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Andrang im Westen – Tote im Donbass

Sicherheitsrat sah Rekordbeteiligung an ukrainischer Präsidentenwahl / Blutiger Konflikt fortgesetzt

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Präsidentenwahlen in der Ukraine am Sonntag wurden überschattet von dem Konflikt zwischen dem Westen und dem Osten des Landes.

Der Sicherheits- und Verteidigungsrat in Kiew berichtete am Sonntag von einer rekordverdächtigen Wahlbeteiligung bei der Präsidentenwahl in der Ukraine. Die Zentrale Wahlkommission informierte über eine 40-prozentige Beteiligung um 16 Uhr Ortszeit (15 Uhr MESZ). Nach Angaben der Vaterlandspartei seien um 17 Uhr Kiewer Zeit 50 Prozent überschritten worden. Noch bis 19 Uhr MESZ stand die Wahl eines prowestlichen Präsidenten auf der Tagesordnung. Bei der Präsidentenwahl 2010 hatte die Beteiligung bei 66 Prozent gelegen.

Nach dem Sturz des prorussischen Staatschefs Viktor Janukowitsch im Februar hat drei Monate danach der Oligarch Petro Petroschenko die besten Aussichten auf den Sieg, dies aber nicht unbedingt mit absoluter Mehrheit. Abgeschlagen wurde die prowestliche Ex-Premierministerin Julia Timoschenko auf dem zweiten Platz, damit aber auch als Gegnerin in einer möglichen Stichwahl am 15. Juni erwartet.

Schlangen vor den Wahllokalen meldeten tagsüber Kiew, Lwiw und weitere westliche Städte. Dabei wurde in der Hauptstadt zugleich der Bürgermeister gewählt. Hier war Vitali Klitschko Favorit. Der verabschiedete Profiboxer verzichtete auf eine Präsidentschaftskandidatur, erbat dafür aber von Poroschenko Unterstützung für die dritte seiner bislang erfolglosen Bewerbungen.

Nicht über Andrang, sondern über Stille wurde aus den Abstimmungslokalen im Osten berichtet. Um 9.30 Ortszeit hatten laut ukrainischen Medien in der Stadt Donezk kein einziges und in der Region nur 426 Wahllokale von 2430 geöffnet – magere 17,5 Prozent. Rund 2500 Menschen demonstrierten hier gegen die Präsidentenwahl, hieß es bei ITAR/TASS. Eine Einheit bewaffneter Aufständischer sei mit Jubelrufen begrüßt worden.

Aus dem ebenfalls von prorussischen Abtrünnigen beherrschten Gebiet Lugansk hieß es, dass dort wohl nur in zwei von zwölf Bezirken gewählt werden könne. Der Sicherheitsrat in Kiew zählte aber »mehr als 1000 geöffnete Wahllokale »in den Problemregionen Donezk und Lugansk«, wie Viktoria Sjumar, stellvertretende Sekretärin des Sicherheitsrats zitiert wurde. In den von Separatisten teilweise kontrollierten östlichen Gebieten leben rund 6,5 Millionen Menschen.

Michail Ochendowski, Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission erklärte, egal ob jetzt oder in einer Stichwahl bestimmt, werde der Sieger »Präsident des ganzen Landes sein und nicht irgendeines Teils davon«. Die OSZE, die 1000 Beobachter entsandte, signalisierte eine Anerkennung der Abstimmung.

Der blutige Konflikt ging indes weiter. Getötet wurden bei Slawjansk ein italienischer Fotograf und sein russischer Dolmetscher. Der Sprecher des Innenministers in Kiew räumte ein: »In der Zone der Anti-Terror-Operation wurde nachts und am Morgen gekämpft.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 26. Mai 2014


Abstimmung mit Ausnahmen

Ukrainer wählen neuen Präsidenten. Weiter militärische Auseinandersetzungen

Von Reinhard Lauterbach **


Gut 35 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer waren am Sonntag aufgerufen, den nächsten Präsidenten des Landes zu wählen. Um die Nachfolge des im Februar weggeputschten Wiktor Janukowitsch bewarben sich 21 Kandidatinnen und Kandidaten. Als aussichtsreichster galt der Oligarch Petro Poroschenko; er machte sich Hoffnungen auf eine absolute Mehrheit bereits in der ersten Runde. Gleichzeitig fanden auch Kommunalwahlen statt. Für das Amt des Oberbürgermeisters von Kiew trat nach seinem Verzicht auf eine Präsidentschaftskandidatur auch der von der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgebaute Boxweltmeister Witali Klitschko an.

