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Wie weiter in Venezuela – nach Chávez?

André Scheer zieht eine positive Bilanz der bolivarischen Revolution *

Nach dem Tod von Hugo Chávez erscheint die Zukunft des lateinamerikanischen Landes ungewisser denn je. André Scheer, Auslandschef der Tageszeitung »Junge Welt«, war mit Fotografin Claudia Schröppel aus Anlass der Präsidentschaftswahl im Oktober vergangenen Jahres in Venezuela. Chávez wurde damals wiedergewählt. Im März dieses Jahres erlag er seiner schweren Krankheit; ihn beerbte sein Vize Nicolás Maduro.

Scheer geht es aber nicht nur um die aktuellen Ereignisse. Er nimmt diese vielmehr zum Anlass, die 14 Jahre der Präsidentschaft von Chávez zu bilanzieren und die Errungenschaften der sogenannten bolivarischen Revolution zu würdigen. Dazu bedarf es auch eines Blicks in die Geschichte Venezuelas. Der reicht zurück bis in die Zeit der Conquista. Scheers historischer Exkurs ist flüssig und einprägsam geschrieben und fasst die wichtigsten Ereignisse zusammen. Der Rückblick unterstreicht die Bedeutung der gesellschaftlichen Entwicklung unter Chávez und macht noch einmal deutlich, was im Oktober 2012 auf dem Spiel stand. Dies wird vor allem beim Vergleich der diversen Wahlprogramme und verschiedenen Wahlkämpfer ersichtlich.

Scheer sah sich nicht nur in den Armenvierteln der Hauptstadt Caracas um, deren Bewohner für Chávez stimmten. Aber natürlich streicht er vor allem die jenen zugute gekommenen Errungenschaften der bolivarischen Revolution heraus, so die nunmehr auch ihnen gewährte Gesundheitsfürsorge sowie Partizipation. Auf diesen beiden Gebieten ist viel erreicht worden.

Andererseits ist staatliche Alimentierung nicht fortzuführen, wenn die produktive Basis fehlt respektive dafür nicht ausreicht. Wichtig für die Zukunft Venezuelas ist zweifellos, dass es den Armen besser geht. Wichtig ist aber auch, die Basis relativen Wohlstands aufrechtzuerhalten. Insbesondere die Ölindustrie muss modernisiert werden.

»Die Gefahr, dass die Revolution die Jugend verliert, besteht«, zitiert Scheer Radiomoderator Gustavo Rodriguez. Wenn die Revolution vor allem damit begründet wird, dass es den Menschen besser geht als vorher, aber die Jugend das »Vorher« nicht erlebt hat, hat man ein Problem. Auch in Venezuela beklagt die Jugend fehlende Zukunftsperspektiven. In dieser Hinsicht wendet sich der Vorteil dieses Buches, der sich dem engen Kontakt Scheers mit den einfachen Menschen in Venezuela verdankt, in gewisser Weise zu einem Nachteil. Denn das Problem eines zukunftsträchtigen Programmes jenseits der Alimentierung wird an der Basis in Venezuela zu wenig diskutiert.

Auch scheint Scheer mitunter Verstaatlichung und Umverteilung bereits mit Sozialismus gleichzusetzen. Ein Irrtum, zu dem viele deutsche Linke neigen. Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist Scheers gut lesbares Buch, dem zudem viele ausdrucksstarke Fotos beigegeben sind, sehr zur Lektüre zu empfehlen. Es regt zum Weiterdenken und weiteren Diskussionen an. Abgerundet wird das Buch durch ein kurzes Porträt des Nachfolgers von Chávez sowie der Rede, die der charismatische Präsident, der im Alter von nur 59 Jahren verstorben ist, bei seinem letzten Wahlsieg am 7. Oktober 2012 gehalten hat.

Wer sich bereits intensiv mit Venezuela beschäftigt hat und beispielsweise die umfangreichen und tiefgehenden Bücher von Dario Azzellini oder Michael Zeuske kennt, dem wird hier eine informative Fortsetzung geboten. Scheers Buch eignet sich aber auch für jene Zeitgenossen, die sich mit der Geschichte und Gegenwart dieses lateinamerikanischen Landes bisher nicht befasst oder nur gelegentlich befasst haben.

Helge Buttkereit

André Scheer: Venezuela. Reportage aus der Revolution. Wiljo Heinen. 175 S., br., 13,50 €

* Aus: neues deutschland, Samstag, 23. November 2013


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