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Chávez: Ein perfekter Sieg

Venezuelas Präsident erhält Mandat bis 2019

Von Jürgen Vogt, Caracas *

»Comandante« Chávez hat es wieder geschafft. Er bleibt Präsident in Venezuela und Führungsfigur der Linken in Lateinamerika. Nach dem Wahlsieg vom Sonntag nimmt er nun Kurs auf sein 20-jähriges Amtsjubiläum.

Der alte Schlachtruf wurde wieder überall skandiert: Uh, ah, Chávez no se va! Chávez wird nicht gehen! Was 2000, nach dem Putsch 2002 und auch nach den vorletzten Wahlen 2006 durch Venezuelas Straßen hallte, war auch Sonntagnacht unüberhörbar. Die Anhänger von Chávez, die Chavistas, hatten einmal mehr Grund zum Feiern: Wie die Nationale Wahlkommission in der Nacht zu Montag auf der Grundlage fast aller ausgezählten Wahlzettel mitteilte, erhielt Chávez 54,66 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer Henrique Capriles Radonski kam auf 44,73 Prozent. Zu der Wahl waren 18,8 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 81 Prozent. Der Wahlverlauf war friedlich. Die befürchteten gewalttätigen Auseinandersetzungen nach der Bekanntgabe des Ergebnisses blieben aus.

»Heute beginnt ein neues Zeitalter der bolivarianischen Revolution«, rief Venezuelas Präsident Hugo Chávez seinen jubelnden Anhängern zu. »Es war eine perfekte Schlacht und es war ein perfekter Sieg«, sagte der 58-Jährige. »Wir haben der Welt eine Lektion erteilt.« Für Chávez ist es der vierte Sieg bei einer Präsidentenwahl in Folge. Selbstkritisch versprach er, jeden Tag ein besserer Präsident zu sein. Seine kommende sechsjährige Amtszeit beginnt im Januar 2013 und endet 2019.

Oppositionskandidat Henrique Capriles gestand seine Niederlage ohne Wenn und Aber ein. Man müsse verlieren können, um zu gewinnen, sagte der 40-Jährige seinen enttäuschten Anhängern. Capriles sagte, er respektiere die Entscheidung des Volkes. Aber er warnte auch: »Ich hoffe, dass eine Regierung nach 14 Jahren versteht, dass die Hälfte dieses Landes nicht an ihr Projekt glaubt.« Doch hier täuschte sich der Jurist, denn rechnerisch und faktisch folgte am Sonntag eben doch etwas mehr als die Hälfte der Wähler dem Sozialismus-Projekt von Chávez, der nun bis 2019 Zeit hat, die Bolivarianische Revolution voranzutreiben. Bis zum Schluss hatten die Anhänger von Capriles mit einem knappen Sieg gerechnet. Doch am Wahlabend herrschte in und vor seiner Wahlkampfzentrale gedrückte Stimmung. Und als die Titel der spanischen Zeitungen noch vor der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse den Sieg von Chávez meldeten, gingen die Ersten frustriert nach Hause.

Dagegen brannten Chávez-Anhänger ein Feuerwerk über dem Himmel von Caracas ab. »Wir wollen die Stimmen der Minderheit respektieren«, sagte Hugo Chávez und dankte der Opposition für »die Anerkennung des Sieges der bolivarianischen Revolution.« Das sei ein Schritt in die richtige Richtung zum friedlichen Miteinander. In der Tat verliefen die Wahlen allen Unkenrufen und der Polarisierung zum Trotz friedlich. Ein guter Anfang für Chávez' neue Amtszeit.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 09. Oktober 2012


Venezuela feiert Chávez

Wahlsieg für die sozialistische Revolution. 55 Prozent stimmen für den amtierenden Präsidenten. Zehntausende jubeln im Zentrum der Hauptstadt.

