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Staatsstreich-Stimmung

Venezuelas Rechte schürt Chaos und Gewalt, um die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 14. April zu "korrigieren"

Von Friedrich Schmalzbauer, Barinas *

Seit dem 15. April, dem Tag nach der Präsidentschaftswahl, herrscht in Venezuela offener Terror von rechts, ausgelöst und orchestriert von Henrique Capriles, dem USA-freundlichen Verlierer der Wahlen im vergangenen Oktober gegen Hugo Chávez und im April, wenn auch mit geringem Rückstand, gegen Nicolás Maduro. Spätestens seit dem 8. Dezember, als Chávez erstmals öffentlich von der Möglichkeit sprach, aufgrund seiner Krebserkrankung aus dem Amt scheiden zu müssen, wurden in Venezuela Putschpläne geschmiedet, wie der bolivianische Staatspräsident Evo Morales am 1. Mai erklärte.

3. Mai, 19 Uhr, abends auf den Straßen von Caracas. Auf der Suche nach einer Unterkunft führt uns eine Passantin (»gefährlich um diese Zeit …«) zum, wie sich herausstellt, falschen Hotel. Bis dahin erfahren wir viel über die Widersprüche der venezolanischen Gesellschaft, während aus dem Fenster einer besser situierten Wohnung jemand auf einen Kochtopf schlägt – Capriles hat diesen »Widerstand« empfohlen. Die Schwester unserer Begleiterin sei Anhängerin von Chávez, erzählt diese, protestiere aber zur Zeit ebenfalls gegen die Wahl von Maduro. Warum? Weil sie ihn »nicht mag«. Sie selbst habe nichts von den Terrortoten gehört, die unmittelbar nach der Verkündung des Wahlergebnisses Opfer rechter Schlägerbanden wurden. Auch die angezündeten Parteizentralen der Sozialisten ignoriert sie.

4. Mai, 6 Uhr morgens in einem teuren Hotel in Caracas. Eine unsichtbare Hand schiebt die Zeitung La Nación unter dem Türschlitz durch. Seite eins: Capriles fordert eine vollständige Neuzählung der Stimmen. Dabei ist das venezolanische elektronische Wahlsystem der US-amerikanischen Carter-Stiftung zufolge »das beste der Welt«. Aber darum geht es gar nicht. Chávez, der eine breite Zustimmung für seine Sozialprojekte und seine USA-kritische Außenpolitik genoß, ist tot. Der Zeitpunkt für eine Umkehrung der Politik durch Gewalt und Chaos ist günstig. Da hilft auch keine Anerkennung des Wahlergebnisses durch fast alle lateinamerikanischen Staaten und – nach einem »Mißverständnis« des konservativen Außenministers – durch Spanien. Die »Sozialistische Internationale«, darunter die deutschen Sozialdemokraten, reihen sich übrigens in das Lager der USA und der Capriles-Anhänger ein.

4. April, 11 Uhr, nationaler Teil des Flughafens von Caracas. Ein junger Mann, Tiefbauunternehmer, berichtet in der Warteschlange zum Flug nach Barinas, einer Stadt im Westen Venezuelas, über die Probleme des Landes. Er sei sich aber bewußt, daß Capriles keine Alternative sei. Er erzählt von einer Begegnung mit Hugo Chávez und von der beeindruckenden Persönlichkeit von dessen Vater Hugo de los Reyes. Die Familie Chávez stammt aus der Ortschaft Sabaneta im Bundesstaat Barinas. In dessen gleichnamiger Hauptstadt wurde am 15. April die Zentrale der Vereinten Sozialistischen Partei angezündet. Anschließend behauptete eine eifrige Kommentatorin auf einer Homepage, die Fotos der angerichteten Schäden seien Fälschungen. Nur: Der Brand und die Brandschäden sind dokumentiert und reihen sich in andere Brandanschläge gegen Parteizentralen und Sozialstationen ein. Eine junge Frau berichtet unter Tränen, sie sei nur knapp dem Tod entkommen, als eine Bande versuchte, ihr Auto anzuzünden. Umstehende hören erschüttert zu.

Der letzte Putschversuch, damals gegen Hugo Chávez, scheiterte 2002. In Lateinamerika fanden seitdem mehrere, zum Teil »gelungene« Staatsstreiche gegen fortschrittliche Präsidenten statt, in Honduras, Paraguay, Ecuador und Bolivien. Venezuelas Präsident Maduro und das »Kommando Hugo Chávez«, der Wahlkampfstab des Regierungslagers, sehen einen umfassenden Plan zur Destabilisierung des Landes ablaufen, um eine ausländische bewaffnete Intervention zu rechtfertigen. So konnte das venezolanische Militär eine Gruppe Bewaffneter festnehmen, die sich als offizielle Streitkräfte getarnt hatte und offenbar Anschläge auf führende Vertreter des Landes verüben sollte.

Es steht allerdings auch fest, daß die venezolanische Linke das Kräfteverhältnis vor der Wahl vom 14. April falsch eingeschätzt hat. Befördert wurde dies durch die Umfragen, die eine ähnlich komfortable Mehrheit vorausgesagt hatten, wie sie Hugo Chávez im Oktober erringen konnte. Doch nach dessen Tod traten für viele Menschen die täglichen Probleme in den Vordergrund: Ökonomische Unzulänglichkeiten, darunter eine immer noch hohe Inflation, die gezielte Verknappung von Lebensmitteln durch führende Großunternehmer, Vetternwirtschaft und die tatsächliche oder eingebildete Unsicherheit sowie die gelegentliche Verschwendung von öffentlichen Mitteln in im Prinzip richtigen Staatsprojekten. Dagegen verblaßten die enormen Fortschritte im Kampf gegen Armut und Analphabetentum sowie für die Volksgesundheit, ganz zu schweigen von den neuen, demokratischen Bündnissen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, in denen die USA keine Rolle spielen. Zudem gilt die Binsenweisheit, daß Maduro nicht Chávez ist. Er ist dessen jahrzehntelanger Weggefährte und muß seinen eignen Stil und seinen Weg der »Revolution in der Revolution« finden.

Niemand kann Hugo Chávez »ersetzen«. Dessen Gabe, mit tiefer innerer Überzeugung die Sache des Volkes zur Sprache zu bringen, die persönliche Ansprache zu bevorzugen und so gut wie keinen Text vom Blatt abzulesen, kann kaum nachgeahmt werden. Dagegen kommt es in der aktuellen, explosiven Situation darauf an, das bolivarische Projekt fortzusetzen und die große Mehrheit des Volkes durch eine nachvollziehbare, wenn nötig selbstkritische Praxis zurückzugewinnen. Capriles, der Brandstifter mit Rückenwind aus den USA, ist hingegen eine Gefahr für die fortschrittlichen Projekte und die friedliche Kooperation in Lateinamerika. Das haben auch die Staatschefs unter anderem aus Ecuador, Argentinien, Bolivien, Kuba, und Uruguay erkannt und öffentlich geäußert.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 7. Mai 2013


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