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Vor dem Referendum

Dokumentiert. Nach einem intensiven Diskussionsprozeß ist die venezolanische Bevölkerung am 2. Dezember aufgerufen, einer Verfassungsreform zuzustimmen. Welche Änderungen gibt es im Vergleich zur Konstitution von 1999?

Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez im Jahr 1999 befindet sich Venezuela auf dem Weg zu einem sozialistischen Staat. Die revolutionären Veränderungen in diesem Zeitraum haben eine Korrektur der rechtlichen Grundlagen des Landes notwendig gemacht. Die venezolanische Botschaft in den USA gab vor kurzem einen Überblick über die geplanten Verfassungsänderungen, den jW im folgenden abdruckt. Die Reformvorschläge sind im Internet vollständig dokumentiert auf der Seite botschaft-venezuela.de/DE/pdf/RC_DE.pdf



Am 15. August 2007 hat Venezuelas Präsident Hugo Chávez eine Reihe von Reformvorschlägen zur Verfassung des Landes aus dem Jahr 1999 gemacht. Diese Vorschläge betreffen 33 von insgesamt 350 Artikeln und zielen darauf ab, die Umverteilung der Gewinne aus den Ressourcen des Landes zum Wohl der armen Bevölkerung zu beschleunigen und die Grundlagen für die direkte Bürgerbeteiligung am demokratischen Prozeß auszuweiten. Ziel ist es, unter friedlichen und demokratischen Bedingungen eine neue Gesellschaftsform in Venezuela zu entwickeln, die auch als »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wird. Dieses Modell soll innenpolitisch die partizipative Demokratie und eine breitere Fächerung der Wirtschaft fördern, um den sozialen Bedürfnissen des Landes gerecht zu werden. Außenpolitisch wird die Unterstützung einer multipolaren Weltordnung angestrebt. Über das Reformpaket soll am 2. Dezember in einer Volksabstimmung entschieden werden.

Vorbereitung des Referendums

1999 hat das venezolanische Volk mit überwältigender Mehrheit für die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung gestimmt. Mit der Neugestaltung der Konstitution sollte mit der Vergangenheit gebrochen und ein gerechtes und für die Bevölkerung repräsentatives demokratisches System geschaffen werden. Einzelpersonen, Gemeindegruppen und politische Organisationen hatten an diesem Prozeß aktiv teilgenommen. Von den 624 Reformvorschlägen, die aus der Bevölkerung eingebracht worden waren, wurden im Laufe des Diskussionsprozesses mehr als die Hälfte berücksichtigt.

Die 1999 in einem Referendum angenommene Verfassung hat bis heute zur Ausweitung der Rechte aller Venezolaner, zur Anerkennung der Rechte und Privilegien von marginalisierten Gruppen, zur Neugestaltung von Regierungsinstitutionen und -gewalten sowie zu einer gesteigerten Verantwortung der Staatsführung für das Etablieren einer partizipativen Demokratie und sozialer Gerechtigkeit geführt. In dem landesweiten Referendum stimmten damals 86 Prozent der venezolanischen Bevölkerung für die neue Konstitution.

Sie ist heute überall in Venezuela erhältlich und wird darüber hinaus auch rege gelesen. Eine einfache Taschenbuchausgabe ist für gut 1500 Bolívares (knapp 50 Eurocent) zu kaufen, die in Leder gebundene oder eine bebilderte Ausgabe sind etwas teurer. Fährt man in Caracas mit der U-Bahn, sind häufig Gespräche wie dieses zu hören. »Sieh mal, dieser Artikel hier«, heißt es dann in einer Debatte. »Ja«, wird ein anderer entgegnen, »aber diese Stelle hier trifft es besser«.

In Übereinstimmung mit dem Artikel 342 der Verfassung können die Nationalversammlung, der Präsident oder 15 Prozent der eingeschriebenen Wählerschaft – das sind etwa 2,5 Millionen Wähler – Verfassungsreformen anregen. Die Vorschläge müssen in der Nationalversammlung in drei Lesungen zur Debatte gestellt und dann mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden, woraufhin sie der venezolanischen Bevölkerung in einem landesweiten Referendum zur Abstimmung vorzulegen sind. Die erste Lesung zur bevorstehenden Reform fand am 21. August statt, die zweite Anfang September. Am 25. Oktober wurden die Vorschläge in der Nationalversammlung ein drittes Mal diskutiert.

