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Mehrheit für Sozialismus

Von Helge Buttkereit, Caracas, und André Scheer

Die von Venezuelas Präsident Hugo Chávez gegründete Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) bleibt die stärkste Kraft in dem südamerikanischen Land. Bei den Parlamentswahlen am Sonntag holte sie im Bündnis mit der Kommunistischen Partei (PCV) und kleineren Organisationen vorläufigen offiziellen Angaben des Nationalen Wahlrats (CNE) zufolge mindestens 95 der 165 Sitze in der Nationalversammlung. Die Opposition, die vor fünf Jahren die Abstimmung boykottiert hatte, erreichte demnach 65 Sitze. Zwei Mandate ergatterte die Partei Heimatland für alle (PPT), die zu Jahresbeginn aus der Regierungskoalition ausgeschert war und sich im Wahlkampf als »dritte Kraft« präsentierte. Damit verfehlten die Linken ihr proklamiertes Ziel deutlich, eine Zweidrittelmehrheit von 110 Abgeordneten im Parlament zu erreichen. Diese Mehrheit wäre nötig gewesen, um wichtige Gesetze zu verabschieden oder zu ändern. Außerdem ermöglicht eine solche Mehrheit die Kontrolle über die nationale Wahlbehörde und den Obersten Gerichtshof, deren Mitglieder mit einer solchen Mehrheit gewählt werden.

Der Wahltag hatte für viele Venezolaner schon sehr früh begonnen. In Caracas wurden sie von Unterstützern der Regierungskoalition mit Fanfaren, lauter Musik und Feuerwerk geweckt. Bereits in den Morgenstunden bildeten sich lange Schlangen an den Wahllokalen, die Stimmung war ruhig, aber angespannt. Wie jW feststellen konnte, arbeiteten die Beobachter einträchtig zusammen. Sie erklärten auf Nachfrage, daß es keine größeren Probleme und insbesondere keine Beeinflussung von außen gegeben habe. Auch landesweit wurden außer ein paar defekten Wahlcomputern, die meist schnell repariert werden konnten, keine größeren Unregelmäßigkeiten gemeldet. Nach Bekanntgabe der ersten vorläufigen offiziellen Ergebnisse gegen zwei Uhr in der Nacht zum Montag (Ortszeit) versammelten sich am Präsidentenpalast Miraflores in Caracas zahlreiche Anhänger des linken Bündnisses, um gemeinsam ihren Erfolg zu feiern.

Präsident Chávez nannte das Ergebnis in einer ersten Reaktion eine »solide Mehrheit«, die es ermöglichen werde, den »bolivarischen und demokratischen Sozialismus« weiter zu festigen. María Corina Machado vom Oppositionsbündnis »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) behauptete hingegen, Chávez habe die Parlamentswahl zu einem Referendum über seine Person gemacht »und verloren«. Die Kommunistische Partei ihrerseits bewertete den Erfolg der Allianz mit der PSUV als einen Sieg der Demokratie, was vor allem an der großen Wahlbeteiligung abzulesen sei. Mit knapp 66,5 Prozent der in den Wahllisten registrieren Venezolaner stimmte tatsächlich eine so große Zahl der Berechtigten ab, wie sie sonst nur bei Präsidentschaftswahlen erreicht wird.

Der Wahlkampfchef der PSUV, Aristóbulo Istúriz, erinnerte daran, daß die Opposition über mehr als 80 Abgeordnete verfügt habe, bevor sie durch »einen politischen Fehler« - den Boykott bei der letzten Wahl - aus der Nationalversammlung verschwunden war. Nun läge sie deutlich darunter, »ich verstehe nicht, warum sie das einen Erfolg nennen können«.

* Aus: junge Welt, 28. September 2010


Letzte Warnung

Parlamentswahl in Venezuela

Von André Scheer **


Venezuelas Opposition feiert einen Sieg, obwohl das Regierungslager bei der Parlamentswahl am Sonntag eine deutliche absolute Mehrheit erringen konnte. Das ist absurd, aber auch die überschwenglichen Freudenfeiern der von Präsident Hugo Chávez gegründeten und geführten Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) lenken von der eigentlichen Botschaft des Wahlergebnisses ab.

