Propaganda oder Provokation?
Nach Kiewer Darstellung soll Moskau Washington gewarnt haben, bei Waffenlieferungen die Ukraine anzugreifen. US-Thinktank »Stratfor« analysiert mögliche Optionen
Von Reinhard Lauterbach *
Am vergangenen Freitag hat sich der ukrainische Abgeordnete Anton Geraschtschenko im Kiewer Fernsehen über die Ergebnisse seines Besuchs in den USA geäußert. Er habe, berichtete der Parlamentarier, seine Gesprächspartner gefragt, warum die Entscheidung über die Lieferung tödlicher Waffen an Kiew immer noch auf sich warten lasse. Die Antwort sei gewesen: Russlands Präsident Wladimir Putin habe seinen Amtskollegen Barack Obama vor einer solchen Entscheidung eindringlich gewarnt. Liefere Washington Waffen, werde Russland eine Großoffensive gegen die Ukraine starten.
Geraschtschenko ist bekannt für sein propagandistisches Mundwerk, und wenn seine Äußerung allein stünde, wäre sie es nicht wert, sich weiter damit zu beschäftigen. Doch das ist nicht der Fall. Die Befürchtung, US-Waffenlieferungen könnten eine russische Großoffensive provozieren und damit das Objekt amerikanischer Fürsorge heftig dezimieren, ist das zentrale interne Gegenargument des realpolitischen Flügels des US-Establishments. Der dieser Fraktion zuzurechnende Analysedienst »Stratfor« weist seit Monaten darauf hin, dass der Regimewechsel in Kiew aus russischer Perspektive »fundamentale Sicherheitsprobleme« aufwerfe, und dass jeder amerikanische Eskalationsschritt Russland provozieren könnte, von seiner militärischen Überlegenheit zu profitieren, solange sie noch gegeben sei.
Jetzt hat »Stratfor« mehrere Optionen eines möglichen russischen Militärschlags durchgespielt. Die Szenarien reichen von verstärkter Destabilisierungsaktivität gegen die Ukraine bis zu einer Großoffensive entlang der ganzen Ostgrenze der Ukraine bis zur Dnjepr-Linie und bis Odessa und Transnistrien. Die einfachste Möglichkeit wäre demnach ein Ausbruch aus dem Aufstandsgebiet im Donbass und ein Vorstoß entlang der Schwarzmeerküste bis zum Unterlauf des Dnjepr. Er würde nach Einschätzung der US-Analysten rund 30.000 Soldaten benötigen und wäre in ein bis zwei Wochen erfolgreich zu beenden. Der Gewinn: ein Landzugang zur ansonsten leicht abzuschneidenden oder von See zu blockierenden Krim und mit der Besetzung des südlichen Dnjepr-Ufers auch ein Zugriff auf dessen Süßwasservorräte. Der Nachteil: eine lange ungeschützte und durchbruchsgefährdete Nordflanke von geringer operativer Tiefe. Etwa 45.000 Soldaten würden auf Dauer gebraucht, um diese Linie zu halten und möglichen Widerstand proukrainischer Kräfte zu unterdrücken. Eine Erweiterung dieser Option wäre eine Fortsetzung des Vorstoßes entlang der Küste westlich des unteren Dnjepr nach Odessa und Transnistrien. Dies würde etwa doppelt so viele Soldaten erfordern und doppelt so lange dauern. Als größtes Risiko wird in diesem Szenario der Zwang genannt, den Dnjepr zu überqueren; außerdem gäbe es eine noch längere ungeschützte Flanke. Vor diesem Hintergrund hält »Stratfor«, sollte es zu einem solchen Krieg kommen, eine Generaloffensive entlang der ganzen ukrainischen Ostgrenze für die militärisch einleuchtendste Option. Sie würde demnach, weil auf breiterer Front vorgetragen, auch nicht länger dauern als die erste Variante, hätte aber den Vorteil, durch die Besetzung des gesamten Dnjepr-Ostufers eine für die Verteidigung geeignete Linie zu erreichen: der Fluss ist überwiegend aufgestaut und damit sehr breit, die Zahl der Brücken ist gering; die Übergänge sind oft Straßen auf der Krone von Staudämmen: sie zu zerstören, würde eine Flutkatastrophe auslösen, die beide Seiten träfe. Der Nachteil für Moskau: bis zu 250.000 russische Soldaten müssten eingesetzt werden, um das eroberte Gebiet zu halten. Die Gesamtstärke der russischen Landstreitkräfte beträgt aber nur 280.000 Mann. Diese wären also fast vollständig in der Ukraine gebunden und stünden damit an anderen Krisenherden nicht mehr zur Verfügung.
