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Nur eine Schlappe für Chávez oder eine Niederlage für den Sozialismus?

Kommentare nach dem knappen Ausgang des Verfassungs-Referendums in Venezuela

Das Abstimmungsergebnis:
Mit gut siebenstündiger Verspätung verkündete die Präsidentin des Nationalen Wahlrates in Caracas das Ergebnis der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung: Die Gegner der Reform, mit der dem südamerikanischen Land ein sozialistisches Regierungssystem gegeben werden sollte, haben sich am 2. Dezember 2007 knapp durchgesetzt. Rund 1,5 Prozentpunkte lagen die Kritiker der Novellierung am Ende vor den Befürwortern. Sie setzten sich damit erstmals seit Chávez’ Amtsantritt Anfang 1999 durch.
Zur Abstimmung waren gut 16 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner berechtigt. An dem Referendum beteilten sich rund 56 Prozent der Stimmberechtigten. Bei der Präsidentenwahl vor einem Jahr waren es noch 70 Prozent, und 63 Prozent von ihnen stimmten damals für Chávez.
Chávez selbst zeigte sich in einer Liveschaltung auf allen Fernsehkanälen des Landes mit dem Ausgang der Abstimmung zufrieden. Zwar habe er sich nicht durchgesetzt, doch sei dies besser als ein knappes Ergebnis, das politische Spannungen zur Folge gehabt hätte, erklärte er. Er beglückwünschte seine Gegner zum Sieg. "Es wäre mit meiner Ethik nicht vereinbar gewesen, einen Sieg mit vielleicht 0,4 Prozentpunkten davonzutragen, der dann von allen Seiten angezweifelt worden wäre." Für ihn bedeute der Ausgang des Referendums zudem keine Niederlage, sondern ein Scheitern "für diesen Moment". Chávez spielte damit auf einen Fernsehauftritt 1992 an. Damals war er nach einem Militäraufstand gegen das neoliberale Regime von Präsident Carlos Andrés Péres live aufgetreten, um das Scheitern auch dieser Revolte "für den Moment" einzugestehen.
An die Opposition richtete er den Appell, den Sieg nicht zu missbrauchen. "Wir alle sollten politisch dazulernen und uns dessen bewußt sein, dass wir in einer Demokratie leben. Hier gibt es keine Diktatur".
Regierungskritiker hatten den linken Staatschef in der Debatte um das Referendum wiederholt bezichtigt, ein diktatorisches System errichten zu wollen.
Die folgenden Pressestimmen stammen alle aus den Ausgaben vom 4. Dezember 2007.



Martin Ling vom "Neuen Deutschland" sieht in dem Ausgang des Referendums eine "heilsame Niederlage" für Chàvez. Die Opposition könne das Ergebnis aber keinesfalls als einen Sieg für sich verbuchen.

Aus Niederlagen Siege zu machen, ist Hugo Chávez nicht fremd. Sein gescheiterter Putschversuch 1992 brachte ihm zwei Jahre Gefängnis, dank einer als Kapitulationsbedingung ausgehandelten Fernsehansprache jedoch viel Popularität. Sie bildete die Grundlage seines rasanten Aufstiegs zum Präsidenten 1998 – zusammen mit dem Konkurs der korrumpierten und diskreditierten politischen Klasse.

Ein Aufstieg, der von Anfang an von der Oligarchie mit Argusaugen verfolgt und dann mit offener Obstruktion bekämpft wurde – nicht selten undemokratisch wie beim Putsch im April 2002 und beim Lahmlegen der Ölindustrie von oben zur Jahreswende 2002/2003. Aus all diesen Anfechtungen ging Chávez gestärkt hervor.

Nun hat er erstmals an den Wahlurnen verloren. Nur: Das ist kein Sieg der nach wie vor diskreditierten Opposition, sondern Ausdruck eines gewachsenen politischen Selbstbewusstseins der venezolanischen Bevölkerung. Auch vielen Chávez wohlgesonnenen Zeitgenossen war diese Verfassungsreform ein Schritt zuviel in Richtung allmächtiger Präsident. Dass die Bevölkerung den Prozess der bolivarianischen Revolution korrigiert hat, könnte sich als eine heilsame Niederlage entpuppen. Denn so breit wie die Verfassung von 1999 war die Reform längst nicht mehr diskutiert worden. Ein Warnzeichen für ein emanzipatorisches Projekt, aus dem Chávez nun hoffentlich Lehren ziehen wird.