Durch die Verweigerung einer Zweidrittelmehrheit für die Regierung haben die Wähler in Venezuela die Konsequenz aus der kaum berauschenden Bilanz der Parlamentarier in der abgelaufenen Wahlperiode gezogen. Durch den Wahlboykott der Opposition vor fünf Jahren verfügten die Sozialisten und ihre Verbündeten über eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung, die sie jedoch kaum zu nutzen verstanden. Sie verschwendeten Zeit durch die Verabschiedung unzähliger Deklarationen, anstatt die Situation im Parlament zu nutzen, um den Aufbau des Sozialismus in Gesetzesform zu gießen und institutionell zu untermauern. Und sie verschleppten wichtige Gesetze, wie das dringend notwendige neue Arbeitsgesetz, das seit Jahren in den Ausschüssen vor sich hindümpelt.

Die Stärke des revolutionären Lagers ist bislang die Schwäche der Opposition. Das heterogene Gemenge aus ultrarechten Terroristen, konterrevolutionären Sozialdemokraten, neoliberalen Emporkömmlingen und ähnlichen Erscheinungen wird nach wie vor nur durch den gemeinsamen Haß auf Chávez zusammengehalten. Es gelingt ihr weder, konstruktive Alternativen zu präsentieren, noch eine Führungspersönlichkeit aufzubauen, die Chávez bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2012 gefährlich werden könnte. Doch darauf kann sich die PSUV nicht ausruhen. Zu sehr wächst unter vielen Venezolanern der Unmut über ineffiziente Strukturen und ungelöste Probleme wie Korrup­tion und Kriminalität.

Die Regierungspartei lag wohl auch deshalb bei dieser Wahl nur wenige Stimmen vor der Opposi­tion und verfehlte sogar recht deutlich die 50-Prozent-Marke. Durch den Zuschnitt der Wahlbezirke spiegelt sich dies bei der Sitzverteilung im Parlament nicht wider, doch bei der nächsten Präsidentschaftswahl oder einem erneuten Amtsenthebungsreferendum gegen Chávez könnte dies verheerende Folgen haben. Zu sehr hängt der gesamte revolutionäre Prozeß noch immer an der Persönlichkeit des »Comandante«, die vielen wichtigen Ansätze einer partizipativen Demokratie - einer direkten Mit- und Selbstbestimmung durch die Bevölkerung - sind noch immer nicht ausreichend gefestigt.

Das Ergebnis vom Sonntag könnte die letzte Warnung gewesen sein. Schon vor drei Jahren - nach der Niederlage bei der Abstimmung über die Verfassungsreform - hatte Chávez zu einer Kampagne aufgerufen, Fehler zu berichtigen und der Revolution neuen Schwung zu verleihen. Bisher ist daraus zu wenig geworden.

** Aus: junge Welt, 28. September 2010


Warnung für Chávez

Von Helge Buttkereit, Caracas ***

Es ist kein »großer sozialistischer Sieg«, wie es die staatliche venezolanische Nachrichtenagentur ABN gestern meldete. Der Sieg der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) bei den Parlamentswahlen ist ein Sieg. Mehr nicht. Denn das Ziel, die Zwei-Drittel-Mehrheit, wurde deutlich verfehlt. Das müssen auch diejenigen anerkennen, die sich einen Fortschritt in Richtung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts wünschen.

Präsident Hugo Chávez und insbesondere seine Partei müssen zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen 2012 die Lehre aus dieser Abstimmung ziehen, bei der es wieder einmal nicht gelungen ist, alle sieben Millionen Mitglieder der PSUV zu mobilisieren. Bislang hetzte die Partei von Kampagne zu Kampagne und hatte für Grundsatzdiskussionen kaum Zeit. Die zwei Jahre bis zur Präsidentschaftswahl müssen genutzt werden, die innerparteiliche Debatte über den weiteren Weg des Landes überhaupt erst einmal aufzunehmen. Derzeit wird die Richtung nahezu allein von Chávez vorgegeben. Er selber müsste Interesse daran haben, sein Projekt auf ein breiteres Fundament zu stellen und die Probleme wie Korruption und Misswirtschaft in den eigenen Reihen zu lösen. Gelingt das nicht und baut die Opposition im Parlament bis 2012 einen charismatischen Gegenspieler auf, sind die Wiederwahl des Präsidenten und das ganze Projekt akut gefährdet.

