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Caracas zieht Schlußstrich

Venezuela verläßt Interamerikanische Kommission für Menschenrechte

Von André Scheer *

Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof verlangt von Venezuela, einem verurteilten Bombenleger 15000 US-Dollar Schmerzensgeld zu zahlen. Raúl José Díaz Peña sei im Gefängnis »unmenschlich und entwürdigend behandelt« worden, urteilten die Richter des Tribunals, das ein Organ der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) mit Sitz in Washington ist. Díaz Peña war am 25. Februar 2004 verhaftet und zu neun Jahren Haft verurteilt worden, weil er 2003 Sprengsätze an der Botschaft Spaniens und am Konsulat Kolumbiens in Caracas plaziert haben soll. Am 13. Mai 2010 wurde er vorzeitig auf freien Fuß gesetzt, woraufhin er sich nach Miami absetzte und in den USA politisches Asyl erhielt. Dort halten sich auch mehrere mutmaßliche Mittäter auf.

Die Attentate sollten wenige Monate nach dem gescheiterten Putschversuch im April 2002 und der wochenlangen Sabotage der Erdölindustrie durch die Opposition an der Wende zum Jahr 2003 offenbar eine Beruhigung der Lage in dem südamerikanischen Land verhindern. Nach den Anschlägen, bei denen mehrere Menschen verletzt worden waren, tauchten Flugblätter auf, denen zufolge sich die »Bolivarischen Befreiungskräfte« (FBL) der Taten bezichtigten. Sie waren gefälscht. Die FBL selbst, eine seit 1992 bestehende linke Guerillaformation im Grenzgebiet zu Kolumbien, wiesen damals jede Verantwortung für die Taten zurück. Trotzdem machten rechte Zeitungen und Fernsehsender die Regierung von Hugo Chávez für die Taten verantwortlich. Tatsächlich waren die Täter jedoch offenbar frühere Militärs und Nationalgardisten, die sich mit dem Scheitern der Umsturzversuche in den Monaten zuvor nicht abfinden wollten.

Für Venezuelas Regierung ist die am 20. Juli veröffentlichte Entscheidung des Gerichtshofs der letzte Anstoß, die Organisation zu verlassen. In den vergangenen Monaten hatte Präsident Chávez mehrfach mit einem Austritt aus der CIDH gedroht, die er als »Damoklesschwert« im Interesse der USA bezeichnete. Am Donnerstag abend (Ortszeit) kündigte Außenminister Nicolás Maduro nun gegenüber der Nachrichtenagentur AP an, »in den nächsten Stunden« werde die venezolanische Botschaft bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der die CIDH angegliedert ist, deren Generalsekretär José Miguel Insulza die offizielle Austrittserklärung überreichen. Dann beginne die Frist von einem Jahr, bis dieser Schritt offiziell in Kraft trete. Die Regierung sei gezwungen gewesen, nach den »abwegigen und mißbräuchlichen Entscheidungen gegen unser Land in den vergangenen zehn Jahren« einen Schlußstrich zu ziehen. »Seit seiner Gründung 1959 bis zum Beginn der Bolivarischen Revolution (1999) hat die CIDH nur fünf Petitionen wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Venezuela angenommen«, kritisierte Maduro, »obwohl es in diesen Jahrzehnten im Überfluß Berichte über ›Verschwindenlassen‹ oder die Repression gegen Oppositionelle gegeben hat.« Demgegenüber habe die Kommission allein 2011 zwölf Urteile gegen Caracas gesprochen, kritisierte Venezuelas Vertreter bei der CIDH, Germán Saltrón. »Wir fragen uns, warum die Kommission so viele Fälle gegen Venezuela annimmt, und unsere Schlußfolgerung ist, daß die Kommission unserem Land gegenüber vollkommen voreingenommen ist«, kritisierte er im vergangenen August bei einer Sitzung der OAS in Washington.

Caracas wirft der CIDH insbesondere eine direkte Unterstützung des Putschversuchs gegen Präsident Chávez am 11. April 2002 vor. Während die Kommission sich in ihrem Jahresbericht für diesen Zeitraum rühmt, den innerhalb von 48 Stunden gescheiterten Staatsstreich umgehend verurteilt zu haben, erklärte der venezolanische OAS-Botschafter Roy Chaderton im staatlichen Fernsehen Venezolana de Televisión (VTV), der damalige Exekutivsekretär der CIDH, Santiago Cantón, habe in einem Schreiben an den »Außenminister« des Carmona-Kabinetts, José Rodríguez Iturbe, diesen als »Exzellenz« angeredet und mit allen diplomatischen Ehren behandelt. Zugleich sei dem von den Putschisten gefangengenommenen Hugo Chávez während der Tage des Putsches in den Dokumenten der CIDH der Titel als Präsident Venezuelas verweigert worden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. Juli 2012


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