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"Wir kämpfen um eine Zwei-Drittel-Mehrheit"

Parlamentswahlen in Venezuela: Der politische Wandel wird an der Basis voran getrieben *

Yoel Capriles (50) ist Sprecher des Kommunalen Rates »Andrés E. Blanco« im Stadtteil 23 de Enero von Caracas. Er arbeitet seit Jahrzehnten in Basisorganisationen. »Ich bin ein sozialer Kämpfer«, sagt er über sich selbst. »Ich habe keinen Posten, ich übernehme politische Verantwortung.« Über die Entwicklung in Venezuela und die kommenden Wahlen sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Harald Neuber.



Am 26. September wird in Venezuela eine neue Nationalversammlung gewählt. Welche Bedeutung hat diese Wahl in der Präsidialdemokratie Venezuelas?

Das Ziel ist recht einfach beschrieben: Die revolutionären Kräfte benötigen eine Zwei-Drittel- Mehrheit, um den Sozialismus des 21. Jahrhunderts weiter voranzubringen. Das ist die Zielvorgabe.

Bislang ist die Opposition im Parlament nicht vertreten, weil sie die letzte Parlamentswahl – zu ihrem späteren Bedauern – boykottiert hat. Was macht Sie glauben, dass die linken Kräfte um die Regierung von Präsident Hugo Chávez weiter eine bequeme Mehrheit behalten?

Die Auswahl der Kandidaten. Die Anwärterinnen und Anwärter der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV) wurden in internen Vorwahlen bestimmt. So können wir sicher sein, dass die Kandidaten dem politischen Prozess des Wandels gegenüber verpflichtet sind und die bolivarische Revolution aus dem Parlament heraus verteidigen. Der Kampf um die Nationalversammlung hat höchste Priorität. Wenn ich nach Venezuela zurückkehre, werde ich auch sofort wieder Aufgaben in der Wahlkampagne übernehmen.

Und weshalb sollte die Opposition weniger beharrlich sein?

Weil ihre Kandidaten keine breite Rückendeckung genießen. Sie wurden hinter verschlossenen Türen bestimmt, um Parteiinteressen zu wahren. Ihr Ziel ist es, den Kommandanten Chávez zu stürzen. Wenn sie aber das versuchen, was die Oligarchie mit dem Putsch in Honduras bislang geschafft hat, dann wird sie in Venezuela eine große Überraschung erwarten.

Sie sind bis zum kommenden Sonntag noch in Deutschland auf Vortragsreise, heute Abend sprechen Sie im Berliner Haus der Demokratie. Worüber referieren Sie?

Mir geht es bei dieser Rundreise vor allem darum, den politischen Prozess aus der Perspektive der Bürger- und Basisbewegung zu beschreiben. Es geht dabei nicht nur um die aktuelle Lage, sondern auch um die Geschichte des sozialen Widerstandes in der Zeit der sogenannten Vierten Republik, vor dem Wahlsieg von Kommandant Hugo Chávez 1998. Ich werde also über die Organisation der Bevölkerung sprechen, der Frauen und Männer Venezuelas. Es geht um die Bolivarischen Zirkel, die Bodenkomitees, die Energiekomitees, die Gesundheitskomitees, die Bildungsprogramme.

Sie selbst sind Sprecher eines Kommunalen Rates ...

Über die Rolle der Kommunalen Räte als politische Entscheidungsgremien ist im Ausland, glaube ich, sehr wenig bekannt. Es wird immer nur über den Präsidenten berichtet, vieles wird ausgegrenzt. Dabei spielen die Kommunalen Räte im revolutionären Prozess Venezuelas heute eine entscheidende Rolle.

Dieser Machttransfer hin zu Basisorganisationen verläuft aber nicht ohne Reibereien. Werden die Konflikte zwischen den neuen Basisstrukturen und den alten Institutionen des Staates in Venezuela thematisiert?

Ja, natürlich, selbst Kommandant Chávez spricht die Probleme mit der Bürokratie ständig an. Heute wird die Korruption thematisiert und als Hemmnis für die Entwicklung des Landes erkannt. Eine anderes wichtiges Problem sind aber die geistigen Vertreter der alten Ordnung innerhalb der Bewegung, die sich als Revolutionäre ausgeben, aber den Prozess sabotieren. Deswegen orientieren wir uns an einer Losung des Präsidenten: Es geht darum, eine Revolution in der Revolution durchzuführen. Davon möchte ich in Deutschland berichten.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2010


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