Die Wahl fand jedoch de facto nicht in allen Teilen der Ukraine statt. Aus den von den Kiewer Machthabern kontrollierten Gebieten wird eine rege Beteiligung gemeldet. Im aufständischen Donbass waren nach Angaben aus Kiew nur 400 von gut 2400 Wahllokalen geöffnet. Selbst in diesen wenigen fehlten teilweise Wählerlisten oder Wahlzettel. Die Begeisterung örtlicher Institutionen, ihre Räume für Wahlzwecke zur Verfügung zu stellen, hielt sich in Grenzen. Die Ankündigung der Zentralen Wahlkommission vom Freitag, etliche Wahllokale auf den relativ leicht zu kontrollierenden Flughafen von Donezk zu verlegen, wurde am Samstag von der Geschäftsführung des Flughafens dementiert: Nichts dergleichen sei vorgesehen. Wie repräsentativ unter diesen Umständen das Abstimmungsergebnis des Donbass sein kann, werden die etwa 1000 Wahlbeobachter der OSZE und diverser westlicher Staaten vermutlich nicht öffentlich erörtern. Russische Beobachter hatte die Ukraine nicht eingeladen.

Auch auf der im März von der Ukraine abgespaltenen Krim eröffneten proukrainische Aktivisten Wahllokale. An der Abstimmung beteiligten sich hier vor allem Angehörige der krimtatarischen Minderheit. Von den etwa 500000 deklarierten Ukrainern auf der Krim hatten sich etwa 6000 zur Stimmabgabe in Wahllokalen der Festlandsukraine angemeldet.

Im Donbass dauerten die Kämpfe zwischen Einheiten der Aufständischen und Kiewer Regierungstruppen auch am Wochenende an. Dabei kam in Slowjansk auch ein italienischer Fotoreporter ums Leben.

Die militärischen Auseinandersetzungen nehmen unterdessen offenbar an Brutalität zu. Die ukrainische Seite meldete, die Aufständischen hätten alle am Freitag von ihnen gefangengenommenen Angehörigen des Freiwilligenbataillons »Donbass« getötet. Dies habe der Kommandeur der Aufständischen der ukrainischen Seite per Facebook mitgeteilt. Das Bataillon »Donbass« wurde aus Angehörigen der »Maidan-Selbstverteidigung« und des »Rechten Sektors« rekrutiert. Als gesichert kann gelten, daß die Regierungstruppen auch mit schwerer Artillerie auf die besetzten Städte schießen. Aufständische präsentierten Blindgänger vom Kaliber 152 Millimeter; entsprechende Kanonen fehlen im Arsenal der Rebellen.

** Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014


In der Ukraine ist nach der Wahl vor der Wahl

Zur Legalisierung der Machtorgane gehören auch eine Verfassungsreform und die Neuwahl des Parlaments

Von Klaus Joachim Herrmann ***


Die Präsidentenwahl ist für die Ukraine nach dem Umsturz vom Februar erst der Anfang. Gewartet wird schon zu lange auf eine Verfassungsreform und die Neuwahl des Parlaments.

Die wichtigste Ankündigung für die Zeit nach der Wahlentscheidung wagte Favorit Petro Poroschenko im westukrainischen Lwiw. Unter Berufung auf den Willen von Volk und Maidan kündigte er für den Fall seines vorausgesagten Sieges die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung vorzeitiger Neuwahlen an. Es gelte danach, eine »neue Koalition auf der Grundlage unseres gemeinsamen Ziels der europäischen Orientierung« zu formieren.

