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Rebellion der Gutbetuchten

In Venezuela probt ein Teil des Militärs »zivilen Ungehorsam«. Chávez-Gegner im Dauerprotest

Von Jens Holst

»Deine Tage sind gezählt« und »Tritt zurück, Dummkopf«, steht auf den Plakaten neben einem Konterfei des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. »Zieht Chávez zur Rechenschaft«, fordert die rechte Partei Primero Justicia (Recht zuerst). Seit zwei Wochen herrscht Ausnahmezustand auf dem Francia-Platz im vornehmen Stadtteil Altamira der Hauptstadt Caracas. Am 22. Oktober besetzte eine kleine Gruppe venezolanischer Militärs den Platz, um mit ihrem »zivilem Ungehorsam« die Regierung zum Rücktritt zu drängen. Deutlicher konnten die Offiziere, von denen ein großer Teil bereits aktiv am Putsch vom 11. April dieses Jahres beteiligt war, nicht zu einem gewaltsamen Sturz der gewählten, aber mittlerweile heftig umstrittenen Chávez-Regierung aufrufen. Doch bisher sind ihnen die Panzer nicht zu Hilfe gekommen.

Dafür haben sich weitere Uniformierte sowie Zivilisten der radikalen Opposition der Aktion angeschlossen. Die fast ausnahmslos Chávez-feindlichen Fernsehsender berichten ohne Unterlaß über das Ereignis, als wäre es die Vorstufe zur Revolution. Doch gegenüber den Fernsehbildern wirken die mehreren hundert Demonstranten allenfalls wie ein kleines, aber durchaus gewaltbereites Grüppchen. An Haut- und Haarfarbe, Kleidung und vor allem am typisch arroganten Verhalten der lateinamerikanischen Oberschichten sind sie in ihrer Mehrheit unschwer als Angehörige der betuchteren Klassen zu erkennen.

Und das sind genau die Bürger des südkaribischen Landes, die traditionell die Macht in dem erdölexportierenden und daher relativ wohlhabenden Staat innehatten und in der »bolivarianischen Revolution« des charismatischen Hugo Chávez etwas zu verlieren haben. Oder zumindest etwas zu verlieren hätten, stünden denn hinter Chávez’ markigen Worten auch Taten. Doch die Erfolge seiner Amtszeit fallen mehr als bescheiden aus, seine Revolution ist eigentlich nie in Gang gekommen. »Wenn Chávez morgen sagen würde, ich werde meinen Kurs korrigieren, dann müßte er einzig und allein seinen Diskurs ändern«, kritisiert denn auch der Exminister und Zeitungsherausgeber Teodoro Petkoff. »Hier sind keine Unternehmen verstaatlicht worden, keine Banken, es gab keine Bodenreform, kein Fitzelchen ist passiert. Diese Zwitterregierung mit ihrem globalisierungskritischen, antineoliberalen Diskurs hat die orthodoxe Wirtschaftspolitik des IWF betrieben. Aber der aggressive, intolerante und brutale Diskurs von Chávez hat viele erschreckt und angestachelt.«

Der renommierte Kenner der politischen Lage geht noch weiter, wenn er sagt, Chávez habe sich seine Feinde erst selber geschaffen. »Die Lage ist deshalb so verfahren, weil Chávez zwar keine Revolution durchgeführt, dafür aber eine Konterrevolution erzeugt hat. In dieser Antibewegung dominieren ultrarechte Positionen, die sich in einem Kreuzzug gegen den kommunistischen Totalitarismus wähnen.« So wie die »ungehorsamen« Militärs auf dem Francia-Platz in Altamira, die auf nichts anderes warten, als daß die Armeeführung Panzer zu ihrer Unterstützung auffahren läßt, um ihren unvollendeten Traum vom Putschversuch am 11. April zu vollenden.

So mochten sich auch die Hardliner in der venezolanischen Opposition nicht recht mit der Vermittlungsmission von César Gaviria, dem Vorsitzenden der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), anfreunden, der in diesen Tagen zum dritten Mal im Land weilte. Im Grunde ihres Herzens erwartet die machtgewohnte Elite in dem südamerikanischen Land von dem OAS-Vermittler, daß er Chávez einfach mal sagt, wo es langgeht. Statt dessen kritisiert er das aufrührerische Verhalten der »Militärs im zivilen Ungehorsam«, ein unübersehbarer Widerspruch in sich. Darauf hin stürmten deren Anhänger kurzerhand eine Pressekonferenz von Gaviria im noblen Meliá-Hotel im Stadtzentrum.

Doch auch wenn die radikalen politischen Gruppen immer besonders spektakulär und medienwirksam auftreten, umfaßt der Kreis der Chávez-Kritiker mittlerweile weite Teile der venezolanischen Zivilgesellschaft. Die Mehrheit hofft darauf, daß die demokratische Kultur mittlerweile so weit gereift ist, daß sich ein gewaltsamer Aufstand und Blutvergießen vermeiden lassen. Die meisten eint die maßlose Enttäuschung über die Untätigkeit dieser Regierung, die bisher praktisch kein Wahlversprechen eingelöst hat.

»In Venezuela gab es nie eine Trennung der Klassen, keine Unterscheidung nach sozialem Status, nach Rasse, nach Geschlecht«, wirft Alfonso Marquina, Parlamentsabgeordneter der sozialdemokratischen Acción Democrática (Demokratische Aktion), der Chávez-Regierung vor. »Die Beziehungen zwischen Reichen und Armen, zwischen Weißen und Schwarzen, zwischen Landarbeitern und Agrarunternehmern waren bestens.« Wer einer derartigen Sozialromantik anhängt, für den müssen die Forderungen der »bolivarianischen Revolution« natürlich äußerst bedrohlich wirken, die heftige Reaktion auf deren verbal radikalen Anführer ist erklärlich. Schließlich wird Venezuela nach der Chávez-Ära, egal wie lange sie noch dauern wird, nicht mehr so sein wie vorher. Die ausgeschlossene arme Bevölkerungsmehrheit, die sich bisher schweigend ihrem Schicksal gefügt hatte, das durch die Erdöleinnahmen auch im regionalen Vergleich erträglich war, hat zum ersten Mal ein Gefühl dafür bekommen, daß sie sich äußern, Forderungen stellen und an der Politik teilnehmen können.

Aus: junge Welt, 7. November 2002


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