Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von Haus zu Haus

Unterwegs mit Kandidaten der Sozialistischen Partei beim Wahlkampf in Venezuela

Von Helge Buttkereit, Caracas *

Der Lautsprecherwagen verkündet in ohrenbetäubender Lautstärke: »Das Volk in die Nationalversammlung!« Das Volk wird in diesem Fall repräsentiert von Da­rio Vivas und Juan Carlos Alemán. Die beiden Abgeordneten wollen wieder ins venezolanische Parlament. Jetzt sitzen sie jedoch noch in einem weißen Jeep mit komplett getönten Scheiben und bereiten sich auf ihren Einsatz vor. Die Aktivisten der Partei sind bereits in Aktion getreten: Ein Einheizer preist die Kandidaten an. Immer wieder: »Vivas und Alemán ins Parlament, damit die Revolution weitergeht!« Neben dem Lautsprecherwagen werden rote T-Shirts verteilt. Das ist im Troß von Vivas, dem derzeitigen Vizepräsidenten der Nationalversammlung, die Einheitstracht.

Bevor die Tour in rot durch El Paraíso im Westen von Caracas beginnt, werden die Helfer verpflegt. Jeder bekommt ein belegtes Baguette, dazu ein kleines Päckchen Pfirsich-Nektar. Bei der PSUV, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas, ist alles gut organisiert. Fahrer bringen die Unterstützer von der Metro an den Hang, und als die Trommelgruppe ankommt, erscheinen auch die Kandidaten. Am Lastwagen mit Kokosnüssen direkt unterhalb der Treppe hoch ins Barrio, wie die armen Viertel in den Städten Venezuelas genannt werden, machen sie halt. Erstmal müssen die Unterstützer begrüßt und Kokosnüsse ausgeschlürft werden. Vivas und Alemán verteilen sie selbst unter den Genossen. Sie sind auf Volksnähe bedacht. Während Alemán dabei mit PSUV-Mütze und T-Shirt kaum auffällt, wirkt Vivas in seinem roten zugeknüpften Hemd wie ein freundlicher, aber etwas distanzierter Onkel.

Als sich die Gruppe, angekündigt von lauten Trommelschlägen, langsam in Bewegung setzt, nimmt Vivas die Regie in die Hand. Kameras nach oben, darunter die Trommler, dann er und Alemán. Hinter ihnen die Unterstützer mit ihren roten Shirts und den Fahnen. Bevor die Kandidaten von Haus zu Haus gehen, wird posiert. Als auf der engen Treppe endlich alles hergerichtet ist, die Kameras und Aktivisten in Stellung gebracht sind, werden Fahnen geschwenkt und Sprechchöre skandiert. »Dario und Aléman in die Asamblea« heißt es wieder. Inhaltlich wird es nicht. Ohnehin ist der Wahlkampf auf die Auseinandersetzung zwischen der Regierungspartei auf der einen und der rechten Opposition auf der anderen Seite polarisiert. Es geht für oder gegen die Revolution.

Nach der Einganspose geht es von Haus zu Haus, »casa por casa«. So heißt diese Art des Wahlkampfes. Vivas und Alemán verteilen Zettel, auf denen sie beide Präsident Hugo Chávez einrahmen. Während der Präsident die Sympathien der Mehrheit genießt, ist das mit den Kandidaten schwieriger. Viele hier wirken reserviert, während die Kandidaten Stufe und Stufe hinaufsteigen und Hände schütteln. Die Armut ist hier allgegenwärtig, die Häuser kreuz und quer in den Hang gebaut. Allein die Treppe ordnet das Chaos. Es wirkt sehr beengt, den herrlichen Ausblick über die Hauptstadt Venezuelas können die Bewohner kaum genießen. Er ist verbunden mit der täglichen Mühsal, die Treppen hinunter- und wieder hinaufsteigen zu müssen, wollen sie in die Stadt oder auch nur auf der Hauptstraßen einkaufen.

