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Sondervollmachten für Chávez

Parlament gibt Venezuelas Präsidenten erweiterte Gesetzgebungsbefugnisse bis 2012

Von Tobias Lambert *

In Venezuela hat das Parlament dem linken Staatschef Hugo Chávez umfangreiche Sondervollmachten für einen Zeitraum von 18 Monaten erteilt.

Am Ende legte Venezuelas Nationalversammlung noch einen drauf. Zwölf Monate wollte der venezolanische Präsident Hugo Chávez ursprünglich per Dekret regieren. Während der zweiten Lesung des Bevollmächtigungsgesetzes (Ley Habilitante) am Freitag weitete das Parlament den Zeitraum auf 18 Monate aus. Demnach kann Chávez bis Ende Juni des Wahljahres 2012 Dekrete mit Gesetzesrang erarbeiten lassen.

Begründet wird der Schritt mit den schwersten Unwettern seit Jahrzehnten, die bisher 38 Todesopfer gefordert haben. Mindestens 130 000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Um die Ursachen der Katastrophe wirkungsvoll anzugehen, seien die Vollmachten notwendig, argumentiert Chávez. Das gravierende Wohnungsproblem müsse gelöst werden, zusätzliche Einnahmen müssten generiert werden.

Die Vollmachten erstrecken sich nun auf zehn unterschiedliche Bereiche, darunter Wohnraum, Infrastruktur, Finanzen und Steuern, aber auch Landesverteidigung oder internationale Zusammenarbeit. Bis wohin die Ursachen der Katastrophe reichen, ist demnach Definitionssache.

Die Erteilung zeitlich begrenzter Vollmachten ist durch die Verfassung gedeckt, sofern drei Fünftel der Abgeordneten dafür stimmen. Pikant ist in diesem Fall, dass am 5. Januar 2011 das neue Parlament zusammentritt, in dem keines der beiden großen politischen Lager über eine Dreifünftelmehrheit verfügt, um das Bevollmächtigungsgesetz wieder aufzuheben. Die alten, aufgrund des Wahlboykotts der Opposition seit 2005 fast ausschließlich chavistischen Abgeordneten, haben ihren Nachfolgern also für anderthalb Jahre bedeutende Kompetenzen entzogen.

Dabei wird sich qualitativ kaum etwas ändern: Die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) verfügt auch in dem neuen Parlament über eine bequeme Mehrheit. Die Verabschiedung einfacher Gesetze, wie sie Chávez nun dekretieren darf, könnte die Opposition ohnehin nicht verhindern. Dass die chavistischen Parlamentarier etwas gegen den Willen der Regierung verabschieden würden, gilt als nahezu ausgeschlossen. In den letzten Jahren glänzten die Abgeordneten nicht gerade durch eigenständige parlamentarische Initiative.

Ziel der Vollmachten kann also nur eine Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens sein. Der zu erwartende Schlagabtausch zwischen den beiden unversöhnlichen politischen Lagern fällt dabei unter den Tisch. Wenngleich die Erteilung der Vollmachten rechtlich gedeckt ist, wird dadurch ein grundlegendes Problem des bolivarianischen Prozesses reproduziert. Die Herausforderung, kollektive und nachhaltige Strukturen zu schaffen, die einen Präsidenten Chávez politisch überleben könnten, ist bisher nicht gemeistert worden. Seine Anhänger trauen Chávez eher zu, sinnvolle Gesetze erarbeiten zu lassen, als dem Parlament. Wo viele Basisgruppen der politischen Klasse generell skeptisch gegenüber stehen, genießt der Präsident ihr Vertrauen, schließlich ist er es, der radikale Forderungen der Basis aufgreift, während die politischen Institutionen von Bürokratie und Ineffizienz gezeichnet sind. Die Zukunft ohne Chávez ist nach wie vor kaum denkbar und eine der zentralen Schwachstellen des bolivarianischen Prozesses.

Die Opposition wirft dem Präsidenten vor, die sozialistische Transformation von Politik und Wirtschaft dekretieren zu wollen. Die Kritik ist legitim und war nicht anders zu erwarten. Wäre einer der heutigen Oppositionspolitiker Präsident und würde gesetzgeberische Vollmachten erhalten, die Chavistas würden dies selbstverständlich als undemokratisch kritisieren. Von Chávez erwarten sie Gesetze zugunsten der marginalisierten Bevölkerungsmehrheit, von der Opposition hingegen Gesetze für ökonomische Eliten. Legal wären Vollmachten in diesem Fall allerdings trotzdem.

Im Unterschied zur Opposition würden die Chavistas aber höchstwahrscheinlich die Bevölkerung mobilisieren, um einzelne Präsidialdekrete per Referendum zu kippen. Denn die bolivarianische Verfassung bietet direktdemokratische Instrumente, um Debatten über einzelne Gesetze zu erzwingen. Artikel 74 eröffnet die Möglichkeit, Referenden über die partielle oder komplette Aufhebung von Gesetzen durchzuführen. Initiieren können ein solches »Aufhebungsreferendum« der Staatspräsident, der in Venezuela im Vergleich zu vielen anderen Präsidialsystemen kein Vetorecht besitzt, oder zehn Prozent der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, reichen fünf Prozent aus.

Sofern die Wahlbeteiligung bei mindestens 40 Prozent liegt, kann ein Gesetz mit einfacher Mehrheit durch die Bevölkerung aufgehoben werden. Ausnahmen gelten in den Gebieten Staatshaushalt, Steuern, öffentliche Kredite, Amnestien, Menschenrechte und internationale Verträge. Die Bevölkerung hat somit die Möglichkeit, bestimmte Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren.

Obwohl die Opposition seit Chávez' Amtsantritt 1999 zahlreiche Gesetze rundum abgelehnt hat, wurde bisher noch nie ein Aufhebungsreferendum beantragt. Der Opposition geht es nicht darum, einzelne Normen durchzusetzen oder zu verändern, sondern sie will den ihr verhassten Präsidenten von der Macht verdrängen. Die Opposition scheint es nicht als demokratisches Recht, sondern vielmehr als Risiko anzusehen, Instrumente direkter Demokratie zu verwenden. Sie will dem von ihr abgelehnten politischen System keine Legitimität verleihen. Die in Venezuela fehlende konstruktive Opposition ist abträglich für die politische Kultur, der Debatten über einzelne Sachfragen in einer über das Parlament hinausgehenden Öffentlichkeit gut zur Gesicht stünden.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Dezember 2010


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