Kein Schritt in Richtung Frieden
Eine Analyse der ukrainischen Präsidentschaftswahl
Von Volodymyr Ishchenko *
Bereits bei den Nachwahlbefragungen und vorläufigen Ergebnissen zeichnete sich bei der ukrainischen
Präsidentschaftswahl vom 25. Mai ein deutlicher Sieg für Petro Poroschenko ab, einem der reichsten Männer
der Ukraine (auf der ukrainischen Forbes-Liste belegt er den siebten Platz) mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm.
Poroschenko konnte im ersten Wahlgang 54,33 Prozent der abgegebenen Stimmen auf
sich vereinen und wurde von der ukrainischen Wahlkommission am 26. Mai zum Wahlsieger erklärt, nachdem
90 Prozent der Stimmen ausgezählt waren. Seine größte Herausfordererin, Julija Tymoschenko, liegt
weit abgeschlagen bei 13 %. Oleh Ljaschko, den man am besten als populistischen Polit-Clown bezeichnen
könnte, kommt auf den dritten Platz. Die Kandidaten, die man als die der «Südostukraine» sehen könnte,
wie Serhij Tyhipko, Mykhailo Dobkin oder Petro Symonenko, erhielten nur marginale Unterstützung.
Das hohe Ergebnis für Poroschenko kam keineswegs unerwartet. Er ging als großer Sieger aus dem
Maidan-Aufstand hervor, mit der höchsten Wählerunterstützung, die ihm schon im März zugeschrieben
wurde. Nachdem der stärkste Bewerber, Witalij Klitschko, sich zugunsten Poroschenkos von der Präsidentschaftswahl
zurückgezogen hatte, stiegen seine Chancen sprunghaft an. Stattdessen bewarb sich Klitschko
um das Bürgermeisteramt in Kiev, das er laut Prognose mit über 57 % Unterstützung gewinnen sollte.
Wie üblich ging es bei diesen Wahlen nicht um politische Programme, denn wer auch immer gewonnen
hätte, wäre auf die finanzielle Unterstützung des IWF angewiesen gewesen und hätte daher die neoliberale
Austeritätspolitik weitergeführt. Die einzige spannende Frage bei diesen Wahlen war, ob Poroschenko bereits
in der ersten Runde mit einer absoluten Mehrheit gewinnen würde oder erst in der Stichwahl; daher
gab es eine starke Motivation, für ihn zu stimmen, damit er bereits in der ersten Runde gewinnt. Damit,
hofften viele, hätte das Land endlich einen «legitimen» Präsidenten, der die politische Lage stabilisieren
und damit weitere Tode in der Ostukraine verhindern könnte.
Leider sind diese Hoffnungen nicht gerechtfertigt, denn obwohl Poroschenko nach den ersten Ergebnissen
in allen Regionen der Ukraine eine relative Mehrheit erringen konnte, auch im Osten und im Süden, ist er weit davon entfernt, eine Führungsfigur der nationalen Einheit darzustellen. Die Wahlbeteiligung scheint die niedrigste in der Geschichte bei Präsidentschaftswahlen in der Ukraine zu sein. Landesweit lag sie bei
60,3 %. Hauptgrund dafür war selbstverständlich die Situation in den Regionen Donezk und Luhansk, wo es nur in zehn der 34 Wahlbezirke möglich war, die Wahl überhaupt abzuhalten. Selbst in diesen Wahlbezirken öffneten manche Wahllokale zu spät oder schlossen zu früh, und es wurde in mehreren Fällen von Angriffen bewaffneter separatistischer Gruppen auf Wahllokale berichtet. Die Wahlbeteiligung in der Region Luhansk (ausschließlich in funktionsfähigen Wahlbezirken) lag bei nur 38,9 %; in der Region Donezk (in funktionsfähigen Wahlbezirken) sogar bei nur 15,4 %. Diese niedrigen Teilnahmezahlen in der Donbass-Region (selbst in funktionsfähigen Wahlbezirken) kann man nicht allein auf den Terror bewaffneter Separatisteneinheiten
zurückführen, die die Wahl nicht anerkennen. Obwohl der Angstfaktor beim Urnengang nicht ganz von der Hand zu weisen ist, sollte er auch nicht überbewertet werden. Eine Telefonumfrage beim renommierten Internationalen Institut der Soziologie in Kiev am Wahltag unter Bürgern der Regionen Donbass und Luhansk ergab, dass nur 17 % wählen gehen wollten und es nicht konnten (http://www.kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=reports&id=324&page=1). Von den Befragten sagten 67 %, dass sie nicht wählen würden. Davon wollten 46 % aus politischen Gründen den Urnen fernbleiben (etwa weil sie keinen Kandidaten ihrer Stimme für würdig hielten, oder weil sie die Wahlen nicht für fair hielten, oder weil sie die Donbass-Region nicht mehr als Teil der Ukraine betrachteten), 32 % wählten nicht, weil es bei ihnen keine organisierte Wahl gab bzw. weil ihr Wahllokal nicht funktionsfähig war, bei 17 % ging es um persönliche oder andere Gründe, und nur 7 % meinten, es sei zu gefährlich, zur Wahl zu gehen. Daraus geht hervor, dass eine relativ hohe Zahl von Bürgern im Donbass (mindestens 31 %) die Wahlen aus politischen Gründen boykottierten. Zudem lag die Wahlbeteiligung auch in zwei weiteren wichtigen südlichen bzw. östlichen Regionen, in Odessa und in Charkow, wo es massive Mobilisierung für eine Föderalisierung
bzw. für eine Abspaltung gegeben hatte, unter 50 %.
