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Selbstverwaltung ist die Ausnahme

Luis Britto García über die Entwicklung der bolivarianischen Bewegung in Venezuela


Luis Britto García, 1940 in Caracas geboren, zählt zu den bedeutenden venezolanischen Intellektuellen seiner Generation. Der Professor für Recht an der Zentraluniversität von Caracas kann auch als Erzähler, Essayist, Dramaturg und Drehbuchautor auf ein literarisches Werk von mehr als 60 Titeln zurückblicken. Mit ihm sprach für »nd« Hans-Gerd Öfinger.

nd: Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat die Wiederwahl am 7. Oktober geschafft. Was bedeutet das für den von Chávez propagierten Prozess hin zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts?

García: Viel. Venezuela war über Jahrzehnte ein Zweiparteienregime mit abwechselnden Regierungen der eher christdemokratischen COPEI und eher sozialdemokratischen AD. Ein Wendepunkt war 1989, als die AD-Regierung Massenproteste gegen ihr Kürzungsprogramm gewaltsam unterdrückte. Versuche auf der Linken, die Gesellschaft im bewaffneten Kampf zu verändern, schlugen fehl. So entstand die bolivarianische Bewegung mit dem Ziel, revolutionäre Veränderungen mit friedlichen Mitteln über Wahlen zu organisieren. Seit seiner Wahl 1998 haben Präsident Hugo Chávez und die ihn unterstützende Mehrheit nahezu alle Urnengänge gewonnen. Der Wahlsieg vom 7. Oktober legitimiert und beschleunigt den sozialistischen Prozess.

Aber nach wie vor hat die venezolanische Oligarchie Stärke, Macht und Besitz an Produktionsmitteln und stellt eine Gefahr für den revolutionären Prozess dar.

Eine Errungenschaft ist, dass Erdölförderung und Bergbau von Bodenschätzen wie Eisenerz oder Aluminium in staatlicher Hand sind und Gewinne für die Bevölkerung abwerfen. Somit steht der wichtigste Industriebereich unter sozialistischer Verwaltung. Andere Industrien und Großgrundbesitz sind noch in Privatbesitz und werden ineffizient geführt. Aber Venezuela ist ein demokratisches Land, in dem der Volkswille zählt.

Nun gab es in den letzten Jahren eine Welle von Betriebsbesetzungen und Arbeiterselbstverwaltung. Was ist daraus geworden?

Diese Selbstverwaltungsmodelle sind sporadisch und eher Ausnahmen geblieben. Sie blieben überwiegend auf Betriebe beschränkt, die von den alten Besitzern heruntergewirtschaftet wurden. Aber sie haben gezeigt, wie Genossenschaften und Arbeiterselbstverwaltung funktionieren können.

Wie unterstützt der Staat konkret die Belange der Beschäftigten in Privatbetrieben?

Wir haben große Errungenschaften bei Gesundheit und Bildung und ein fortschrittliches Arbeitsrecht. Ein neues Gesetz gibt den Arbeitern wieder die Sozialleistungen zurück, die ihnen die frühere neoliberale Regierung von Rafael Caldera geklaut hatte. Der Mutterschaftsurlaub wurde verlängert. Der Mindestlohn ist im lateinamerikanischen Vergleich am höchsten.

In welchem Zustand ist die Gewerkschaftsbewegung?

Nachdem die alte AD-geführte Gewerkschaft 2002 den rechten Putsch unterstützt hatte, sollte die neu gegründete UNT eine neue starke Interessenvertretung bilden. Leider fehlen bis heute eine Vereinheitlichung und Schlagkraft, weil politische Divergenzen stärker wiegen. So sind die Gewerkschaften derzeit weder einheitlich noch stark, tonangebend oder besonders repräsentativ.

Wird die Oligarchie jemals ihren Frieden mit Hugo Chávez und der bolivarianischen Revolution machen?

Die Oligarchie ist sich seit dem Putschversuch 2002 treu geblieben. Sie stützt sich auf eine breite Mehrheit der Medien und die US-Regierung. Wikileaks hat enthüllt, dass der Führer der AD in der US-Botschaft um Geld bettelte und von dem Beamten aufgefordert wurde, seinen Antrag in englischer Sprache zu stellen. Der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski war ein Anführer, als Oppositionelle beim Putsch 2002 die kubanische Botschaft stürmen wollten und ihr die Wasser- und Stromversorgung kappten. Der Opposition fehlt nach wie vor die einheitliche Ideologie, aber sie ist zu allem fähig, um die Lage zu destabilisieren.

Liegt eine Gefahr für den revolutionären Prozess nicht auch darin, dass sich die Regierung auf einen konservativen Beamtenapparat stützt und jede Regierungspartei auch Karrieristen und Opportunisten anzieht?

Das ist ein ernsthaftes Problem. Mit rund drei Millionen Bediensteten ist der Staat wichtigster Arbeitgeber im Land. Viele Beamte sind Anhänger der alten Regierungsparteien vor 1998 und unkündbar. Dass eine gesellschaftliche Minderheit die Mehrheit im Staatsapparat stellt und die gesetzestreue sozialistische Regierung sie dort belässt, ist bemerkenswert. Die bolivarianische Bewegung hat eine große Bandbreite. Immer wieder sind Politiker aus ihren Reihen zur Opposition übergelaufen, weil sie persönlich nicht das bekamen, was sie wollten. Das spricht für eine extreme ideologische Toleranz gegenüber denen, die keine Ideologie haben.

Welche dringenden Aufgaben stellen sich nach der Wiederwahl von Präsident Hugo Chávez für die bolivarianische Bewegung in Venezuela?

Zum einen die Ernährungssouveränität. Das Problem ineffizienter Lebensmittelproduktion und exportorientierter Monostrukturen muss dringend angepackt werden, damit das Land von der Abhängigkeit von Lebensmittelimporten wegkommt. Ebenso die Bekämpfung der Armut, die zwar stark zurückgegangen ist, aber ein Anteil von sechs Prozent absoluter Armut sind immer noch sechs Prozent zu viel. Wir brauchen zudem in der bolivarianischen Bewegung mehr Verbindlichkeit, politische Klarheit und einen ideologischen Minimalkonsens etwa über die Eigentumsfrage an Produktionsmitteln. Es reicht nicht aus zu sagen: Ich bin für Hugo Chávez. Schließlich müssen wir uns zur Wehr setzen, falls Oligarchie und US-Außenministerium, für die Chávez immer noch ein Hauptfeind ist, auf direkte Aggression setzen und alte Pläne einer militärischen Intervention neu verfolgen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 09. Oktober 2012


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