Während die Haupttreppe noch recht breit ist, wird es an deren Ende eng. Dort werden die Kandidaten von ihrer örtlichen Führerin an einen Abhang gebracht. Die Häuser stehen viel zu dicht am Rand, sind von Erdrutschen stark gefährdet. »Da muß der Consejo Comunal, der Kommunale Rat, aktiv werden«, sagt Vivas und erklärt den örtlichen Aktivisten die einzelnen Schritte. Er kennt sich aus, war in der Nationalversammlung verantwortlich für die Verabschiedung des jüngsten Gesetzes zur Beteiligung dieser Kommunalen Räte, die seit etwa vier Jahren in Venezuela überall entstehen. Auf seiner Tour von Haus zu Haus hört sich Vivas die Sorgen der Barriobewohner an, wird von vielen in die ärmlichen Hütten, die sogenannten Ranchos, gebeten. Die Verbindung zwischen Basis und ihren Repräsentanten in der Nationalversammlung, die immer wieder angemahnt wird, ist im Wahlkampf zum Teil verwirklicht. Diese zu erhalten und auszubauen, wird eine der wichtigsten Aufgaben der PSUV-Abgeordneten in der Nationalversammlung sein.

Viele der Abgeordneten wie auch andere Repräsentanten der mittleren und höheren Führungsebene von Staat und Partei gelten jedoch als korrupt. Auch gegen Vivas wurden Vorwürfe erhoben, aber bewiesen wurde nichts. Für die Zukunft kommt es neben der Bekämpfung der Korruption auch auf die Vertiefung des Protagonismus, die Beteiligung der Menschen, an. »Casa por casa« war da nur ein Anfang. Schon jetzt war die Zurückhaltung bei einigen Menschen zu spüren. Sie sind skeptisch. Gelingt es Vivas, Alemán und den anderen neuen Abgeordneten nicht, die Verbindung zu ihnen aufrechtzuerhalten, wäre das für den bolivarischen Prozeß auch bei gewonnener Wahl ein Rückschritt.

* Aus: junge Welt, 24. September 2010


"Die wichtigsten Wahlen der letzten zehn Jahre"

In Venezuela diskutiert die Basis die Gesetze, die im Parlament beschlossen werden sollen. Gespräch mit Juan Contreras **

Juan Contreras ist Ersatzkandidat der Allianz von PSUV und PCV in Caracas für die Parlamentswahl am Sonntag und Mitglied der »Coordinadora Simón Bolívar« im Stadtviertel 23 de Enero.

Welche Bedeutung hat die Parlamentswahl am Sonntag für die Basisbewegungen in Venezuela?

Sie ist wichtig für das ganze Volk. Wir werden entscheiden, welches demokratische System wir wollen. Wir sind das Volk Venezuelas, wir sind die Söhne Bolívars und wir wollen eine protagonistische, partizipative Demokratie. Ich neige dazu zu sagen, daß die Wahlen die wichtigsten der vergangenen zehn Jahre sind.

Warum?

Es geht darum, ob der Prozeß des Aufbaus des Sozialismus weitergeht, ob der Aufbau der partizipativen Demokratie und der Volksmacht voranschreitet und die soziale Gerechtigkeit im Volk durchgesetzt wird. Die Alternative ist der Weg zurück in die Vergangenheit, aber wir werden niemals zurückgehen!

Wie kann die Verbindung des Volkes mit den Abgeordneten nach der Wahl aufrechterhalten werden?

Die Volksbewegung hat die Kandidaten ausgewählt und sie garantiert die Verbindung. Ich beispielsweise kandidiere für den Bezirk Nummer Zwei in Caracas. Hier gab es 77 Anwärter, davon blieben zwei übrig. Einer davon bin ich. Ich komme aus der Basis, aus der Volksbewegung, und habe ein Leben im Kampf geführt. Deshalb ist klar, daß es eine Verbindung zwischen der Nationalversammlung und der Basis gibt. Dort werden Gesetze verabschiedet, die den Protagonismus des Volkes unterstützen, zum Beispiel das Gesetz für die Kommunen, das Gesetz der Kommunalen Räte oder das Gesetz der lokalen Banken. Die Abgeordneten unterstützen die Volksmacht, die sich von unten aufbaut und artikuliert.

Wie kann die Basis konkret Einfluß auf die Gesetze nehmen?