In der "jungen Welt" wird die Niederlage Chávez' als Mahnung gewertet, mit der "Institutionalisierung" der Revolution vorsichtiger zu Werke zu gehen. Denn die Basis, die Chávez bisher unterstützt habe, fürchte um ihren Einfluss auf den weiteren revolutionären Prozess. Harald Neubers Kommentar ist überschrieben mit "Politische Lektionen".

Die Niederlage der venezolanischen Regierung beim Verfassungsreferendum am Sonntag hat eine paradoxe Situation geschaffen: Während die Unterlegenen souverän regieren, gerät die internationale Presse in Erklärungsnot. Denn Präsident Chávez hat sich nicht so verhalten, wie sie ihn präsentiert hat: als »südamerikanischen Autokraten« (Bild) mit »diktatorischen Zügen« (Die Welt), der auf »mehr Macht« (Frankfurter Rundschau) aus sei und dessen Hauptziel im »populistisch-diktatorischen Anziehen der Herrschaftsschraube« (Neue Zürcher Zeitung) liege. Nichts dergleichen: Chávez trat vor die Presse, beglückwünschte die Sieger und kündigte an, weiter für seine Politik zu werben. Demokratisch, wie seit Amtsantritt 1999.

Natürlich sollten aber nicht nur die Medien in sich gehen, sondern auch die Funktionsträger des Chavismus. Ihm ist es bei 44 Prozent Wahlenthaltung nicht gelungen, die eigene Basis hinreichend zu mobilisieren. Die Opposition hingegen hat von ihrem Boykott der Demokratie abgelassen. Sie hat damit – zunächst – den Weg der politischen Gewalt verlassen.

Der Grund für die aktuelle Schwäche des Chavismus ist vielfältig. Angesichts der zunehmend revolutionären Tendenz haben die reformistischen Kräfte Chávez zuletzt den Rücken gekehrt. Wie schon so oft in der Geschichte verbünden sich die sozialdemokratischen Parteien in einer entscheidenden Phase des gesellschaftlichen Wandels mit dem Klassengegner. Kaum deutlicher wurde dies in der Einladung, die dem neoliberalen Ex-Präsidenten Boliviens von der bisherigen Koalitionspartei Podemos als Wahlbeobachter ausgesprochen wurde. Kaum war er in Venezuela eingetroffen, beschimpfte Quiroga Präsident Chávez als »Diktator«.

Bedeutsamer als diese offene Abkehr des reformistischen Lagers von der bolivarischen Revolution aber ist die Skepsis der Basis. Sie beginnt, sich gegen die Institutionalisierung der Revolution zu wehren und beharrt auf ihre Unabhängigkeit, die ihr durch die Reform in Teilen genommen worden wäre. Wenn eine uneingeschränkte Rückbesinnung auf die Basisbewegungen als Motor der Revolution eine Folge der Niederlage ist, dann war sie nicht umsonst. Orientiert die Staatsführung nun auf ein neues Bündnis mit den reformistischen Kräften – wie es etwa der deutsche Soziologe und Venezuela-Kenner Heinz Dieterich fordert –, wäre diese Niederlage aber der Anfang vom Ende der bolivarischen Revolution.


Auch in der Frankfurter Rundschau ist zu lesen, dass die "Ohrfeige" für Chávez von den eigenen Anhängern kam. Der Rat des Kommentators Wolfgang Kunath an Chávez: Er solle die Finger von einem abermaligen Versuch lassen, die Verfassung doch noch ändern zu wollen ("Ohrfeige von den Anhängern").

(...) Venezuelas Opposition jubelt, aber ihr Verdienst ist das wirklich zuallerletzt. Sie hat auch diesmal, als radikale Änderungen der Verfassung anstanden, nicht zur Einheit oder auch nur Einigkeit gefunden. Mit ihren teils absurden Überzeichnungen - wie kann man Chávez bloß mit Stalin vergleichen! - hat sie Schwankende eher abgeschreckt.