Auf dem Höhepunkt der parlamentarischen Diskussion bereisten die Mitglieder der Nationalversammlung das Land, um die vorgeschlagenen Reformen mit Gemeindegruppen, Zivilorganisationen und Bürgern zu erörtern. Vom 16. August bis zum 7. Oktober wurden in Venezuela 9020 öffentliche Veranstaltungen abgehalten – täglich über 192 im Zeitraum von 53 Tagen –, um den Menschen Informationen zukommen zu lassen und ihre Meinung zu den Reformvorhaben einzuholen. Zugleich wurde von der Nationalversammlung eine Telefonhotline eingerichtet, über die mehr als 80000 Anrufe eingingen – im genannten Zeitraum also über 1700 pro Tag. So hatten Bürger die Möglichkeit, Kritik zu den vorgeschlagenen Reformen zu äußern oder auch eigene Vorschläge einzubringen. Zusätzlich wurden von seiten der Nationalversammlung zehn Millionen Exemplare der Reformvorschläge an interessierte Bürger verteilt. 77,8 Prozent der stimmberechtigten Venezolaner geben inzwischen an, über die Reformen informiert zu sein.

Aufgrund der landesweiten Konsultation wurden 25 zusätzliche Reformvorschläge und elf kleinere Veränderungen hinzugefügt. Es wird also über 69 Artikeländerungen abgestimmt. Am 2. November gingen sie bei der Nationalen Wahlbehörde ein. Über die Verfassungskorrekturen wird dann mit dem Referendum am 2. Dezember entschieden.

Amtszeit des Präsidenten

Artikel 230 der Verfassung von 1999 sieht eine Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre vor und regelt, daß jeder Präsident nur einmal wiedergewählt werden kann. Durch die vorgeschlagene Reform würde die präsidiale Amtszeit auf sieben Jahre ausgedehnt. Jeder Präsident hätte dann die Möglichkeit, für weitere Amtszeiten zu kandidieren.

US-Präsident Dwight D. Eisenhower bemerkte dazu 1956, als eine ähnliche Debatte in den USA geführt wurde: »In den Vereinigten Staaten sollte man in die Lage versetzt werden, jeden zum Präsidenten zu wählen, den man haben will, ungeachtet der Anzahl von Amtszeiten, die er schon gedient haben mag.« 2005 hatten die Mitglieder des US-Abgeordnetenhauses Steny H. Hoyer (Demokratische Partei) und Frank J. Sensenbrenner (Republikanische Partei) einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der die Begrenzung der präsidialen Amtszeiten aufheben soll.

Trotzdem wird die in Venezuela vorliegende Reform als undemokratisch kritisiert. Dabei bleiben verschiedene Mechanismen in Kraft, die sicherstellen, daß der Präsident rechtmäßig gewählt wird und dem venezolanischen Volk gegenüber rechenschaftspflichtig ist. In Venezuela muß sich der Präsident nicht nur der Wiederwahl stellen, sondern auch einem Abwahlreferendum. Dieses demokratische Instrument erlaubt es den Wählern, die Amtszeit eines gewählten Repräsentanten abzukürzen. Bei einem solchen Abwahlreferendum, das im August 2004 von Mitgliedern der Opposition gegen den Präsidenten Chávez in Gang gesetzt worden ist, haben 60 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib des Präsidenten im Amt gestimmt.

Wirtschaftliche Reformen

In den letzten drei Jahren hat Venezuela ein beständiges ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Diversifizierung erlebt. Neue Formen wirtschaftlicher Aktivitäten wurden ermöglicht, die mehr Venezolanern Unternehmenschancen eingeräumt haben. Die Änderung der Verfassungsartikel 112, 113, und 115 kann diese Entwicklung vertiefen und ein neues Wirtschaftsmodell rechtlich festlegen.

Der Artikel 112 garantiert allen Venezolanern die Freiheit, sich unternehmerisch zu engagieren. Die Regierung fördert demnach privatwirtschaftliches Engagement, das »für eine gerechte Verteilung des Wohlstandes sorgt und diese garantiert«. Sie begünstigt wirtschaftliche Aktivitäten, die unmittelbar der Entwicklung des Landes dienen. Mit der Zustimmung zur vorgeschlagenen Reform bekäme die Regierung den Auftrag, auf die Absicherung eines Wirtschaftssystems hinzuwirken, das »breit gefächert und unabhängig« ist und auf den »menschlichen Werten der Zusammenarbeit und allgemeinen Interessen« basiert. Wirtschaftliche Aktivitäten würden dann nicht nur das private Unternehmertum einbeziehen, sondern auch sozial orientierte, kooperative und gemeindebasierte Betätigungsmodelle erfassen.