Früher war die Gesetzgebung an eine Elite delegiert. Heute hingegen verstehen die Leute, was passiert, denn die Volksmacht ist von der Basis her konstituiert, ausgehend von den Kommunalen Räten. Die Leute an der Basis kennen sich am besten in den Fragen von Sicherheit, Gesundheit, Ausbildung aus, und die Gesetze bilden sich in der Diskussion unter Beteiligung unserer Leute. Unsere Barrios haben sich in politische Foren verwandelt, genauso wie die Nationalversammlung ein politisches Forum ist.

Wie meinen Sie das?

Durch die Debatte kann sich die ganze Gemeinde zu einem politischen Forum entwickeln. Man muß kein Spezialist sein, sondern man braucht die Motivation, sich als Teil des Prozesses zu fühlen, und man muß sich mit dem Barrio identifizieren, die Probleme kennen und die Debatte bereichern, damit die richtigen Gesetze verabschiedet werden. Das ist ein revolutionärer Prozeß mit Beteiligung der Massen.

Wir haben jetzt nur über die organisierte Volksmacht gesprochen, für einen Sozialismus braucht es aber auch ein verändertes Wirtschaftsmodell.

Das ist richtig. Es gibt kein Rezept zum Aufbau des Sozialismus im Kapitalismus. Man muß im Prozeß schauen, was zu machen ist. Wir müssen eine Wirtschaft aufbauen, die die Bedürfnisse befriedigen kann. Wir wissen jetzt in etwa, wie es funktioniert, die Menschen sozial zu organisieren. Jetzt kommt es darauf an zu lernen, wie wir den Prozeß ökonomisch vorantreiben können.

Interview: Helge Buttkereit, Caracas

** Aus: junge Welt, 24. September 2010


Ziel ist eine Zweidrittelmehrheit

Für die Unterstützer des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez geht es bei der Parlamentswahl am Sonntag (26. Sep.) um die Zweidrittelmehrheit. Mit dieser können sogenannte Organgesetze verabschiedet werden, die auch nur mit einer solchen Mehrheit wieder zurückgenommen werden können.

Für jeden Wahlkreis gibt es je nach Größe ein oder zwei Abgeordnete, und in jedem Bundesstaat zudem pro Partei oder Allianz eine Liste. Insgesamt sind 110 Direkt- und 52 Listenkandidaten zu wählen. Drei weitere Abgeordnete vertreten die indigenen Minderheiten.

Das Wahlrecht mit dem Schwerpunkt auf die Direktmandate förderte die Bildung von Wahlallianzen. Die Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) des Präsidenten tritt deshalb bei der Wahl gemeinsam mit der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) sowie weiteren kleineren Organisationen an. Während die PSUV erst nach dem Wahlsieg 2006 gegründet wurde, um die Parteien des Regierungslagers zu vereinigen, und derzeit vor allem eine Wahlkampfmaschine ist, kann die Kommunistische Partei im kommenden Jahr bereits den 80. Jahrestag ihrer Entstehung begehen.

Die Opposition hat sich zum »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) zusammengeschlossen, den nur die Gegnerschaft zum Präsidenten eint. Er umfaßt neue und alte Parteien der Rechten wie die ehemalige christsoziale Regierungspartei COPEI oder Primero Justicia (PJ) bis hin zur sozialdemokratischen Acción Democrática (AD), der zweiten entscheidenden Partei der Jahre 1958 bis 1998. Auch die ebenfalls sozialdemokratisch orientierte PODEMOS, die als einzige Partei aus dem Bündnis derzeit mit Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten ist, hat sie der MUD angeschlossen. Während die rechte Opposition die Wahl 2006 boykottiert hatte, war PODEMOS bis zum Verfassungsreferendum 2007 Teil der Allianz, die den Präsidenten unterstützte. Erst Anfang 2010 hat hingegen die Patria Para Todos (PPT) ihr Bündnis mit der PSUV aufgekündigt und will außerhalb des »Tisches« dritte Kraft im Parlament werden. (hb)

*** Aus: junge Welt, 24. September 2010


Zurück zur Venezuela-Seite

Zurück zur Homepage