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Verlockung des Nützlichen / Chávez Restyles Venezuela With '21st-Century Socialism'

Venezuela: Besetzte Betriebe, Enteignungen und Arbeitermitverwaltung - Präsident Chávez denkt an die "Wende zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts"

Von Dario Azzellini*

Hundertsechsunddreißig stillgelegte Betriebe würden derzeit überprüft, um sie vielleicht zu enteignen, meinte jüngst Präsident Chávez in seiner wöchentlichen TV-Sendung Aló Presidente. Brach liegende Firmen seien genauso schädlich wie brach liegendes Land.

Gerade war eine seit neun Jahren stillgelegte Kakaofarm von früheren Angestellten mit einem Regierungskredit gekauft und in eine Unión Cooperativa Agroindustrial del Cacao verwandelt worden. Die entstandene Kooperative sei exemplarisch für die neu ausgerufenen "Unternehmen sozialer Produktion" (EPS), so der Staatschef, mit denen man die "wirtschaftliche Wende in Richtung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu vollziehen gedenke. Chávez verlas dann die Namen von Firmen, deren Enteignung geprüft werde, weil sie ihre Produktion teilweise oder gänzlich eingestellt hätten. Immerhin 1.149 Betriebe. Gäbe es noch mehr - die Venezolaner sollten es umgehend melden.

Arbeitsministerin María Cristina Iglesias: Die Unternehmen "zurückerobern"

Artikel 115 der Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela ermöglicht es dem Staat, in bestimmten Fällen Enteignungen vorzunehmen. Es heißt dort: "Das Recht auf Eigentum wird garantiert. Jede Person hat das Recht auf Nutzung, Genuss und Verfügung ihrer Güter. Das Eigentum wird den Abgaben, Einschränkungen und Verpflichtungen unterworfen sein, die das Gesetz mit dem Ziel des öffentlichen Nutzens und im allgemeinem Interesse festlegt." Es könne, so weiter, im öffentlichen Interesse sein, bei angemessener Kompensation "jede Art von Gütern zu enteignen".

Es war der Unternehmerstreik Ende 2002, der das Thema mit aller Wucht auf die Tagesordnung brachte. Wer Betriebe besetzt hielt, konnte auf die Unterstützung des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes Unión Nacional de Trabajadores (UNT) rechnen, während der offen regierungsfeindliche Dachverband Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV) gegen die "illegalen Aktionen" protestierte. Die Regierung selbst zögerte noch, mit der Verfassung im Rücken Enteignungen anzuordnen.

Obwohl Venezuelas neue Konstitution bereits seit 2000 in Kraft getreten ist, gab es bis vor kurzem erst zwei spektakuläre Enteignungen, sie betrafen die Papierfabrik Venepal und die Constructora Nacional de Válvulas (CNV), ein Produzent von Ventilen für die Erdölindustrie. Ab Juli 2005 änderte sich die Lage jedoch schlagartig, die Regierung richtete ihr Augenmerk auf Hunderte - zumeist von ihren Eigentümern - stillgelegte Betriebe. Ende September erklärte die Nationalversammlung die Zuckerrohrverarbeitungszentrale von Cumanacoa und den Rohrhersteller Sidororca zu Unternehmen "von öffentlichem Interesse" und leitete damit die Enteignung ein. Arbeitsministerin María Cristina Iglesias rief parallel dazu ehemalige Beschäftigte der von Hugo Chávez genannten Firmen dazu auf, die Unternehmen "zurückzuerobern".

Die Gewerkschaft UNT signalisierte Beistand und verlangte von der Nationalversammlung, bei 700 Betrieben (!) auf ein "allgemeines öffentliches Interesse" zu erkennen, damit diese von den Belegschaften mit Hilfe der cogestión - der "Mitverwaltung" - übernommen werden könnten. Zusätzlich gab es den Aufruf, Unternehmen notfalls zu besetzen, zum Beispiel eine Tochterfirma des nach einem Finanzskandal 2004 in Konkurs gegangenen italienischen Milchmultis Parmalat und des nordamerikanischen Ketchup-Produzenten Heinz.