Artikel 113 wendet sich bisher gegen wirtschaftliche Monopole. Die vorgeschlagene Reform verbietet sie und andere Formen der Konzentration privatwirtschaftlicher Macht. Die Regierung erhält von der neuen Konstitution den Auftrag, sozial orientierte, kooperative und von Gemeinden organisierte Beschäftigungsmodelle zu schützen. Die Zahl der Kooperativen ist schon in den letzten Jahren von 800 auf über 180000 angewachsen. Die natürlichen Ressourcen des Landes müßten im Sinne des Gemeinwohls genutzt werden. Privaten Unternehmen wäre es aber weiterhin möglich, Bodenschätze auszubeuten, wenn auch in Verbindung mit Regierungsunternehmen.

Der Artikel 115 regelt gegenwärtig das Recht auf Privatbesitz. Gleichzeitig wird festgestellt, daß jedweder Besitz vom Staat übernommen werden kann, wenn ein ausreichender Grund – das Gemeinwohl – vorliegt und angemessene Entschädigung gewährt wird. Die vorgeschlagene Reform ließe das Recht auf Privatbesitz und dessen Schutz unangetastet, würde jedoch eine Reihe neuer Charakterisierungen hinzufügen. Eigentum definierte sich dann wie folgt: öffentliches Eigentum: vollständig im Besitz und unter Verwaltung der Regierung. Soziales Eigentum: im Besitz des venezolanischen Volkes und entweder von der Regierung oder von Gemeinden oder anderen Institutionen verwaltet. Kollektives Eigentum: im Besitz und unter Verwaltung von Gruppen von Einzelpersonen zur Eigennutzung. Gemischtes Eigentum: eine Kombination aus Besitz und Verwaltung.

Privateigentum bleibt also erhalten und genießt weiterhin den gleichen Schutz wie in anderen Ländern. In den USA und in westeuropäischen Ländern z.B. kann es von der Regierung übernommen werden, wenn das Gemeinwohl es erfordert und vollständige Entschädigung gewährleistet wird. Im Rahmen der Landreform sind in Venezuela in den vergangenen Jahren über 8,8 Millionen Morgen (35614 Quadratkilometer) ungenutzter Landflächen an arme Familien überschrieben worden. Handelte es sich bei der Übereignung um private Ländereien, geschah dies gegen gebührende Entschädigung. Als die Regierung Nationalisierungen im Stromsektor und im Telekommunikationsbereich durchsetzte, zahlte sie ebenfalls einen Ausgleich.

Reform der Zentralbank

Der Schlüssel zu langfristigem Wachstum und Stabilität ist die Politik der venezolanischen Zentralbank. Ihr kommt die Aufgabe zu, monetäre Leitlinien und Zinssätze festzulegen. Die Leitlinien der Zentralbank haben jedoch in den letzten Jahrzehnten wirtschaftliches Wachstum und soziale Entwicklung gebremst. Ein Teil der vorgeschlagenen Reformen versucht, dies zu korrigieren.

Der Artikel 318 führt die Verantwortlichkeiten, Rechte und Strukturen der Zentralbank im einzelnen aus. Der Reformvorschlag sieht vor, daß die Zentralbank und die Exekutive, in Person des Finanzministers und des Ministers für Planung und Entwicklung, ihr Vorgehen enger koordinieren. Die Reform würde die Autonomie der Bank einschränken, da sie die Geldreserven des Landes gleichermaßen unter die Kontrolle der Bank und der Exekutive stellt. Diese Änderung hat zum Ziel, »produktive Investitionen, Entwicklung und Infrastruktur, die Finanzierung von Sozialprogrammen sowie menschliche Entwicklung« zu fördern. Diese Reform ist als Erweiterung einer anderen Novelle zu verstehen, die im Jahr 2005 umgesetzt wurde und erlaubt, überschüssige Reserven – zunächst etwa sechs Milliarden Bolívares (zirka 1,9 Millionen Euro) – über den Nationalen Entwicklungsfonds (FONDEN) sozialen und Infrastrukturprogrammen zuzuleiten.

