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Das Trauma des 11. April

Nach dem Putschversuch gegen Chávez tritt in Venezuela die bolivarianische Revolution auf der Stelle

Von Gerhard Dilger, Caracas

Venezuela kommt nicht zur Ruhe. Fünf Monate nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Hugo Chávez steht die Aufklärung der Morde im April noch aus und die Opposition kennt nur eine Devise: »Weg mit Chávez!«. Die Llaguno-Brücke im Zentrum von Caracas ist zum Symbol der belagerten Revolution geworden. Am Geländer ist ein mit den Nationalfarben umwickeltes Kreuz angebracht, daneben eine Gedenktafel, Kränze und ein Altar. Am Bordstein liegen elf kleinere Kreuze, die mit Blüten geschmückt sind. Darüber weht die gelb-blau-rote Nationalflagge. In Sichtweite der Brücke wurden am 11. April 17 Menschen erschossen, zwei weitere sind seither gestorben. Über 100 wurden angeschossen. Die meisten Toten gehörten zu den Teilnehmern der oppositionellen Großdemonstration, die zum nahe gelegenen Präsidentenpalast marschieren wollten. Auch die Gegendemonstranten auf der Brücke wurden beschossen. Der Weg zum Putsch gegen Chávez war frei – auch wenn der nicht einmal zwei Tage dauerte. Die Brücke, zwei Straßenzüge vom Präsidentenpalast entfernt, ist fest in der Hand der Chavistas. An einem Bücherstand der »bolivarianischen Zirkel« sitzt schüchtern die Lehrerin Xiomara Martín (42), die nach Jahren in der Linkspartei MAS zur Chávez-Anhängerin geworden ist. Sie erzählt, dass sie gerade aus einer »tiefen Krise« kommt – ihre Freunde und Nachbarn aus einem Mittelschichtsviertel im Osten der Stadt hätten ihr die Parteinahme für die Regierung nicht verziehen.

Zielscheibe der rechten Kampfpresse

Ganz anders tritt die gleichaltrige »Comandante« Lina Ron auf, ein bevorzugtes Angriffsziel der rechten Kampfpresse. Fünf Minuten von der Llaguno-Brücke hat die Wortführerin der radikalen Chavistas in einem alten Gewölbe das Hauptquartier ihrer »Venezolanischen Volkseinheit« (UPV) aufgeschlagen, mit der sie bei den kommenden Wahlen antreten will. Jeden Nachmittag steht sie den »Deklassierten, Hemdlosen, Unorganisierten« zur Verfügung, »dem Mob oder dem Lumpenproletariat, wie Bürgermeister Peńa sagt.« Mit Jeansjacke, roter Baseballmütze und ihren hellblond gefärbten Fransenhaaren sieht sie aus wie eine moderne Version der Sansculottes, der radikalen Volksbewegung der Französischen Revolution. Dazu passt auch ihre Rhetorik: »Wir sind völlig unbewaffnet, aber irgendwann wird sich das ändern. Es ist unmöglich, mit Blumen auf Schüsse zu antworten – wenn uns keine andere Wahl bleibt, bin ich für das Recht auf bewaffneten Kampf.« Mit ähnlichen Argumenten verteidigen die Anhänger des Präsidenten jene Chavistas, die am 11. April von der Llaguno-Brücke herabschossen. Sie hätten in Notwehr gehandelt, nachdem sie von Heckenschützen beschossen worden seien, so etwa der Augenzeuge Maurice Lemoine von Le Monde Diplomatique.