*** Aus: Neues Deutschland, 28. September 2010 (Kommentar)


Weitere Pressestimmen

So gespalten wie die Bevölkerung in Venezuela sind auch die Medien. Neben mit Chávez sympathisierenden Blättern - wir haben sie oben schon zu Wort kommen lassen - ist der Mainstream der veröffentlichten Meinung eher auf der Seite der Opposition zu finden. Davon zeugt die Auswahl von Pressestimmen, die sich auf der Seite des Deutschlandfunks befinden.

EL UNIVERSAL aus Caracas fasst das Ergebnis folgendermaßen zusammen:
"Wie vorausgesehen haben die Kandidaten der Sozialistischen Partei mehr Stimmen erhalten als sie verdienen, weniger als sie sich erhofften und mehr Sitze bekommen als angemessen. So hat die Partei zum Beispiel in Caracas mit 50 Prozent der Stimmen 70 Prozent der Sitze erhalten. Die Abgeordneten der Sozialisten besitzen in den Augen des Volkes weniger Legitimität als die der Opposition. Dennoch wird die Regierung weiter bei jeder Gelegenheit schreien: Beleidigung! Präsidentenmord! Sabotage! Aber ihr wird deutlich bewusst sein, dass jeder dritte Venezolaner nicht mehr hinter ihr steht - weder wenn sie den Dialog verweigert und Gegner vernichtet, noch was ihren unversöhnlichen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus betrifft", betont EL UNIVERSAL aus Venezuela.


"Chávez sind demokratische Zügel angelegt worden", urteilt DER STANDARD aus Wien.
"Schon im Vorfeld der Wahl gab es einiges, das manchen Wähler aufschreckte. Etwa kam der deutliche Mandatüberhang der Regierung durch ein Zurechtschneidern der Wahlbezirke zustande, das Regierungskandidaten klar begünstigte. Chávez hat seinen Mangel an demokratischer Gesinnung hinreichend bewiesen."


"Die Venezolaner haben die Wahlen genutzt, um das Regime von Chávez abzustrafen", bilanziert EL TIEMPO aus Kolumbien:
"Für ihn war das in Wirklichkeit ein Pyrrhus-Sieg, auch wenn der Präsident das Ergebnis in gewohnter Manier als Abstimmung zu seinen Gunsten wertete. Die Wahlen vom Sonntag könnten damit zu einem Wendepunkt werden. Die Oppositionsbewegung hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, die Wähler zu mobilisieren. Als Nächstes steht sie vor der Herausforderung, ein Gegengewicht in der Nationalversammlung zu bilden und einen Kandidaten aufzubauen, der Chávez bei der Präsidentschaftswahl 2012 herausfordern könnte. Die Botschaft der Venezolaner ist klar: Sie sind in Massen zu den Urnen geströmt und haben gezeigt, dass das demokratische System nicht tot ist", freut sich EL TIEMPO aus Bogotá.


Die spanische Zeitung ABC aus Madrid äußert sich etwas skeptischer:
"Der Erfolg der Opposition wird leider nicht ausreichen, Chávez von seinen revolutionären Spinnereien abzubringen. Die Chávez-Gegner müssen sich nun auf die Präsidentenwahl 2012 vorbereiten. Sie können das Parlament als Bühne für einen gemeinsamen Gegenkandidaten nutzen, der gegen Chávez gewinnen und damit verhindern kann, dass dieser das Land mit seinem totalitären Wahn zerstört."


Und die ebenfalls in Madrid erscheinende Zeitung EL PAIS konstatiert:
"Chávez ist immer noch der mit Abstand beliebteste Politiker Venezuelas. Doch weder seine Macht über die Institutionen, noch sein radikaler Populismus, noch seine entlarvende Rhetorik erscheinen mehr ausreichend, um die Bürger von den Problemen des Landes abzulenken: eine astronomisch hohe Kriminalitätsrate, eine anhaltende Rezession und eine mangelhafte Grundversorgung bei öffentlichen Dienstleistungen und Gütern."

Quelle: Deutschlandfunk, 28. September 2010 (Presseschau); www.dradio.de


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