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Caracas gibt sich frei

Venezuelas Hauptstadt erholt sich vom Wahlkampf. Radikale Regierungsgegner werfen Oppositionsführung »Pakt mit der Regierung« vor

Von André Scheer, Caracas *

Am Tag nach der Präsidentschaftswahl herrschte in Caracas Ruhe wie an einem Feiertag. Die meisten Geschäfte blieben geschlossen, auf den Straßen der Hauptstadt gab es erheblich weniger Verkehr als an normalen Tagen. Viele Büros und Unternehmen hielten, wenn nötig, ihren Betrieb nur mit einer Notbesetzung aufrecht. Offiziell war diese Arbeitsruhe nicht, doch augenscheinlich wollten sich viele von den Siegesfeiern erholen, die sich nach der offiziellen Bekanntgabe der Wiederwahl von Präsident Hugo Chávez bis in die Morgenstunden des Montags fortgesetzt hatten. Ohnehin wäre es kaum möglich gewesen, aus der Innenstadt nach Hause zu kommen – die Metro hatte ihren Betrieb planmäßig um 23 Uhr eingestellt, und Taxis oder Busse konnten auf den von Menschen überfüllten Straßen nicht vorankommen. Anhänger des unterlegenen Oppositionskandidaten Henrique Capriles Radonski hingegen widmeten sich am Montag ihrer Frustration, hatten sie diesmal doch fest damit gerechnet, siegen zu können. »Chávez hat nur noch einen einzigen Tag im Präsidentenpalast Miraflores«, hatte einer von ihnen noch am Sonnabend gegenüber junge Welt geäußert.

Im Vorfeld des Wahltags hatten linke Medien über Pläne der Regierungsgegner berichtet, ein für sie ungünstiges Ergebnis nicht anerkennen und zu gewaltsamen Protesten aufrufen zu wollen. Für Anspannung hatten am Sonntag zudem Hackerangriffe auf die Internetpräsenzen von regierungsnahen Medien wie dem staatlichen Rundfunk Radio Nacional de Venezuela gesorgt. Doch weder während der Stimmabgabe noch am Montag waren in der Hauptstadt nennenswerte Unruhen zu verzeichnen. Lediglich auf der Plaza Altamira im gleichnamigen Nobelviertel steckten einige Dutzend Jugendliche Müllhaufen in Brand, um gegen den von ihnen vermuteten »Betrug« zu protestieren.

Zu der Ruhe hatte zum einen das deutliche Wahlergebnis beigetragen, das mit zehn Prozentpunkten Vorsprung für den Amtsinhaber wenig Raum für Spekulationen gelassen hatte. Zum anderen hatte aber auch Capriles bereits wenige Minuten nach der Veröffentlichung der ersten offiziellen Zahlen durch den Nationalen Wahlrat (CNE) in einer von den meisten Fernsehsendern Venezuelas übertragenen Ansprache dem wiedergewählten Präsidenten zu dessen Erfolg gratuliert und seine eigene Niederlage eingestanden. Über den Internetdienst Twitter rief er seine Anhänger auf, das Ergebnis zu akzeptieren. »Fast die Hälfte des Landes hat mir geholfen, einen Weg zu ebnen«, teilte er mit und kündigte an: »Ich werde weiterarbeiten.« Damit hatte er Protesten seiner Anhänger den Boden entzogen. In der Parroquia El Recreo, einem Mittelschichtsviertel in Caracas, in dem er fast 64 Prozent der Stimmen erhalten hatte, herrschte am späten Sonntag abend gespenstische Stille. In den Tagen zuvor hatten die Oppositionellen hier schon ihren sicher geglaubten Sieg gefeiert oder mit Kochgeschirr Lärm gemacht, um gegen den Präsidenten Stimmung zu machen.

Einige der Regierungsgegner richten ihre Enttäuschung nun gegen die eigene Führung. Der katholische Priester José Palmar, ein radikaler Feind des Präsidenten (»Lieber Märtyrer werden als vor Chávez knien«), warf dem Oppositionsbündnis »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) vor, das veröffentlichte Wahlergebnis mit Chávez ausgehandelt zu haben: »Wir glauben weder dem CNE noch dem MUD oder sonst jemandem, der in seinem Gewissen Taschen aufhält, damit Chávez sie mit Geldscheinen füllt.« In Internetblogs oder auf der Videoplattform YouTube breiteten sich vor allem jüngere Oppositionelle über angebliche Manipulationen aus und konnten sich dabei auf den ultrarechten US-Fernsehsender Fox News berufen, der am Sonntag von »Betrugsvorwürfen in Venezuela« gesprochen hatte, »nachdem sich Hugo Chávez zum Sieger der Wiederwahl erklärt hat«.