Wie der US-amerikanische Nobelpreisträger für Ökonomie Joseph E. Stiglitz meint, darf die staatliche Geldpolitik »nicht Technokraten überantwortet werden, besonders dann, wenn diese die Interessen einer gesellschaftlichen Minderheit über die Interessen anderer stellen«. Historisch gesehen haben die Zentralbanken der 23 Bundesstaaten Venezuelas den Zinssatz hochgehalten und den Währungskurs damit überbewertet. Geld­anleihen und Investitionen wurden so begrenzt und das Wirtschaftswachstum behindert, weil Importe künstlich verbilligt und Exporte verteuert wurden. Die Reform beabsichtigt nun, eine bessere Koordination zwischen Exekutive und Zentralbank zu erreichen, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und soziale Entwicklung sicherzustellen.

Politisch-territoriale Reformen

Wie in jedem anderen Land der Welt sind die politischen und territorialen Grenzen Venezuelas nach folgenden Kategorien aufgeteilt: Nation, Bundesstaaten, Gemeindebezirke und ein Hauptstadtdistrikt. Einige Reformvorschläge würden diese politisch-territorialen Grenzlinien ausdehnen und klarer gestalten. So wäre es wichtig, die politische Macht zu dezentralisieren, um den Gemeindebezirken die Fähigkeit und die Mittel zuzugestehen, die sie benötigen, um den demokratischen Prozeß mitzugestalten. Lokale Probleme sollen einfacher ausgemacht und gelöst werden können. Es soll sichergestellt werden, daß Gebiete, die aufgrund ihrer Lage und fehlenden Infrastruktur unterentwickelt geblieben sind, besser in nationale und regionale Entwicklungspläne eingebunden werden können.

Der Artikel 16 beschreibt in seiner gegenwärtigen Form die politisch-territorialen Grenzen und weist dabei Bundesstaaten, Gemeindebezirke, dem Hauptstadtdistrikt, dem Bund unterstehende Gebiete und Schutzgebiete aus. Im Rahmen der vorgeschlagenen Reform würden diese Grenzlinien bestehen bleiben und in vollem Umfang respektiert, jedoch durch neue Kategorien ergänzt. Kleinere räumliche Einheiten unter der Bezeichnung »Kommunen« können dann formale Anerkennung erhalten. In den Kommunen wäre eine aktivere Teilhabe von Einzelpersonen und Gemeindeorganisationen an kommunalen Angelegenheiten möglich. Unterentwickelte Gebiete könnten zu »Bundesprovinzen«, »Bundesstädten« oder »Amtsbezirken« erklärt werden, die direkt der Regierung unterstellt wären und denen so leichter Entwicklungsressourcen zugewiesen werden könnten.

Der gegenwärtige Artikel 184 weist Gemeinden an, Gemeinschafts- und Nachbarschaftsorganisationen mit Mitteln und Dienstleistungen zu versorgen, wenn diese darum ersuchen. Der Reformvorschlag soll den Ressourcen- und Dienstleistungstransfer eindeutig regeln, durch den Wohnungsbau, Sport, Kultur, Umwelt, politische Teilhabe, Sozialwirtschaft und lokale Entwicklung sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen garantiert wird. Es würde zudem ein Kapitalfonds geschaffen, mit dem Projekte einzelner Gemeinderäte finanziert werden können.

Militärische Reformen

Drei Artikelreformen beziehen sich auf die Streitkräfte und haben das Ziel, die territoriale Integrität Venezuelas zu sichern, indem alle Teilstreitkräfte in eine gemeinsame Kommandostruktur eingebunden werden. Ebenso soll die Bekämpfung des Drogenhandels und anderer illegaler Aktivitäten vereinfacht werden.

Die vorgeschlagene Reform des Artikels 11 erklärt die maritimen Besitzungen (etwa 270000 Quadratmeilen) zu national souveränen Gebieten. Dies würde der Exekutive die Ausweisung von »militärischen Sonderzonen« zum Zweck der nationalen Verteidigung ermöglichen. Dazu zählt etwa die Bekämpfung des Drogenhandels und des international organisierten Verbrechens. Auch würde ein besserer Schutz der Grenzen gewährleistet. Der Reformvorschlag für den Artikel 329 führt die einzelnen Abteilungen der bewaffneten Streitkräfte Venezuelas wie das Heer, die Marine, die Luftwaffe, die Territorialgarde (Grenzschutz) und die Volksmiliz (vormals »Nationale Reserve«) auf. Während die nationalen Reserveverbände einem Gesetz unterworfen waren, das der Regulierung der bewaffneten Streitkräfte galt, unterstehen die neuen Volksmilizen dem Reformvorschlag zufolge demselben Kommando wie die anderen Teilstreitkräfte. Die Streitkräfte würden in »Bolivarische Streitkräfte« umbe­nannt.