Diese traumatischen Ereignisse wirken fort. So konträr wie die politischen Fronten im Lande sind die Versionen über die Apriltage, die man zu hören bekommt. Die in der »Demokratischen Koordination« zusammengeschlossene bürgerliche Opposition bestreitet rundweg, es habe einen Putsch gegeben. Ihre These: der Unternehmer Pedro Carmona sei in das nach der Demonstration entstandene »Machtvakuum« gestoßen, das durch den behaupteten Rücktritt von Chávez entstanden sei. Dieser Ansicht ist auch der Oberste Gerichtshof, der mit elf zu acht Stimmen beschlossen hat, gegen vier hohe an der Verhaftung des Präsidenten beteiligte Militärs kein Verfahren wegen »militärischer Rebellion« zu eröffnen. Für Chávez haben sich einige Richter schlichtweg an die »korrupte Elite« verkauft. In seiner sonntäglichen Rundfunk- und TV-Sendung »Aló Presidente« geißelt er die Gerichtsentscheidung als »grotesk«. In einem Video werden die »echten und einzigen Opfer« des Putsches vorgestellt, allesamt verletzte Chavisten oder Angehörige von ermordeten Chávez-Anhängern. Das provisorische Studio ist diesmal auf einem Hügel vor der Provinzhauptstadt Maracay aufgebaut. Hinter dem Präsidenten liegt eine Siedlung von Sozialwohnungen, die als Beispiel für die »bescheidenen Früchte der Revolution« herhalten, dem zweiten Thema des Tages. Dem gleichen Zweck dienen die sorgfältig vorbereiteten Statements der anwesenden Minister und die zwischendurch eingeblendeten Regierungsvideos: Sie drehen sich um Investitionen in der Schuh- und Textilbranche, den Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Wasserkraftwerken, Projekten, durch die über eine Million Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Auch die zugeschalteten Anrufer fungieren als Stichwortgeber für Chávez, dessen Auftritt im Plauderton mit gut drei Stunden erstaunlich kurz ausfällt. Tausende sind herbeigeströmt. Hausfrauen und Arbeiter aus der örtlichen Zuckerfabrik, Jung und Alt, Chávez-Verehrer oder auch nur Neugierige drängen sich bis auf zehn Meter an den Präsidenten heran, wo sie von jungen Soldaten zurückgehalten werden. Sie wollen einen Blick auf ihn erhaschen, durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Behinderte Kinder werden nach vorne gereicht, ebenso zahllose Zettel mit Bitten an den Präsidenten, der den Anwesenden wie Millionen im ganzen Land nach wie vor als Hoffnungsträger gilt. Im Gedränge unter einem großen Zeltdach ist kaum ein Wort der Sendung zu verstehen. Das ist nebensächlich, sind doch Dramaturgie und Inhalte von »Aló Presidente« nach 116 Sendungen wohlbekannt. Auch beim anschließenden Auto- und Motorradkorso ins benachbarte Valencia genießt Chávez das Bad in der Menge. Von einem Lastwagen aus winkt er den Menschen am Straßenrand zu. Der tausendfache Jubel, den die Fernsehteams des Staatssenders einfangen, erinnert an die Zeit vor den Wahlen 1998 und 2000, in denen der frühere Fallschirmjäger-Oberst und Verehrer des Nationalhelden Simón Bolívar klare Mehrheiten erzielt hatte – zuletzt 59 Prozent. Doch seither hat der Rückhalt für die »bolivarianische Revolution« des Hugo Chávez Risse bekommen. Durch seine radikale Rhetorik schockiere der Staatschef das Bürgertum und mache den Armen etwas vor, kritisiert Antonio González von der Menschenrechtsorganisation Provea. Dabei seien spürbare Korrekturen am neoliberalen Kurs nur im Bildungs- und Gesundheitswesen erfolgt. »Inkompetenz und Korruption« hätten dazu geführt, dass die Verbesserungen auf sozialem Gebiet minimal geblieben seien.

Ganz ähnlich sehen das andere Basisaktivisten. Edgar Pérez, seit 15 Jahren in der Stadtteilbewegung des Armenviertels Las Casitas de la Vega tätig, unterstützt die »große Führungspersönlichkeit« Chávez aus pragmatischen Gründen, denn unter ihm sei der Freiraum für die Organisation gewachsen. »Die Polizei lässt uns jetzt in Ruhe,« sagt der dunkelhäutige Aktivist, den sie auf den Höhen am Rande von Groß-Caracas nur den »Dicken« nennen. Doch tatsächlich verändert habe Chávez wenig, so begrüßenswerte Maßnahmen wie die angekündigte Agrarreform bestünden vor allem aus »Propaganda und Vetternwirtschaft«. Chávez’ Reformbemühungen blieben im Symbolischen haften. Die Korruption, die im Erdölland Venezuela besonders tiefe Wurzeln geschlagen hat, sei unverändert groß. Dem Präsidenten fehle ein überzeugendes Projekt.

