.

Dennoch gibt es auch Konflikte zwischen Vertretern der politischen Schicht und Bewegungen.

Ich würde nicht von Konflikten sprechen, sondern von einer Koexistenz. Die sozialen Bewegungen haben heute in Venezuela einen Platz in der politischen Landschaft und bestimmen die Debatten mit.

Der Kandidat der Opposition, Henrique Capriles Radonski, stellt Chávez' Sozialpolitik nicht grundsätzlich infrage und versucht, sich den sozialen Bewegungen anzunähern. Mit Erfolg?

Ich möchte zwischen sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) unterscheiden. Diese NRO sind in erster Linie Akteure der alten politischen Parteien, der Konservativen und Sozialdemokraten, die in den NRO ihre Tätigkeit weiterführen. Oppositionspolitiker wie Capriles Radonski oder Leopoldo López kommen aus diesen Organisationen, die über massive Gelder verfügen und in luxuriösen Gebäuden residieren.

Aber das ist doch legitim, oder nicht?

Natürlich ist es das, deswegen werden sie ja auch Präsidentschaftskandidaten. Weil sie aber massiv finanzierte NRO und nicht die Basisbewegungen hinter sich hat, liegt die Opposition in den seriösen Umfragen zwischen 20 und 30 Prozent. Und deswegen sieht Capriles seine Chance in nur einer Strategie: den amtierenden Präsidenten nachzuahmen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 06. Oktober 2012


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