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"Griechenland sollte Emissäre nach Lateinamerika schicken"

Venezuela hat die Krise schon hinter sich gebracht, der sich Europa jetzt gegenübersieht. Gespräch mit Ramón Lameda

Ramón Lameda lebt in Caracas und lehrt Sozialökonomie an der ­Nationalen Experimentellen Universität der Streitkräfte.



Venezuela und Lateinamerika wurden in der Vergangenheit häufig mit Wirtschaftskrisen, Armut und sozialen Unruhen in Verbindung gebracht. Wie ist die Situation heute?

Wir erleben momentan eine Zeit der Veränderungen, und jede Veränderung bedeutet eine Phase der Instabilität. Das bezieht sich jedoch nicht auf den politischen Bereich, denn hier in Venezuela haben wir mittlerweile eine stabile Demokratie. Die politischen Diskussionen in der Gesellschaft haben sich vervielfacht, und die Menschen fühlen sich als Protagonisten der Entwicklung im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Dazu gehören auch die wirtschaftlichen Aktivitäten der Zivilgesellschaft. Es wird dabei nicht in privaten oder staatlichen Unternehmen produziert, sondern in Zusammenschlüssen, die wir als soziale Ökonomie bezeichnen. Dadurch können sie die Lebensbedingungen der Gemeinden in ihrer Umgebung verbessern und auch zu einer Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit beitragen.

Wie bewerten Sie von Venezuela aus die gegenwärtige wirtschaftliche Situation in Europa?

Die Lage ist äußerst besorgniserregend. Wie die Krise in den USA die Welt in Mitleidenschaft gezogen hat, wird auch die europäische Krise Auswirkungen weit über die Region hinaus haben und ebenfalls Lateinamerika betreffen. Es existieren enge Arbeits- und Geschäftsbeziehungen. Viele Menschen aus Lateinamerika leben und arbeiten in Europa.

Ist eine Krise, wie sie derzeit Griechenland erlebt, auch in Venezuela möglich?

Ich glaube, Venezuela hat diese Krise bereits erlebt. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre waren Armut und Erwerbslosigkeit in Venezuela weit verbreitet. Ein Großteil der Kinder ging nicht zur Schule, und die Gesundheitsversorgung war rudimentär. Diese Krise war so tief, daß es sogar zu einem versuchten Staatsstreich kam, der vom heutigen Präsidenten angeführt wurde. Die Situation war damals so, daß das Volk diese Situation einfach nicht mehr länger ertragen konnte und auf die Straße ging, um sich aus den Supermärkten das Essen zu holen, an das es sonst nicht herangekommen wäre. Das war der sogenannte »Caracazo« in Februar 1989.

Was könnten Griechenland oder andere von ähnlichen Krisen bedrohte Länder Europas aus den venezolanischen Erfahrungen lernen?

Was Griechenland jetzt bevorsteht, ist eine Phase wirtschaftlicher Anpassungsmaßnahmen durch die Regierung, die zu Lasten der Bevölkerung gehen. Dann werden sie sehr viele der Euros, die jetzt von der EU an Griechenland überwiesen werden, aufwenden müssen, um die sozialen Folgen dieser Maßnahmen aufzufangen. Deshalb sollte die griechische Regierung lieber auf die Erfahrungen der Länder Lateinamerikas zurückgreifen, die diese Krise bereits durchgemacht haben. Gerade die soziale Ökonomie, die wir in Venezuela entwickeln, könnte auch hier ein Beispiel sein, um Arbeitsplätze zu schaffen.

War das ein Grund dafür, daß der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou sich vor kurzem mit Ecuadors Präsident Rafael Correa getroffen hat?

Rafael Correa ist einer der Präsidenten lateinamerikanischer Länder, die Mitglied der Bolivarischen Allianz ALBA sind. Ich glaube deshalb, daß dieser Besuch sehr sinnvoll gewesen ist und würde noch weiter gehen: Griechenland sollte seine Emissäre nach Lateinamerika entsenden, um unsere Erfahrungen zu studieren. Dann bräuchten sie auch nicht unsere Fehler zu wiederholen, denn viele unserer Maßnahmen waren solche nach dem Prinzip »Trial and Error«.

Wie schätzen Sie die Stabilität des Euro ein?

Von Lateinamerika aus gesehen ist der Euro auch weiterhin eine stabile Währung. Ob ein Euro nun zehn oder zwölf venezolanische Bolívares wert ist, macht relativ wenig aus. Das ist vielleicht anders, wenn wir den Euro dem US-Dollar gegenüberstellen, aber gegenüber den lateinamerikanischen Währungen bleibt der Euro eine sehr starke.

Welche Bedeutung hatten in diesem Zusammenhang die lateinamerikanischen Bemühungen um die eigene Währung, den Sucre?

Es wäre sehr wichtig, daß sich Lateinamerika als Region konsolidiert, und wenn diese Währung dazu beitragen könnte, wäre das für alle Länder sehr nützlich.

Interview: André Scheer

* Aus: junge Welt, 14. Juni 2010


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