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Die größte Gefahr für den Sozialismus in Venezuela ist der Klientelismus

Stadtteilaktivist Andrés Antillano über die Notwendigkeit, die Partizipation zu stärken *


Venezuela ist eines der am meisten urbanisierten Länder in Lateinamerika. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung lebt in Städten, die zu einem Großteil aus informell gebauten Armenvierteln, den sogenannten Barrios bestehen. Andrés Antillano engagiert sich seit über 30 Jahren als Stadtteilaktivist in den Armenvierteln von Caracas und arbeitet außerdem als Dozent an der Universidad Central de Venezuela (UCV). Tobias Lambert sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) über fehlgeleitete Wohnungspolitik und Partizipation.

ND: Im März hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez das Wohnungsbauprogramm »Misión Vivienda« ins Leben gerufen, in dessen Rahmen in den kommenden sieben Jahren bis zu zwei Millionen neue Wohneinheiten entstehen sollen. Warum gilt der Wohnungsbau als einer der Bereiche, in denen die Regierungsbilanz bisher die größten Defizite aufweist?

Antillano: In Venezuela dienen der Immobilien- und Bausektor traditionell dem Transfer der Erdölrente vom Staat in den Privatsektor. Das geschieht zum Beispiel über Bankgeschäfte, den Besitz von Bauland oder den Bau von Häusern. Wir als stadtpolitische »Bewegung der Bewohner« schlagen deshalb vor, die sozialen Produktionsmittel im Wohnungsbaubereich an die Bevölkerung zu übertragen. Das heißt, dass die Bevölkerung über Kollektiv-Kredite Zugang zu finanziellen Ressourcen hat, den Boden für den Wohnungsbau wiedererlangt und technisches Know-how und Maschinen erhält. Dabei geht es auch um die bereits bestehenden Barrios (Stadtteile), wo sich Häuser in schlechtem Zustand befinden, die sich in Risikogebieten befinden und wo kaum öffentliche Dienstleitungen existieren. Historisch betrachtet hat die Bevölkerung in den Barrios wesentlich mehr Wohnhäuser selbst gebaut als der Staat und der Privatsektor zusammen.

Anfang Mai hat Chávez drei Gesetze per Dekret verabschiedet, die unter anderem von stadtpolitischen Basisgruppen erarbeitet worden sind. Worum ging es da genau?

Das erste Gesetz reguliert und erschwert Zwangsräumungen. Das bisherige Immobilienrecht ist ein Erbe der neoliberalen Zeit und lässt Zwangsräumungen zu, ohne den Betroffenen Schutz zu gewähren. Das zweite stärkt die Arbeitsrechte von Hausmeistern und deren Recht auf Wohnraum. Da Hausmeister in demselben Gebäude wohnen, in dem sie auch arbeiten, verloren sie im Falle einer Kündigung bisher nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Wohnung. Das dritte Gesetz strebt eine Regulierung und Transformation der Barrios in Venezuela an, in denen etwa 60 Prozent der gesamten Bevölkerung leben. Es stärkt eine Entwicklung, die von den Urbanen Landkomitees (CTU) ausgeht, indem es die Vergabe von Landtiteln und Anerkennung der Barrios als Teil der Stadt erleichtert.

Die drei Gesetze hat Chávez im Rahmen der Ende vergangenen Jahres vom Parlament verabschiedeten Sondervollmachten dekretiert. Wird dadurch nicht die Partizipation eingeschränkt?

In Venezuela gibt es eine lange Tradition der Übertragung von Sondervollmachten seitens der Legislative auf die Exekutive. Seit der Einführung der repräsentativen Demokratie 1958 ist dies regelmäßig vorgekommen, vor allem in Notsituationen, die eine rasche Verabschiedung von Gesetzen erfordern. Das Parlament hat die Vollmachten aufgrund heftiger Regenfälle Ende letzten Jahres verabschiedet. Die drei dekretierten Gesetze, die wir als Basisorganisation vorgeschlagen hatten, sind eindeutig darauf ausgelegt, das Problem des Wohnraums, der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Situation in Folge der Regenfälle anzugehen. Das bedeutet nicht, dass die Kompetenzen der Legislative beschnitten wären. Das Parlament kann sogar jedes der Dekrete mit einfacher Mehrheit aufheben. Und auch die demokratische Partizipation wird dadurch nicht geschmälert. Im Gegenteil: Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Sondervollmachten die Partizipation der Bürger an der Ausarbeitung von Gesetzen, die den Bedürfnissen und Interessen der Stadt selbst entspringen, steigern, vor allem aus Sicht der Ärmeren.

Dennoch weisen viele BeobachterInnen darauf hin, dass sich Räume für Partizipation, die sich während der ersten Jahre Chávez-Regierung geöffnet haben, teilweise wieder schließen. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Das Problem einer Abnahme der Partizipation hat mit vielen Faktoren zu tun. Unter anderem sind in den letzten Jahren bürokratische Positionen innerhalb der venezolanischen Regierung gestärkt worden. Positionen, die auf eine Neuauflage des Staatskapitalismus zielen, indem der Bevölkerung nur eine passive Rolle als Empfänger der Verteilungspolitik zukommt, anstatt dass sie als politisches Subjekt fungiert.

Welche Gefahren sehen Sie darin?

Die jetzige Gefahr geht nicht mehr so sehr von einer Wiederbelebung des Neoliberalismus aus, sondern vielmehr des vorherigen Modells, des Staatskapitalismus. Dabei verteilt der Staat die Erdölrente auf klientelistische Art und Weise sowohl an die ärmeren Sektoren als auch die neuen ökonomischen Eliten. Für dieses Modell stellt die Partizipation ein Hindernis dar. Deshalb gibt es Versuche, die Beteiligung in kontrollierte Räume umzuleiten, wo sie eher ausführenden Charakter hat, während bürokratische, konservative Sektoren des revolutionären Prozesses anstreben, den Großteil der Entscheidungen zu treffen. Es ist nötig, den Protagonismus zurückzugewinnen, um die Vertiefung der Revolution und den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft zu garantieren. Ohne Basismobilisierung und Partizipation wird es keine soziale Revolution, keine urbane Revolution, keinen Sozialismus geben.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011


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