Von André Scheer, Caracas **


Zehntausende Menschen sind am Sonntag abend (Ortszeit) in das Stadtzentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas geströmt, um den Sieg ihres Präsidenten Hugo Chávez zu feiern. Kurz zuvor hatte der Nationale Wahlrat (CNE), die oberste Wahlbehörde des süd-amerikanischen Landes, nach Auszählung von 90 Prozent der Stimmen, das erste offizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahl bekanntgegeben. Bei einer Rekordbeteiligung von über 80 Prozent wählten demnach 54,42 Prozent der Wähler (7444062 Stimmen) den Amtsinhaber. Herausforderer Henrique Capriles Radonski kam auf 6151544 Stimmen (44,97 Prozent) und erkannte wenig später seine Niederlage an. In mindestens 20 der 24 Bundesstaaten Venezuelas konnte sich Chávez durchsetzen. Nach Auszählung von 98 Prozent der Wählerstimmen kam Chávez sogar auf 55 Prozent.

Von einem Balkon des Präsidentenpalastes aus begrüßte Chávez die Haltung der Opposition, die das Ergebnis anerkannt hatte. »Ich reiche euch diese beiden Hände und dieses Herz, denn wir alle sind Geschwister im Heimatland Bolívars«, erklärte der Wahlsieger. Mehr als acht Millionen Menschen, so der Staatschef mit Blick auf die endgültigen Zahlen, hätten für die Revolution, den Sozialismus und ein großartiges Venezuela gestimmt. »Heute haben wir demonstriert, daß unsere Demokratie eine der besten Demokratien der Welt ist, und das werden wir auch weiterhin beweisen«, rief er den jubelnden Menschen zu. Die Entscheidung des venezolanischen Volkes garantiere die Fortsetzung des von ihm geführten sozialistischen Projekts, dessen Ziel »das größtmögliche Glück für das Volk« sei. »Es wird keine imperialistische Kraft geben, so groß sie auch sein mag, die es mit dem Volk von Simón Bolívar aufnehmen kann.« Venezuela werde niemals in den Neoliberalismus zurückgeworfen werden, sondern weiter den Bolivarischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufbauen.

Der Wahltag hatte in Venezuela bereits früh um drei Uhr morgens begonnen. Lautstark schmetterten Lautsprecherwagen, Blasorchester oder Stereoanlagen in Fenstern Fanfaren in die dunkle Nacht hinaus. Diese »Toque de Diana« ist das traditionelle Signal für die Chavisten, möglichst früh zur Wahl zu gehen. Tatsächlich bildeten sich kurz darauf schon lange Schlangen vor den Wahllokalen, die um sechs Uhr morgens öffneten. Sowohl Regierungsanhänger als auch Oppositionelle strömten zu ihren Abstimmungsstätten, denn auch letztere waren dank entsprechender Berichterstattung der großen Massenmedien im In- und Ausland von ihrem Sieg überzeugt. Bereits gegen Mittag hatten etwa im größten Wahllokal des Landes, dem Liceo Andrés Bello im Zentrum von Caracas mit 14000 Wahlberechtigten, rund 75 Prozent ihre Stimme abgegeben, wie ein Sprecher des dortigen Wahlvorstands gegenüber junge Welt berichtete.

Alle staatlichen Stellen hoben den weitgehend störungsfreien Verlauf des Tages hervor. Auch unter den Jubelnden war die Erleichterung spürbar. Schon am frühen Nachmittag zogen Konvois von Motorradfahrern und Autos mit roten Fahnen und Hupkonzerten ihre Runden durch die Innenstadt. Viele hatten im Vorfeld befürchtet, daß die Opposition mit Manipulationsvorwürfen für Unruhen sorgen könnte. »Die wollen Krieg, es wird knallen«, hatten Chávez-Anhänger noch am Samstag gegenüber jW gewarnt.

Am späten Abend wurden dann die Gesichter der Oppositionsvertreter im Fernsehen immer länger, während Jorge Rodríguez, der Chef von Chávez’ Wahlkampfstab, sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte und bereits Stunden vor den ersten offiziellen Zahlen von einem »historischen Tag« sprach. Ab etwa 20 Uhr Ortszeit verdichteten sich die Hinweise auf den Ausgang der Abstimmung, wie jW im Online Spezial exklusiv berichten konnte. Am Präsidentenpalast wurde eine Bühne aufgebaut. In der Umgebung sammelten sich da schon die ersten Feiernden. Und als dann CNE-Chefin Tibisay Lucena das offizielle Ergebnis bekanntgab, kannte der Jubel keine Grenzen mehr.