Anfang September geriet die Maisverarbeitungsanlage Promabrasa - sie gehört zum größten venezolanischen Lebensmittelhersteller und Bierbrauer Alimentos Polar - gar unter Militärverwaltung, nachdem das Management begonnen hatte, einen Teil des Maschinenparks nach Kolumbien zu verkaufen. Kurze Zeit später verkündete der Gouverneur des Bundesstaates Barinas per Dekret die Enteignung von Promabrasa, nicht ohne den Eigentümern zu versichern, es werde finanzielle Kompensationen geben. Die Anlagen sollen nun der aus 160 Mitarbeitern bestehenden Kooperative Maiceros de la Revolución nach dem Modelle der cogestión übergeben werden.

Bergbauminister Víctor Álvarez: Dem Staatskapitalismus einen Stoß versetzen

Als Muster für eine mögliche Enteignung gelten die erwähnten Papier- beziehungsweise Ventilfabrik. In beiden Unternehmen wird eine Arbeitermitverwaltung praktiziert, bei der 51 Prozent der Gesellschafteranteile im Besitz des Staates bleiben und 49 Prozent einer Kooperative der Beschäftigten übertragen werden.

Vom Prinzip her beruht die cogestión auf den sozialen Bürgerrechten und der sozialen Gleichheit, wie sie in der Verfassung definiert sind und als Teil einer "partizipativen und protagonistischen Demokratie" dazu führen können, dass etwa beim staatlichen Aluminiumhersteller ALCASA das Leitungspersonal von den Mitarbeitern gewählt wird. Laut José Khan, einem Abgeordneten der Regierungskoalition, hätten inzwischen 88 Unternehmen das von der Regierung bevorzugte Modell der cogestión eingeführt, wonach sich Staats- und Kollektiveigentum in einem Verhältnis von 51 : 49 gegenüber stehen. Die Hotelkette Tamarata sei sogar zu 100 Prozent selbstverwaltet. Noch aber überwiegt bei den meisten Unternehmen eine Minderheitsbeteiligung der Belegschaft. Auf jeden Fall ist das Verständnis der cogestión bisher unübersehbar von den jeweiligen Interessen beherrscht: Während viele Privatunternehmer - zum Teil auch die Manager von Staatsbetrieben - die Mitverwaltung in der Logik einer Sozialpartnerschaft sehen, die Konflikte vermeidet, Arbeitsplätze erhält und die Produktion fördert, gilt der Gewerkschaft UNT cogestión lediglich als Zwischenschritt auf dem Weg zur vollständigen Arbeiterkontrolle der Unternehmen.

Im Mai brachte die UNT einen Gesetzesentwurf in der Nationalversammlung ein, der unter anderem vorsieht, dass die Belegschaften "Zugang haben zu den operativen, juristischen und finanziellen Unterlagen" ihres Betriebes, um eine "korrekte und effiziente Arbeitsweise" zu garantieren. Entscheidungsgremien sollten unter anderem die "Arbeiterversammlung" und ein mindestens zur Hälfte mit Arbeitern besetztes Direktorium sein.

Dass damit Konflikte heraufbeschworen werden, steht außer Frage. Die Regierung will nicht zuletzt deshalb noch in diesem Jahr über ein Gesetz abstimmen lassen, das klare Kriterien für die Mitverwaltung festlegt und geeignet ist, krasse Unterschiede, wie sie von Betrieb zu Betrieb bestehen, wenn schon nicht aufzuheben, so wenigstens einzuebnen.

Dabei stellt der angeführte Aluminiumproduzent ALCASA eine Art Versuchsobjekt der Regierung in Sachen cogestión dar. Das im Bundesstaat Bolívar gelegene Unternehmen gehört zum staatlichen Basisindustrie-Konglomerat Corporación Venezolana de Guayana (CVG) mit mehr als 18.000 Beschäftigten. Es untersteht dem Ministerium für Basisindustrien und Bergbau unter Víctor Álvarez, der die cogestión gern empfiehlt, um "dem Staatskapitalismus einen Stoß zu versetzen", wie er sagt.

Mitte Februar wurde der Ex-Guerillero und marxistische Soziologe Carlos Lanz von der Teilhaberversammlung der ALCASA zum Direktor gewählt. Er führte ungehend eine weitgehende Mitbestimmung ein und versprach, das Werk nun wieder produktiv und profitabel zu machen, nachdem es seit 17 Jahren seine Ineffizienz nicht abstreifen kann.

