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Auf den letzten Drücker

Venezuelas Abgeordnete legen am Ende ihrer Amtszeit hohes Arbeitstempo vor

Von André Scheer *

Am 5. Januar treten die im vergangenen September gewählten Abgeordneten der venezolanischen Nationalversammlung ihr Mandat an. Dann endet für das Regierungslager die bequeme Situation der vergangenen fünf Jahre, in denen die Koalition um die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) dank des Boykotts der Wahl 2005 durch die Opposition nahezu uneingeschränkt Schalten und Walten konnte. Zwar behält das Regierungslager, das bei der Wahl im September 48,13 Prozent der Stimmen erreichte, aufgrund der Besonderheiten des Wahlrechts mit 98 Abgeordneten eine deutliche Mehrheit in der Nationalversammlung. Für Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit benötigen, ist es künftig aber auf die Unterstützung von einigen der 65 oppositionellen Abgeordneten angewiesen, deren Bündnis 47,22 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Bei den noch amtierenden Abgeordneten hat angesichts des bevorstehenden Endes ihres Mandats hektische Betriebsamkeit eingesetzt. Allein in den vergangenen zwei Wochen verabschiedeten die Parlamentarier 16 Bestimmungen, darunter vor allem »Organgesetze«, die eine Zweidrittelmehrheit benötigen. Für Aufregung sorgte dabei in der vergangenen Woche die Verabschiedung eines neuen Parteiengesetzes, durch das künftig Abgeordnete aus dem Parlament ausgeschlossen werden können, die ihre Fraktion wechseln.

In der Tat gab es in der Vergangenheit immer wieder einzelne Abgeordnete des Regierungslagers oder gar ganze Parteien, die in das Oppositionslager wechselten. Trotzdem verweigerte die mit der PSUV verbündete Kommunistische Partei (PCV) dem neuen Gesetz ihre Zustimmung. »Die Sanktionen müssen durch das Volk vorgenommen werden, das den Abgeordneten gewählt hat, und nicht durch Institutionen. Dafür gibt es die in der Verfassung festgelegten Mechanismen wie die Mandatsentziehung«, kritisierte PCV-Generalsekretär Oscar Figuera.

Ebenfalls verabschiedet hat das Parlament auf 18 Monate befristete Sondervollmachten für Präsident Hugo Chávez, damit dieser unbürokratisch die Auswirkungen der schweren Überschwemmungskatastrophe der vergangenen Wochen bewältigen kann. In der Folge schwerer Regenfälle in weiten Teilen des Landes waren 38 Menschen ums Leben gekommen, über 130000 mußten ihre Häuser verlassen. Vor allem an Berghängen gelegene Gebäude, die bei den Unwettern beschädigt wurden, sollen nun abgerissen werden. Damit will die Regierung eine Wiederholung der »Tragödie von Vargas« im Dezember 1999 verhindern. Nach tagelangen Regenfällen waren damals die aufgeweichten Berghänge in der Küstenregion um Caracas ins Rutschen geraten und hatten ganze Wohnviertel mit sich gerissen. Mehrere zehntausend Menschen sollen damals ums Leben gekommen sein.

Um den Wiederaufbau der jetzt betroffenen Gemeinden zu finanzieren, will Präsident Chávez offenbar eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von derzeit 12 Prozent anordnen. In der Vergangenheit war diese Abgabe mehrfach gesenkt worden, und die Regierung hatte sogar von einer kompletten Abschaffung gesprochen, weil durch sie vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten belastet werden. Daran will auch die PCV festhalten und fordert vom Staatschef statt dessen eine Erhöhung der Einkommenssteuer, eine Abgabe auf Spekulationsgewinne sowie eine Verstaatlichung des gesamten Finanz- und Bankensektors des Landes, und zwar »wirklich und nicht durch den Kauf von Aktien«.

* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2010


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