Der Präsident verdankt die Niederlage nicht seinen Gegnern, sondern seinen Anhängern. Genauer gesagt jenen, die zwar Chávez gut finden, die nichts gegen sein oft impertinentes Auftreten, seinen vagen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und schon gar nichts gegen seine sozialen Wohltaten haben, denen aber das Antasten der Verfassung zutiefst unheimlich war. Es ist ja auch haarsträubend, was sich der Staatschef und seine Schildknappen ausgedachten: Die ewige Wiederwahl, über die Chávez schwadronierte, er könne ja bis 2050 im Amt bleiben! Die Notstandsgesetze! Die Aufweichung des Föderalismus! Die kaum begrenzte Verfügungsgewalt über die Öl-Milliarden! Kein Wunder, dass auch manch hartgesottenen Chavista das Grausen ankam.

Und nun? Zuletzt sind aus Gegnern Feinde, aus Andersdenkenden Verräter geworden. Nun ist Entspannung möglich. Dass Chávez seinen Gegnern gratuliert, lässt hoffen. Doch den Parteigängern sagte er, "fürs Erste" sei es nicht gelungen, die Reform durchzusetzen. Eine ominöse Wendung: Chávez hat sie 1992 gewählt, als der Versuch, die Macht zu erlangen, fürs Erste gescheitert war. Heißt das, er will's noch mal versuchen mit der Verfassungsänderung?


Für den Kommentator der Süddeutschen Zeitung, Peter Burghardt, steht dagegen fest, dass die Mehrheit in Venezuela sich mit dem Votum nicht nur gegen die befürchtete Autokratie des Präsidenten, sondern auch gegen den Sozialismus und für mehr "Sozialdemokratie" entschieden habe. In seinem Kommentar "Genug Chávez" heißt es u.a.:

(...)
Eine knappe Mehrheit der Venezolaner will nicht, dass ihr Anführer beliebig oft wiedergewählt werden darf. 51 Prozent der Wähler lehnten es ab, dass der Sozialismus im Reich des schnellen Geldes zum Prinzip erklärt wird, dass die Zentralbank ihre Autonomie verliert, dass Besitzformen verändert werden und die Armee eine politische Rolle bekommt. Selbst vormaligen Anhängern des Präsidenten ging das autokratische Projekt zu weit. Zehntausende Studenten gaben der einst verwirrten Opposition neuen Schwung.

(...)
Auch in Bolivien und Ecuador wird über eine neue Verfassung gestritten. Auch dort wollen die Präsidenten Evo Morales und Rafael Correa die Nation abseits der oft korrupten Parteieneliten von einst neu erfinden. Im Kern sind die Konflikte ähnlich: Eine alte Oberschicht versucht, an ihren Privilegien festzuhalten, während eine neue Machtriege bemüht ist, die Regeln zugunsten vormals Ausgeschlossener, wie der Ureinwohner, aber auch für sich selbst zu ändern.

Dazwischen steht eine Mittelschicht, die sich zur einen oder zur anderen Seite neigt. Die Risse gehen quer durch Städte und Staaten. Venezuelas Metropole Caracas ist gespalten zwischen Chávez-Anhängern im ärmeren Westen und Chávez-Gegnern im reicheren Osten. Bolivien und Ecuador sind geteilt zwischen dem indianisch geprägten, darbenden Hochland und dem europäisch beeinflussten, wohlhabenden Tiefland.

(...)
Vor allem Chávez und auch Morales orientieren sich am kubanischen Comandante Castro, der so viele Freunde hat wie nie. Doch ihrem Überschwang setzt das Volk jetzt Grenzen, die demokratischen Instrumente funktionieren. Die Lateinamerikaner sind bedachter und wahlfreudiger denn je.

Die meisten von ihnen wünschen sich eine sozialere Politik als früher, aber eher eine sozialdemokratische als eine sozialistische. Die Fraktion der Sozialdemokraten führt der brasilianische Pragmatiker Luiz Inácio Lula da Silva an. Die sozialistische leitet der Egomane Hugo Chávez, der nun einen Dämpfer bekommen hat. Seine Petrodollars sind willkommen, seine permanenten Brandreden allerdings gehen sogar Sympathisanten auf die Nerven. Schlagwörter wie Imperialismus und Oligarchie nutzen sich ab.

(...)
Der Caudillo aus Barinas übernimmt sich, während sich seine Bilanz eintrübt. Er verwendet die Ölmilliarden für sinnvolle Sozialprogramme, aber er verpulvert auch zu viel. Er hat die sozialen Probleme zum Thema gemacht und vormals Entrechteten eine Stimme gegeben, aber er setzt zu sehr auf Konfrontation. Männer wie er sind durchaus beliebt, deshalb ist auch der vor 40 Jahren ermordete Revoluzzer Ché Guevara populärer denn je.