Pérez, der sich als Anarchist versteht, setzt auf ein langsames Entstehen einer »Parallelmacht in den Gemeinschaften«. In Las Casitas läuft das über Kulturprojekte – Edgar Pérez leitet eine Musikgruppe und war früher in der Theaterarbeit aktiv. Höhepunkt des Jahres im afrovenezolanisch geprägten Viertel ist das viertägige Johannesfest, ihr ganzer Stolz die Stadtteilschule Canaima. Ganz in der Nähe ist mit Hilfe von Jesuitenpatres eine weitere Modellschule entstanden. Doch die Wirtschaftskrise hinterlässt auch hier ihre Spuren: Trotz hoher Erdölpreise ist Venezuela in eine tiefe Rezession geschlingert, wofür zumindest teilweise die Regierung verantwortlich ist. Wegen der politischen Ungewissheit halten sich die Investoren zurück, räumt Produktions- und Handelsminister Ramón Rosales ein. Der rapide Wertverlust der Landeswährung Bolívar senkt die Realeinkommen für die allermeisten Venezolaner. Die Arbeitslosenrate liegt bei 20 Prozent, mehr als die Hälfte der Bevölkerung schlägt sich mit Gelegenheitsjobs im informellen Sektor durch.

Opposition mit dürftigem Programm

Die Opposition um die Reste der Sozialdemokraten und Christsozialen, die Venezuela seit 1983 heruntergewirtschaftet hatten, ist um viele ehemalige Verbündete des Präsidenten angewachsen. Ihr Programm ist so knapp wie dürftig: »Weg mit Chávez!« Der Präsident sei ein »Hindernis, das von den Gleisen der Geschichte geräumt« werden müsse, meint etwa Rafael Marín, Generalsekretär der sozialdemokratischen »Demokratischen Aktion«. Wegen dieser Polarisierung, die durch die großen, fast durchweg von der Opposition kontrollierten Medien angeheizt wird, macht auch die Aufklärung der Ereignisse rund um den Putsch keine Fortschritte. Ein entsprechender Parlamentsausschuss schloss seine Arbeit nach wochenlangen Anhörungen von Politikern und Militärs mit zwei konträren Berichten ab. Die Regierungsfraktion schiebt den Drahtziehern des Putsches sämtliche Schuld in die Schuhe, im Minderheitenvotum der Opposition ist Chávez der politische Hauptverantwortliche für die Toten und Verletzten. »Die Regierung hat bisher die Einsetzung einer unabhängigen Wahrheitskommission sabotiert,« sagt Menschenrechtler Antonio González. Noch kaum zu Gehör kommen besonnene Stimmen wie die von Edgardo Lander, Mitunterzeichner eines Intellektuellen-Manifests für »soziale Gerechtigkeit und Demokratie«. Weder Regierung noch Opposition seien in der Lage, der Gegenseite ihren Willen aufzuzwingen, so der Soziologe. Deshalb sei der Dialog »unvermeidlich«. Die Zeichen der letzten Tage sind widersprüchlich: Zwar hat die Opposition bereits mit einer Reihe von Protestdemonstrationen begonnen. Gewerkschaftsboss Carlos Ortega hält auch einen erneuten Putschversuch für möglich. Heute kommt erneut eine internationale Delegation mit Abgesandten der Organisation Amerikanischer Staaten und des Carter-Centers aus Atlanta an, dessen erster Vermittlungsversuch im Juli ins Leere gelaufen waren. Diesmal haben neben der Regierung auch Teile der Opposition Gesprächsbreitschaft signalisiert. Und in Chávez’ »Bewegung der 5. Republik« wird über Neuwahlen noch in diesem Jahr nachgedacht.

Aus: Neues Deutschland, 9. September 2002


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