Ausnahmezustand

Während der zweiten Lesung hat die Nationalversammlung eine Reform des Artikels 337 vorgeschlagen, die zur Aufhebung gewisser politischer Freiheiten im Fall eines Ausnahmezustandes führen würde. Schon die Artikel 240 und 241 der Verfassung von 1961 beinhalteten ähnliche Beschränkungen ziviler und politischer Rechte während nationaler Notstände.

Auch wenn dieser Reformvorschlag stark kritisiert wird, so steht er doch in Übereinstimmung mit ähnlichen Machtbefugnissen wie sie demokratischen Regierungen überall auf der Welt zugestanden werden – auch in Europa. In den USA erlaubt der National Emergencies Act (Nationales Notstandsgesetz) von 1976 dem Präsidenten die Ausrufung eines Notstandes und die Einschränkung gewisser Rechte, einschließlich des Rechts auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren (habeas corpus), und dies bis zu einer Dauer von zwei Jahren. Von 1976 bis zum Jahr 2001 hat es in den USA 32 Fälle von erklärtem nationalen Notstand gegeben.

Das Völkerrecht erkennt den Anspruch von Regierungen an, bestimmte Rechte unter extremen Umständen zu beschränken. Artikel 4 der »Internationalen Konvention für zivile und politische Rechte«, die von Venezuela am 10. August 1978 unterzeichnet wurde, stellt fest: »In Zeiten eines öffentlich erklärten Notstandes, der Leben und Existenz der Nation bedroht, haben die Unterzeichnerstaaten der vorliegenden Konvention das Recht, Maßnahmen zu ergreifen, welche von ihren Verpflichtungen gemäß dieser Konvention abweichen.«

Während die Reform des Artikels 337 die Einschränkung gewisser Rechte für die Zeit eines nationalen Notstandes ermöglicht, bliebe doch eine Reihe von Rechten bestehen, einschließlich des Rechtes auf Leben und persönliche Unversehrtheit, das Recht auf juristische Verteidigung und das Recht auf ein faires Verfahren. Verboten bleiben Folter und das »Verschwindenlassen« aus der Isolationshaft. Dies stellt sicher, daß Venezuela weiterhin im Einklang mit seinen internationalen Verpflichtungen steht.

Weitere Reformen

Als die verfassunggebende Versammlung 1999 die Konstitution neu schrieb, zielte ein großer Teil der Artikel darauf ab, historisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen neue Rechte zuzuerkennen. 111 der insgesamt 350 Verfassungsartikel beziehen sich seither positiv auf politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Viele der nun vorgeschlagenen Reformen dienen dem Schutz und der Förderung von Rechten und Freiheiten.

Die Reform des Artikels 21 fügt die sexuelle Orientierung und körperliche Gebrechen zu den Kategorien hinzu, bei denen Diskriminierung verboten ist. Mit der Reform des Artikels 64 könnte, dem Beispiel von Österreich, Nicaragua und Brasilien folgend, das Wahlalter auf 16 Jahre herabgesetzt werden. Der Artikel 82 soll das Recht auf angemessenen Wohnraum für alle Venezolaner gesetzlich regeln und es dem Staat verbieten, Personen aufgrund juristischer Sanktionen die Wohnung zu entziehen. Der Vorschlag für Artikel 87 geht auf die Schaffung eines Sozialversicherungsfonds für jene Venezolaner ein, die selbständig sind oder im informellen Sektor arbeiten. Der neue Artikel 90 soll die Wochenarbeitszeit von 44 auf 36 Stunden verkürzen. Im überarbeiteteten Artikel 98 wird die Schaffung und Verbreitung von Kulturgütern geschützt. Der Artikel 100 soll das afrovenezolanische Kulturerbe anerkennen. Der Reformvorschlag für den Artikel 103 bekräftigt das Recht auf Bildung für alle Venezolaner und legt die Kostenfreiheit jedweder öffentlichen Bildung bis hin zur Universität fest. Die Reform des Artikels 158 bestimmt, daß die Regierung die aktive Teilhabe der Bürger am demokratischen System des Landes sicherzustellen hat. Mit dem überarbeiteten Artikel 272 soll festgelegt werden, daß das venezolanische Strafrechtssystem seine Anstrengungen auf die volle Rehabilitation der Gefangenen zu richten und die Respektierung ihrer Menschenrechte während der Haftzeit zu gewährleisten hat.

* Aus: junge Welt, 28. November 2007


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