Die Forderung nach Legalisierung der Machtorgane findet Monate nach dem Kiewer Umsturz vom Februar immer mehr Anhänger. Altpräsident Leonid Krawtschuk schlug als einer der Moderatoren des Runden Tisches dem Parlament vor, über seine Selbstauflösung nachzudenken. Stimmen für die Abhaltung von Parlamentswahlen werden lauter – und sei es, um gegen »Verrat und Sabotage« der früher regierenden Partei der Regionen und der Kommunisten vorzugehen, wie der Parteiführer der rechtsextremen Swoboda, Oleg Tjagnibok, scharf machte.

Solche Wahlen dürften aber ohne die seit Langem geforderte Verfassungsreform wirklich nicht mehr zu machen sein, selbst wenn das von der Kiewer Übergangsmacht bei der Präsidentenwahl noch verteidigt wurde. Runde Tische und Memoranden könnten eine günstig Rolle spielen, räumte der Abgeordnete Boris Kolesnikow für die in die Opposition gedrängte Partei der Regionen ein. Doch nun müsse man an die Verfassung herangehen. Der Staat sei entweder unitär, wenn auch mit größeren Vollmachten für die Regionen, oder föderativ. »Ohne konkrete Änderungen der Verfassung können wir den Bürgern nicht sagen, wohin sich die Ukraine entwickelt«, mahnte er.

Das Versprechen, eine Verfassungsreform mit Orientierung auf Dezentralisierung der Macht und eine parlamentarisch-präsidiale Republik unverzüglich einzuleiten, ist seit knapp einer Woche amtlich. Die Werchowna Rada, das Parlament in Kiew, verabschiedete am Dienstag mit 252 von 450 Stimmen sein »Memorandum für Frieden und Eintracht« mit Gesetzeskraft. Das Dokument war vom Runden Tisch in Charkow erarbeitet und verabschiedet worden. Vertreter der abtrünnigen »Volksrepubliken« des Ostens hatten dort allerdings keinen Sitz und schon gar keine Stimme.

Doch natürlich ging es bei den Reizthemen Dezentralisierung – sprich größere Rechte der Regionen – und Status der russischen Sprache genau um den Osten und Süden der Ukraine. Sogar der Vizechef der »Volkswehr« in Donezk, Miroslaw Rudenko, räumte ein, dass sich eine Verwirklichung des Dokuments »möglicherweise auf die Situation im Osten auswirken« könnte.

Gerade die demonstrative und provokante Absage insbesondere der rechtsextremen Sieger von Kiew an das Sprachengesetz hatte die russischsprachige Bevölkerung in Aufruhr versetzt. Noch unter dem gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch war dem Russischen regional der Status einer Amtssprache zugestanden worden. Durch ein neues Gesetz sollte dies revidiert werden. Das wurde als Kampfansage des Westens, der sich zunehmend militant auf die EU orientierte, an den russlandfreundlichen Osten verstanden. Nicht einmal der Parlamentspräsident und enge Vertraute der Vaterlandspartei-Chefin Julia Timoschenko, Alexander Turtschinow, wagte das Gesetz zu unterzeichnen. Doch viele Ukrainer im Südosten fühlten sich zurückgesetzt und gedemütigt. Erst einige Krisen später ließ sich von den neuen Machthabern jemand überhaupt in der Gegend blicken.

Ukrainisch soll künftig zwar einzige Amtssprache sein, der Status des Russischen aber auf bisher noch nicht beschriebene Weise gestärkt werden. Auch andere Sprachen nationaler Minderheiten sollen in »kompakten Siedlungsgebieten« besondere Unterstützung erhalten. Als Garant dafür nimmt sich die Werchowna Rada selbst in die Pflicht. Die Kommunisten bemängelten, dass Russisch nicht überall zweite Amtssprache sein wird. Von der rechtsextremen Swoboda kam harsche Kritik daran, dass die russische Sprache überhaupt regional in den »besonderen Status« erhoben werden kann.

Zum Abbruch der Kampfhandlungen führte die Initiative nicht. Ultimativ wurden die Milizen der abtrünnigen Regionen aufgefordert, die Waffen zu strecken. In Aussicht gestellt war eine Amnestie. Zum Ende der »Anti-Terror-Operation«, wie von den neuen Chefs im Osten gefordert, mochte sich die Übergangsmacht in der Hauptstadt nicht durchringen.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 26. Mai 2014


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