Aber Chávez hat die Polarisierung zu weit getrieben, und die entscheidenden Probleme löst er so nicht. Whiskey ist in Venezuela leichter zu bekommen als Milch, Benzin ist billiger als Mineralwasser. Inflation, Korruption und Gewalt wuchern, Milizen gefährden die innere Sicherheit. (...)


Das tue er bereits jetzt, befindet der Wiener "Standard" ("Erste Schlappe für Chávez" von Erhard Stackl). Mit seinem Eingeständnis der Wahlniederlage am Abend des Referendums habe Chávez gezeigt, dass er nicht der Diktator ist, als den ihn die Opposition immer so gern hinstellt. Und trotz der "Schlappe", die er erlitten hat, hätte er bis zum Ablauf seiner Amtszeit 2013 noch viele Möglichkeiten, mit "großzügigen Sozialprogrammen und Investitionen in die Staatswirtschaft" an seinem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu bauen.

(...) Chávez gestand Sonntagabend ein, dass er das von ihm selbst geforderte Referendum über eine Verfassungsreform knapp, aber doch verloren hat. Damit demonstrierte er, dass er nicht der Diktator ist, als den ihn seine Gegner darstellen. Seine Amtszeit läuft aber immerhin noch bis 2013, der Staatsapparat und das Parlament handeln weiter auf seinen Zuruf. Und so lange der Ölpreis hoch bleibt, läuft auch der Aufbau seines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" mit großzügigen Sozialprogrammen und Investitionen in die Staatswirtschaft wie geschmiert.

Trotzdem hat Chávez, der seit 1999 etliche Wahlen und Referenden hoch gewonnen hat, nun erstmals eine empfindliche Schlappe erlitten. Von den Armen und Unterprivilegierten, von denen es im ölreichen Venezuela so viele gibt, dass sie ihrem Retter Chávez bisher eine bequeme Mehrheit verschafften, blieben etliche zuhause. Der täglich erlebte Mangel an Milch und Zucker, die hohe Kriminalität in ihren Vierteln überwog bei manchen die Dankbarkeit für neue Wohltaten wie eine Arbeitszeitverkürzung und höhere Sozialleistungen. Und nicht nur die Reichen, auch Industriearbeiter ärgern sich über die Gängelung der Medien und die Einschränkung demokratischer Rechte. (...)


In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Josef Oehrlein: "Risse in der Chavisten-Front") wird zwar konstatiert, das Chávez offenbar das Referendum wegen der Wahlenthaltung der eigenen Anhänger verloren habe. Die Zeitung setzt aber gleichzeitig auf das Entstehen einer neuen Oppositionsbewegung "aus den Kreisen der Studenten, die nicht im Verdacht stehen, der alten Politik eine Träne nachzuweinen".

(...)
Doch inzwischen werden die Risse in der Chavisten-Front deutlicher. Mit der Partei „Podemos“ (Wir können es), welche die Verfassungsreform ablehnte, verließ eine einst chavistische Gruppierung den Regierungsblock. Und plötzlich meldeten sich auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und gaben Chávez Widerworte.

Der spektakulärste Fall ist der des früheren Generals Raúl Baduel, eines einstigen Waffenbruders und Freundes von Chávez, der noch vor wenigen Monaten Verteidigungsminister war und zuvor Chef der Streitkräfte. Baduel warnte ganz offen vor den autokratischen Plänen seines einstigen Fallschirmspringerkameraden, bezeichnete sie als einen „Putsch“ und warb für das Nein.

Gleichfalls überraschend waren die anhaltenden Proteste der Studenten gegen die Verfassungsreform, die ihre Rechte stark beschnitten hätte. Versuche von Chávez, den oppositionellen Studenten anzuhängen, sie seien gewalttätig oder von der „Oligarchie“ vorgeschickt, verfingen kaum.

Stalin González, einer der Hauptanführer bei den Demonstrationen gegen Chávez, stammt aus einer Familie der traditionellen Linken und nicht des reichen Bürgertums. Aus den Kreisen der Studenten, die nicht im Verdacht stehen, der alten Politik eine Träne nachzuweinen, könnte bestenfalls bald eine neue Schicht unbelasteter Politiker erwachsen, die bereit wären, in einer neuen Oppositionsbewegung dem angreifbar gewordenen Chávez Paroli zu bieten.


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