Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rechter Aufstand gegen das Wahlergebnis

In Venezuela macht die Opposition Jagd auf Regierungsanhänger und ihre Einrichtungen

Von Malte Daniljuk, Caracas *

Die Straße Las Mercedes liegt im reichen Osten von Caracas. Am Montagnachmittag ist die Straße verstopft. Sie wird aber nicht vom täglichen Stau blockiert, sondern von Dutzenden Geländewagen mit verdunkelten Scheiben, die wild hupend Richtung Osten fahren, dorthin, wo gerade der Nationale Wahlrat das Endergebnis der Präsidentschaftswahlen vom Sonntag bekannt gibt. Am Straßenrand stehen Kamerateams der privaten Fernsehsender. Auf den Beifahrersitzen wird mit Kochtöpfen geklappert. Das Hupen und Klappern legt sich über den ganzen Stadtteil.

Die Betreiber des anliegenden Shopping-Centers haben alle Läden schließen lassen. Der Angestellte des privaten Sicherheitsdienstes vermutet, dass so den Mitarbeitern Gelegenheit gegeben werden soll, an den Protesten teilzunehmen, zu denen der knapp unterlegene Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles, im privaten Nachrichtenkanal Globovisión aufgerufen hat. Aber längst nicht alle Angestellten nutzen die überraschende Arbeitspause. Dort, wo Fernseher stehen, sitzen Mitarbeiter und schauen sich die Rede von Wahlsieger Nicolás Maduro an. Auch der Sicherheitsbeamte klemmt sein Handy ans Ohr und lauscht der Radioübertragung.

Davon, dass zur selben Zeit Zehntausende Unterstützer der Regierung im Westen der Stadt den neuen Präsidenten feiern, ist später auf den privaten Kanälen nichts zu sehen. Gesendet werden Bilder von jugendlichen Aktivisten, die die Stadtautobahn Francisco Fajardo besetzen und sich ein Katz- und-Maus-Spiel mit der Nationalpolizei liefern. Während die Situation am Nachmittag laut, aber insgesamt friedlich ist, eskalieren die Auseinandersetzungen nach Sonnenuntergang. Vermummte Oppositionelle liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei.

Hunderte Anhänger der Opposition belagern das Gebäude des internationalen Nachrichtensenders Telesur. Sie werfen Steine und Flaschen, beschimpfen und bedrohen Mitarbeiter, die das Gebäude verlassen. In Caracas und mehreren anderen Bundesstaaten jagen rechte Aktivisten die Unterstützer der Regierung. Von mindestens vier Toten Regierungsanhängern ist am nächsten Morgen die Rede. Im Stadtteil Palo Verde zünden Oppositionelle ein Gesundheitszentrum an, in anderen Stadtteilen werden die Häuser aus den Sozialprogrammen der Regierung gestürmt und demoliert. Der Mob greift die kubanischen Ärzte an, die in den Gesundheitsstationen ihren Dienst verrichten.

Die Verfolgungswut der rechten Opposition richtet sich gegen alle Symbole der sozialistischen Regierung und der Sozialprogramme. Aus zahlreichen Regionen liegen am Dienstagvormittag Berichte vor, dass Parteibüros der PSUV, alternative Radiostationen, subventionierte Lebensmittelmärkte und andere Einrichtungen der Regierung verwüstet wurden.

Als erster äußert sich am Morgen der Gouverneur des Bundesstaates Anzoátegui, Aristóbulo Istúriz. Er ruft die Unterstützer des bolivarischen Prozesses auf, sich nicht provozieren zu lassen. »Das ist die direkte Fortsetzung des Putschversuches von April 2002, das ist eine Demonstration des Faschismus.« Über den Nachrichtenkanal Twitter macht der Präsident des Parlaments, Diosdado Cabello, den Kandidaten der Opposition für die Eskalation verantwortlich: »Purer Faschismus. Das hast du verursacht, Capriles, unverantwortlich.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 17. April 2013


Warnung vor Putsch

Venezuela: Opposition geht gewaltsam gegen Einrichtungen der Regierung und der Sozialistischen Partei vor. Präsident Maduro: Staatsstreich verhindern

Von André Scheer, Caracas **


In Venezuela will die rechte Opposition den Wahlerfolg des neuen Präsidenten Nicolás Maduro nicht anerkennen. Der am Sonntag knapp unterlegene Kandidat der Regierungsgegner, Henrique Capriles Radonski, hat seine Anhänger zu Protestaktionen aufgerufen und will am heutigen Mittwoch mit ihnen zum Sitz des Nationalen Wahlrates (CNE) demonstrieren. Maduro sei ein »illegitimer Präsident«. Zwar betonte Capriles in einer äußerst aggressiv vorgetragenen Ansprache vor dem Sitz seines Wahlkampfstabes im Osten der Hauptstadt Caracas, daß die Protestaktionen »gewaltfrei« sein müßten, doch in mehreren Städten brannten bereits Büros der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Auch Gesundheitseinrichtungen, in denen kubanische Ärzte arbeiten, waren das Ziel von Übergriffen. Informationen des linken Internetportals Aporrea zufolge wurden mindestens vier Regierungsanhänger von Oppositionellen ermordet.