Daher werden die Wahlen auch keinen Schritt in Richtung Frieden in der Ukraine darstellen. Es ist unwahrscheinlich,
dass die rebellierende Donbass-Region Poroschenko als neuen legitimen Präsidenten akzeptieren
wird. Zu allem Übel ließ Poroschenko bereits nach den ersten Prognosen verlauten, 85 % der Ukrainer
hätten für eine «vereinte Ukraine» bzw. für die «europäische Option» gestimmt, womit er kein wesentliches
Entgegenkommen gegenüber den Rebellen im Donbass zeigte, die mindestens Autonomie in einer föderalisierten
Ukraine oder sogar eine völlige Abspaltung von der Ukraine fordern. Außerdem werden die sogenannten
«antiterroristischen Operationen» nach wie vor weitergehen, und zwar noch aktiver. Nach den
Wahlen kann die Kiewer Regierung endlich im Donbass den Notstand ausrufen und mit einem voll ausgeprägten
Einsatz der Armee gegen die bewaffneten Rebellen vorgehen, und somit bis zum Bürgerkrieg eskalieren.
Ohne Unterstützung der Armee hat die Kiewer Regierung keine Möglichkeit, die von der lokalen
Bevölkerung unterstützten Rebellen zu unterdrücken.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist die niedrige Stimmabgabe zu Gunsten der extrem rechten Führer Oleh
Tjahnybok (Swoboda) und Dmytro Jarosch (Rechter Sektor), die jeweils nur etwa 1% der Stimmen erhielten.
Sicherlich zeigen diese Zahlen, wie übertrieben die russische Propaganda war, insbesondere mit Bezug
auf den Einfluss des Rechten Sektors. Andererseits sollte man diese Zahlen nicht heranziehen, um die
Gefahr der extremen Rechten in der heutigen Ukraine herunterzuspielen. Man kann von den persönlichen
Ergebnissen in einer Präsidentschaftswahl nicht auf die parteipolitische bzw. ideologische Unterstützung
schließen, insbesondere in einer Situation, wo viele Menschen den führenden Kandidaten nur wählen, um
eine Stichwahl zu vermeiden. Tatsächlich zeigt die jüngste Umfrage (vom 8. bis 13. Mai von drei führenden
demoskopischen Instituten durchgeführt: http://www.kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=news&id=317&page=1),
dass die Unterstützung für die Swoboda von 5 % auf 7 % gestiegen ist (wobei die Unterstützung für den Rechten Sektor anscheinend von 3 % auf 2 % gesunken ist). Laut den Nachwahlbefragungen zu den Wahlen
zum Stadtrat von Kiev werden sowohl Swoboda als auch die radikale Partei Oleh Ljaschkos jeweils
rund 8 % gewinnen. Auf ihren Parteilisten standen auch Führungspersönlichkeiten von Neonazi-Gruppen
wie S14 und der Sozialnationalen Versammlung. Noch schlimmer ist, dass menschenverachtende Hasssprache
sich auch bei liberalen Regierungsmitgliedern und Pro-Maidan-Politikern breitmacht; so werden
etwa die Donbass-Rebellen wegen ihrer schwarz-orange gestreiften Fahnen als «Kartoffelkäfer» bezeichnet.
In der Bürgerkriegssituation sind Unterstützer der Swoboda und des Rechten Sektors weniger gefährlich
als der anhaltende Rechtsruck innerhalb des ukrainischen politischen Mainstreams.
Der einzige Kandidat, den man bei den Wahlen auch nur entfernt als links betrachten könnte, der Führer
der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) Petro Symonenko, trat von seiner Kandidatur zurück, allerdings
so spät, dass sein Name noch auf den Wahlzetteln stand und er etwa 1,6 % der Stimmen erhielt. In
den letzten Wochen war die KPU massiven Angriffen ausgesetzt und mit einem Verbotsverfahren für ihre
Parlamentsfraktion und ein Strafverfahren gegen die gesamte Partei bedroht, da sie angeblich die Donbass-
Separatisten unterstützt hätte. Insgesamt kann man die KPU kaum als linke Partei bezeichnen, da sie sehr
kulturkonservativ geworden ist, ihre Mandate an Oligarchen verkauft und als Mehrheitsbeschafferin für die
ehemals regierende Partei der Regionen fungierte. Die kommunistischen Abgeordneten haben einstimmig
für die Gesetze gestimmt, die am 16. Januar von dem vom ehemaligen Präsidenten Janukowitsch kontrollierten
Parlament verabschiedet wurden und durch die die Bürgerrechte eingeschränkt wurden. Ein Verbot
könnte aber McCarthy-artige Folgen nach sich ziehen, da die Maßnahmen gegen die KPU in einen Angriff
auf die kommunistische Ideologie insgesamt ausgeweitet werden könnten, womit praktisch jede linke Organisationen
im Lande bedroht wäre. Eine verbotene KPU selbst könnte sich radikalisieren, bis hin zu vollständiger
Unterstützung des bewaffneten Aufstands im Donbass, oder aus der Partei könnten sich radikalisierte
Aktivisten der extremen Linken bzw. russischen nationalistischen Gruppen in der Ostukraine anschließen.
* Veröffentlicht als Standpunkt-Papier der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 25. Mai 2014
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