In der am 19. Januar 2005 per Präsidentschaftsdekret enteigneten Papierfabrik Venepal/Invepal hat das eingeführte Modell der Arbeitermitverwaltung bereits Züge einer Arbeiterkontrolle. Das Unternehmen ist zu 49 Prozent Eigentum der Belegschaftskooperative Covimpa. Mit einer staatlichen Anschubfinanzierung von umgerechnet vier Millionen Euro begannen die Arbeiter sofort, die Fabrik wieder auf die Produktion vorzubereiten. Der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende Edgar Peña wurde von der Arbeiterversammlung zum Kopf eines neuen Direktoriums gewählt.

Bei Venepal/Invepal ist die Belegschaft mit ihrer Kooperative quasi zum Firmenteilhaber geworden und hat die Gewerkschaftszelle im Betrieb mit Verweis auf die nun vorhandene Eigentümer-Rolle aufgelöst. Nicht unbedingt zur Freude der Unión Nacional de Trabajadores (UNT), die kategorisch erklärt, die cogestión solle nicht bewirken, dass Gewerkschaften überflüssig und die Arbeiter zu Unternehmern würden.

* Aus: Freitag 43, 28. Oktober 2005


Extracts of:

Chávez Restyles Venezuela With '21st-Century Socialism'

By JUAN FORERO

New York Times, October 30, 2005

(...) The populist government is reorganizing the country's colossal oil industry, taking a bigger share from private multinationals. Planners are reorganizing the banking system, placing stringent restrictions on lending while creating state banks. Venezuela is also developing a state-to-state barter system to trade items as varied as cattle, oil and cement as far away as Argentina and as near as Cuba, its closest ally.

"It's impossible for capitalism to achieve our goals, nor is it possible to search for an intermediate way," Mr. Chávez said a few months ago, laying out his plans. "I invite all Venezuelans to march together on the path of socialism of the new century."
(...)
Many of the president's grandest plans are put into practice at the year-old Ministry for the Popular Economy. Planners there have already created 6,840 cooperatives that employ 210,000 people nationwide, many producing for the state.

The banking system is crucial to the government's plans. Regulators tightly control interest rates and demand that private banks devote 31.5 percent of all loans to agricultural projects, housing construction, tourism and microcredits, loans to tiny startup businesses.
(...)
So far, no noticeable exodus of foreign companies operating in Venezuela has occurred. Banks and oil companies are making record profits thanks to oil prices that have left the country, the world's fifth-largest exporter, awash in petrodollars. This year, the oil industry is generating $20 billion for the government, nearly $8 billion more than last year.

Still, there is restlessness in the boardrooms, with executives worried about government intervention, which is sometimes seen as haphazard and improvised. Economists say the government has not made the investments needed in the oil sector. And political analysts and mainstream economists warn of recession and dourly note that foreign investment is about a third of what it was five years ago. They say that Venezuela's vast oil profits give the illusion of prosperity - the economy's growth rate is 9.3 percent - but that if prices fall, or Venezuela's growing spending catches up, the economy could founder.
(...)
In the tumbledown barrios where Mr. Chávez draws much of his support, it is easy to see why the new system has been warmly welcomed. The hills around Caracas and the farms in the outback are filled with cooperatives and other businesses in which the state plays an important role. Workers produce everything from shoes to corn.

Aura Matos, 28, is a seamstress in a state-run textile factory that sells to the state, a job she has held just a few weeks. "I was in my house, with nothing to do, and President Chávez and God gave me this opportunity," Ms. Matos said as she took a break from sewing jeans and blouses.

One of the government's most ambitious ventures is a new state airline, price $110 million so far. The airline, Conviasa, now has three planes, which regularly serve Bogotá, Havana and other nearby destinations. It plans to expand to 14 jets in about a year and travel as far as Beijing and Europe.
(...)
Another project gives workers a stake in the ownership and management of tottering private companies. In return, management - made up of the original owners and the workers - receives government credits and other incentives.

"The businesses closed by the neoliberal system - factories and farms - are reopening, but it's done by the people," said Elías José Jaua, minister of the popular economy. "This is a state that has the duty to push and support this."

The state is also founding a mining company, an iron and steel company, a tractor factory and a state computer company, which Mr. Chávez says will produce "Bolivarian computers" in honor of his guiding light, the 19th-century independence hero Simón Bolívar. The government has even spoken about acquiring nuclear technology from Brazil and Argentina - emphasizing that it would be for peaceful purposes, like energy production or medical care.

Source: www.nytimes.com




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