Capriles hatte zuvor eine »Neuauszählung« aller Stimmzettel gefordert. Allerdings wird in Venezuela per Wahlmaschine abgestimmt, auf Papier werden lediglich Kontrollzettel ausgedruckt, damit die Wähler überprüfen können, daß ihre Stimme korrekt gewertet wurde. Sie werden anschließend in die Wahlurnen geworfen. Eine Überprüfung dieser Zettel mit den elektronisch übermittelten Ergebnissen hatte schon am Sonntag auch Wahlsieger Nicolás Maduro vorgeschlagen. Zugleich erinnerte dieser jedoch daran, daß ohnehin 54 Prozent aller Stimmen in dieser Weise kontrolliert werden. Vor Jahren hatte die Opposition genau diesen Anteil gefordert und gedroht, sonst die damaligen Wahlen zu boykottieren.

Jetzt behauptete Capriles, die Regierung versuche, »Beweise verschwinden« zu lassen. Sein Kommandostab habe mehr als 3000 Beschwerden über Verstöße gegen die Wahlgesetze erhalten, die ihm vorliegenden Ergebnisse seien »andere als die am Sonntg verkündeten«. Er rief seine Anhänger dazu auf, ihn am heutigen Mittwoch zum CNE »zu begleiten«, wo er gegen die offiziellen Ergebnisse protestieren wolle.

Demgegenüber hatte CNE-Präsidentin Tibisay Lucena am Montag die Einmischung der USA, der EU und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in die inneren Angelegenheiten Venezuelas zurückgewiesen. Venezuela sei ein Rechtsstaat, der respektiert werden müsse. Wenn es unterschiedliche Meinungen über die Ergebnisse gäbe, müsse Capriles die für Beschwerden vorgesehenen juristischen Instanzen anrufen, unterstrich sie.

Auch Venezuelas gewählter Präsident Nicolás Maduro erklärte, daß die Opposition mit der Nichtanerkennung der Ergebnisse einen Staatsstreich vorbereite. »Wir wissen, was zu tun ist«, unterstrich er. »Wir sind Anhänger des Frieden, aber wir werden die politische Stabilität dieses Landes zu schützen wissen.« Konkret prangerte er die Botschaften der USA und Spaniens in Caracas an, weil diese in die Pläne der Opposition verwickelt seien. Teile der Opposition seien »vor den Gringos auf die Knie gefallen« und hätten »Lust aufs Töten«. Mehrheit sei jedoch Mehrheit und müsse verteidigt werden, so Maduro: »In Venezuela gibt es zwei Hälften: Eine patriotische, revolutionäre, sozialistische Hälfte, die die Mehrheit hat, und eine andere Hälfte, die die Minderheit ist.« Das Vorgehen der Opposition verglich er mit »Deutschland in den 30er und 40er Jahren«.

Von Seiten der deutschen Bundesregierung gibt es noch immer keine Stellungnahme zu den Wahlen in Venezuela.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 17. April 2013


"Die Revolution braucht eine kollektive Führung"

Nicolás Maduro siegt mit 50,7 bei Präsidentenwahl in Venezuela: Mangelhafte Vertiefung des bolivarischen Prozesses ist eine Ursache für knappes Ergebnis. Ein Gespräch mit Carlos Aquino ***

Carlos Aquino ist Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV).

Die Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag ist knapper ausgefallen als erwartet. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Wir Kommunisten wissen, daß es für alles eine Erklärung gibt. Es wäre aber voreilig, eine genaue Erklärung über die Ursachen bestimmter Entwicklungen abgeben zu wollen. Aber festzuhalten ist, daß sich das venezolanische Volk in ausreichend klarer Weise, mit mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine politische Option entschieden hat.

Ist dieses Ergebnis auch ausreichend klar, um die Bolivarische Revolution weiter zu vertiefen und voranzutreiben?

Möglicherweise ist eine Erklärung für dieses Ergebnis sogar, daß es an größerem Einsatz für eine Vertiefung des revolutionären Prozesses in Venezuela gefehlt hat. In der Vergangenheit hat die starke Persönlichkeit des Comandante Chávez und seine große Führungskraft in gewisser Weise bestimmte Defizite überlagert. Diese zu überwinden ist in unseren Augen jetzt die Aufgabe, vor der der revolutionäre Prozeß steht. Bislang hatte er mit dem Präsidenten Hugo Chávez eine große Symbolfigur. Doch wir sind davon überzeugt, daß das venezolanische Volk auch unter den neuen Bedingungen bereit ist, diesen Prozeß weiter voranzutreiben.