In dieser Situation fühlte sich das Oppositionsbündnis gezwungen, an die Öffentlichkeit zu gehen. »Es gibt keinen Beweis für irgendeinen Betrug«, unterstrich MUD-Chef Ramón Guillermo Aveledo. »Wir sind geschlagen worden, wen sollten wir betrügen?« wies er Vorwürfe aus den eigenen Reihen zurück, Belege für Manipulationen zurückzuhalten. Er sei stolz auf die sechs Millionen Menschen, die für Capriles gestimmt hätten, »aber auch die acht Millionen, die Chávez gewählt haben, verdienen Respekt«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Oktober 2012


Kein Hinterland für Capriles

In Venezuelas ländlichen Regionen gewann Hugo Chávez noch klarer als in den Städten

Von Modaira Rubio, Barinas **


Es war die Ruhe nach dem Sturm. Obwohl der Montag ein normaler Arbeitstag war, blieben auch in den Städten der venezolanischen Provinz die meisten Geschäfte und Firmen geschlossen. »Es sieht hier heute aus wie am 25. Dezember«, sagte die Angestellte einer kleinen Buchhandlung in Barinas, einer 271000 Einwohner zählenden Stadt im Westen Venezuelas.

Vorangegangen war jedoch einer der härtesten Wahlkämpfe der vergangenen Jahre. Von den oppositionellen Medien waren wochenlang Aufrufe zur Gewalt und zur Nichtanerkennung der Wahlergebnisse verbreitet worden. Über Facebook, Twitter und andere Internetdienste wurde wieder einmal das alte Märchen von den »chavistischen Horden« verbreitet, die auf Motorrädern Oppositionelle angreifen würden. Zudem wurde mit Hilfe suspekter Meinungsforschungsinstitute der Eindruck erweckt, Hugo Chávez und Henrique Capriles Radonski würden nahezu gleichauf liegen. Dadurch sollte der Boden für Manipulationsvorwürfe bereitet werden. Doch was als Wahlkampfhilfe für die Rechte gedacht war, führte eher dazu, daß einige der Oppositionsanhänger aus Angst vor Ausschreitungen zu Hause blieben und nicht zur Wahl gingen. Doch die übergroße Mehrheit hat sich nicht manipulieren lassen.

Während sich die Wahlsieger am Montag von ihren Feiern ausruhten, verbreitete Präsident Chávez über Twitter, er habe mit Capriles telefoniert, was dieser kurz darauf bestätigte. Der wiedergewählte Staatschef lud seinen Kontrahenten zu »nationaler Einheit« ein, beide Seiten sollten ihre Differenzen respektieren. Doch ob sich Capriles auch über den Wahltag hinaus als zentrale Führungsperson der Opposition etablieren kann, als den ihn manche venezolanische und ausländische Zeitungen sehen, erscheint fraglich.

Im Wahlkampf konnte Capriles die Unterstützung von Venezolanern gewinnen, die in der einen oder anderen Frage mit der Regierung unzufrieden sind. Nach seiner Niederlage wird er mit diesen jedoch nicht mehr rechnen können. Zudem erweist sich die von den Regierungsgegnern beschworene »Einheit« als immer brüchiger. Capriles’ eigener Partei Primero Justicia (PJ), die eigenständig neben der Bündnisliste Unidad angetreten war, gelang es trotz einem mit riesigem materiellen Aufwand geführten Wahlkampf nicht, stärkste Liste der Regierungsgegner zu werden. Wie schon während der Kampagne, fehlten auch bei Capriles’ Pressekonferenz am Sonntag abend die Vertreter der sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) und anderer ähnlich ausgerichteter Parteien. Diese waren schon in den vergangenen Wochen spürbar auf Distanz zum Oppositionsbündnis gegangen, um zu vermeiden, daß dessen sich abzeichnende Niederlage bei der Präsidentschaftswahl ihre eigenen Ziele bei den im Dezember anstehenden Regionalwahlen in den Bundesstaaten gefährdet. Neun Wochen vor dieser nächsten Abstimmung wollen die Sozialdemokraten – die zur Wahl der Bündnisliste aufgerufen hatten – nicht mit einem Kandidaten in Verbindung gebracht werden, der in 22 der 24 Provinzen verloren hat und somit in ihren Augen zu einem »politischen Leichnam« geworden ist. Zurückgeworfen auf seine eigene Partei wird sich Capriles jedoch kaum als »der Führer der Hälfte der Venezolanerinnen und Venezolaner« inszenieren können. Sein Image als »reicher Junge« kam zudem vor allem außerhalb der großen Städte kaum an. In den eher ländlich geprägten Regionen gewann Chávez die Wahl oft mit 20 Prozentpunkten Abstand – im Bundesstaat Portuguesa sogar mit über 70 Prozent.

Nun läuft Capriles auch noch die Zeit davon. Da am Freitag die Einschreibefrist für die im Dezember stattfindenden Regionalwahlen abläuft, muß er sich bis dahin entscheiden, ob er erneut als Gouverneur des Bundesstaates Miranda antreten will, den er bislang regiert. Ein Heimspiel hatte er am Sonntag auch hier nicht: Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen unterlag er Chávez in Miranda mit 5000 Stimmen Unterschied.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Oktober 2012


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