Das würde laut »Stratfor« vor allem dann gelten, wenn es der Ukraine gelänge, eine umfangreiche Partisanenbewegung gegen eine unterstellte russische Besetzung des Ostteils des Landes zu organisieren. Es fällt auf, dass gleich zwei Einheiten der ukrainischen Freikorps derzeit mit US-Unterstützung eine »Umschulung« zum Untergrundkampf durchlaufen: das Bataillon »Donbass« unter Semjon Semjontschenko und das Bataillon »Dnepr-1« unter Jurij Bereza. Letzteres hat vor einigen Wochen angefangen, Bewerber mit Englischkenntnissen zu suchen, um eine »Spezialeinheit« aufzubauen.
Ein Gegenschlag der NATO oder der USA im Alleingang würde demnach vor allem aus der Luft geführt werden; die NATO-Streitmacht bräuchte laut »Stratfor« etwa drei Wochen, um in vollem Umfang am Kriegsschauplatz eingetroffen zu sein, könnte also anfängliche Eroberungen nicht völlig verhindern. Hingegen könnte sie später durch Luftangriffe auf russische Ziele das Halten solcher Gebiete in Frage stellen. Was bei solchen Bombardements von der Ostukraine übrigbliebe, ist absehbar; auch auf Seiten der NATO-Luftwaffen wäre mit erheblichen Verlusten zu rechnen.
Die Veröffentlichung von Studien wie dieser lässt vermuten, dass in Washington Szenarien eines Kriegs inzwischen relativ offen nicht mehr unter der Frage »Ja oder nein« diskutiert werden, sondern dass die Planer die Erfolgschancen durchkalkulieren. Ginge es um die Ukraine, müsste die Antwort klar sein: Von ihr würde im Fall eines Krieges nicht viel übrigbleiben. Wenn es dagegen das Ziel der USA ist, an der Südwestflanke Russlands einen Moskau gegenüber feindlichen Staat zu installieren, dann ist es fast gleichgültig, wie groß dieses Gebilde ist – solange es überhaupt existiert. Das könnte andeuten, dass Washington einen Verlust der Ostukraine notfalls hinnehmen würde, wenn sich so die Möglichkeit ergäbe, die russischen Streitkräfte dort »festzunageln«.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. März 2015
NATO-Manöver an Russlands Grenzen
Noch ein NATO-Aufmarsch an der russischen Grenze: Der westliche Militärpakt hat am Dienstag ein Seemanöver im Schwarzen Meer begonnen. An der Übung unter Führung der USA beteiligt sich auch die Deutsche Marine mit dem Tanker »Spessart«. Die NATO-Mitgliedsländer und Schwarzmeer-Anrainerstaaten Bulgarien, Rumänien und Türkei sind ebenfalls vertreten. Auch Kanada und Italien haben Kriegsschiffe entsandt. Der Verband wolle die Abwehr von Luftangriffen sowie von Attacken mit U-Booten und Speedbooten üben, sagte ein Sprecher der bulgarischen Marine gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Die NATO hat die Zahl ihrer Manöver in Osteuropa seit Beginn des Ukraine-Konflikts massiv erhöht. Allein die Bundeswehr wird sich dieses Jahr mit mehr als 5.000 Soldaten an Übungen in Polen, Ungarn und dem Baltikum beteiligen – so viele wie noch nie. Am Montag waren am Hafen der lettischen Hauptstadt Riga im Vorfeld von Manövern im gesamten Baltikum rund 750 US-amerikanische Kampf- und Radpanzer eingetroffen. Ab kommender Woche sollen etwa 3.000 US-Soldaten in die Region verlegt werden. Sie sollen für drei Monate im Baltikum bleiben, um gemeinsam mit den Armeen von Estland, Lettland und Litauen – alle drei seit 2004 Mitglied der NATO – zu »üben«. Nach der derzeitigen Planung soll das Kriegsgerät aber auch nach diesem Zeitraum vor Ort bleiben
Der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisierte am Dienstag die Aufrüstung der NATO an den Grenzen seines Landes. Dies trage nicht zur Vertrauensbildung bei, mahnte er bei einem Treffen mit seinem spanischen Kollegen José Manuel García-Margallo. Lawrow warf der Europäischen Union vor, eine immer härtere Konfrontation zwischen Moskau und Brüssel zu schüren. Die EU tue so, als gäbe es keinerlei Fortschritte bei der Umsetzung des Friedensplans für das Kriegsgebiet Ostukraine. Präsident Petro Poroschenko hatte zuvor in Kiew bestätigt, dass Militär und prorussische Separatisten schwere Waffen von der Front abgezogen hätten. Lawrow beschuldigte die prowestliche Führung in Kiew, den Friedensprozess zu verschleppen.
Die ukrainische Führung will trotz eines drohenden Staatsbankrotts im laufenden Jahr umgerechnet 566 Millionen Euro für neue Waffen ausgeben – und damit fast viermal so viel wie 2014. Das teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit.
Großbritanniens Außenminister Philip Hammond meinte derweil, Russland sei die größte Gefahr für das Vereinigte Königreich. Konsequenz: Die Geheimdienste Ihrer Majestät sind zur Ausweitung der Russland-Spionage angehalten.
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