Hat diese Wahl Nicolás Maduro gewonnen – oder Hugo Chávez? Immerhin war dessen Bild im Wahlkampf fast präsenter als das des Kandidaten …

Der Erfolg am Sonntag war ebenso wie die Siege bei früheren Wahlen ein Erfolg des venezolanischen Volkes. Das Ergebnis zeigt, wenn auch knapper als früher, daß das venezolanische Volk in unserem Land weiter die Hauptrolle spielen will. In den vergangenen 14 Jahren ist in unserem Land ein Verständnis dafür entstanden, daß die Leitung der Geschicke in den Händen des Volkes liegt, und der Präsident dafür die politische Verantwortung trägt. Das Volk nimmt nicht nur an den Wahlen teil, sondern ist ständiger Akteur bei der Entwicklung und Ausgestaltung der Politik in unserem Land. Wir sind uns natürlich bewußt, daß die internationale Rechte nun auf verschiedenen Wegen versuchen wird, diesen Erfolg in Frage zu stellen.

Es ist aber offensichtlich, daß Nicolás Maduro noch nicht über dieselbe Autorität wie Hugo Chávez verfügt. Wie wird sich der revolutionäre Prozeß unter diesen neuen Bedingungen verändern?

Bereits in den vergangenen Jahren, auch als Präsident Chávez noch lebte, hat die Kommunistische Partei Venezuelas immer wieder auf die Notwendigkeit einer kollektiven Führung des revolutionären Prozesses hingewiesen. Wir haben uns nie auf der großen Glaubwürdigkeit und Führungsfähigkeit des Comandante Chávez ausgeruht, und das gilt auch mit einem Präsidenten Nicolás Maduro an der Spitze. Eine kollektive Führung ist unverzichtbar dafür, dem revolutionären Prozeß historische Kontinuität zu verleihen.

Präsident Maduro hat sich bereits bereiterklärt, Schritte zu einer solchen kollektiven Führung zu gehen und Räume für eine gemeinsame Diskussion, Ausarbeitung und Entwicklung der Staatspolitik zu schaffen. Das sind erste Schritte, die bereits unter Hugo Chávez begonnen wurden, als dieser den Großen Patriotischen Pol ins Leben rief.

Bislang haben die Streitkräfte in Venezuela eine wichtige Rolle gespielt, auch weil Hugo Chávez aus ihren Reihen stammte. Wie wird sich das Verhältnis der Revolution zur Armee nun entwickeln?

Das ist eine historisch heikle Frage. Man muß verstehen, daß die Strukturen des Militärs eine der herrschenden Säulen des Staates sind, der in Venezuela nach wie vor den Charakter eines bürgerlichen Staates hat. Wir stellen deshalb fest, daß die venezolanischen Streitkräfte, auch wenn sie den Namen »Bolivarisch« tragen, kein Stützpunkt eines neuen Staates sind, denn diesen neuen Staat gibt es noch nicht. Der Klassenkampf, der sich in allen gesellschaftlichen Bereichen abspielt, findet auch in den Streitkräften statt. Unter Bedingungen einer revolutionären Bewegung, wie wir sie jetzt in Venezuela erleben, verschärft sich der Klassenkampf. Deshalb ist die ideologisch-politische Arbeit im Rahmen der Streitkräfte unverzichtbar, um immer größere Teile des Militärs für die revolutionären Veränderungen zu gewinnen, die in Venezuela noch ausstehen. Wir sind uns dabei bewußt, daß die venezolanischen Streitkräfte in der Geschichte unseres Landes an Versuchen der revolutionären Veränderung beteiligt waren. Deshalb gibt es für dieses Ziel eine günstige Basis in der Armee.

Solche Informationen werden von den meisten internationalen Medien nicht verbreitet. Welche Möglichkeiten hat das venezolanische Außenministerium, Ihre Sichtweise im Ausland darzustellen?

Wir sind auf den Zugang zu alternativen, fortschrittlichen Medien angewiesen. Das gilt nicht nur im Ausland, sondern auch in Venezuela selbst. Die sieben großen kommerziellen Mediengruppen in unserem Land verfolgen die Linie, nicht über die Gewalt der Opposition zu informieren und stattdessen die Regierung von Nicolás Maduro als illegitim zu attackieren. Zudem hat es Treffen von Außenminister Elías Jaua mit dem gesamten diplomatischen Korps und Pressekonferenzen mit allen in Venezuela akkreditierten internationalen Medien gegeben. Uns ist aber klar, daß die meisten Medien entsprechend ihrer Linie darauf beharren werden, den neuen Putschversuch zu unterstützen.

Interview: André Scheer, Caracas

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 17. April 2013


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