Zu den ersten Gratulanten Chávez’ gehörten Kubas Präsident Raúl Castro, Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández und Kolumbiens Staatschef Juan Manuel Santos. Demgegenüber hatte die deutsche Bundesregierung vor dem Wahltag eine Reisewarnung für Venezuela ausgesprochen.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 09. Oktober 2012


Sieg für die Massen

Hugo Chávez bleibt Präsident

Von André Scheer, Caracas ***


Das Wahlergebnis in Venezuela ist keine Überraschung. Zahlreiche Meinungsforschungsinstitute hatten in den vergangenen Wochen und Monaten vorhergesagt, daß sich Amtsinhaber Hugo Chávez mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung gegen den oppositionellen Herausforderer Henrique Capriles Radonski durchsetzen würde. Der Vorsprung von Chávez blieb auch während des gesamten Wahlkampfs weitgehend konstant. Trotzdem gelang es den Regierungsgegnern, ihnen nahestehenden Medien in Venezuela und internationalen Medienkonzernen und Nachrichtenagenturen, den Eindruck eines »Kopf-an-Kopf-Rennens« zu erwecken. Noch am Sonntag schrieben deutsche Medien vom »letzten Kampf des Comandante«, der vom »jungen« Capriles geschlagen werden könnte.

Das venezolanische Volk hat es ihnen gezeigt. Während in den sich ach so demokratisch dünkenden Staaten Europas oder in den USA die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen immer weiter zurückgeht, verzeichnete Venezuela eine Rekordbeteiligung von mehr als 80 Prozent.

Die Wählerinnen und Wähler des südamerikanischen Landes wollen nicht, daß Venezuela zurückgeworfen wird in Zeiten, in denen es nicht viel mehr als Rohstofflieferant für die USA war, in denen es sich eine kleine Oberschicht gut gehen ließ, während die Mehrheit hungerte und im Elend hauste. Sie haben erkannt, daß sie inzwischen viel zu verlieren haben: kostenfreie medizinische Versorgung, kostenfreie Bildungsprogramme, Infrastrukturprogramme im Interesse der einfachen Menschen, internationale Kooperation mit den Nachbarländern.

Auch ein Großteil der venezolanischen Mittelschicht, die ideologisch mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft wenig anfangen kann, hat erkannt, daß Chávez inzwischen sogar für »konservative« Werte wie Stabilität und Ordnung steht. Hätte sich Henrique Capriles Radonski durchgesetzt, wäre es mit ziemlicher Sicherheit zu Unruhen gekommen. Im Wahlkampf war sein geheimes Wirtschaftsprogramm bekanntgeworden: Privatisierungen, Aufkündigung der internationalen Partnerschaften. Die Menschen hätten sich jedoch die Errungenschaften ihrer Bolivarischen Revolution nicht widerstandslos nehmen lassen. Venezuela wäre zurückgeworfen worden in Zeiten des »Caracazo«, des blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1989.

Doch richtig ist auch: Die Opposition hat im Vergleich zu 2004 oder 2006 Boden gegenüber der Regierung gutgemacht. Ein Grund dafür ist die weitverbreitete Unzufriedenheit mit Korruption und Ineffizienz des Staatsapparats, die es zwar auch schon vor Chávez gab, die aber inzwischen – und nach 13 Jahren: mit Recht – dem Amtsinhaber angelastet werden. Es wird darauf ankommen, daß es der bolivarischen Bewegung endlich gelingt, diesen »schlimmsten Feind in unseren eigenen Reihen« (Chávez) tatsächlich zurückzudrängen. Die Voraussetzung dafür – eine Fortsetzung des von Hugo Chávez geführten revolutionären Prozesses – haben die Venezolanerinnen und Venezolaner am Sonntag geschaffen.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 09. Oktober 2012 (Kommentar)


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