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Der Favorit hat Angst vor der Stichwahl

Schokoladenkönig Poroschenko will das ukrainische Präsidentenamt sofort / Timoschenko bleibt graue Eminenz

Von Klaus Joachim Herrmann *

Bei der ukrainischen Präsidentenwahl am Sonntag ist Oligarch Poroschenko großer Favorit und der Osten ohne C hance.

Präsidentschaftskandidat Petro Poroschenko möchte am liebsten gleich im ersten Wahlgang siegen. Ein natürlicher Wunsch, wenn man vor dem Urnengang in Umfragen bei rund 45 Prozent liegt. Der Oligarch, der aus der Süßwarenindustrie kam, fürchtet weniger um sich selbst als um die Stichwahl: »Wenn es keine Entscheidung im ersten Wahlgang gibt, dann vielleicht auch keine zweite Runde«, warnte er am Donnerstag in Odessa. Nicht nur der 48-Jährige befürchtet, dass die Destabilisierung der Ukraine in drei Wochen so groß sein könnte, dass man den zweiten Wahlgang gar nicht mehr durchbringt.

Die fortgesetzten blutigen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine dürften ihn in seiner Sorge bestärkt haben. Schließlich verweisen Kritiker schon seit längerem darauf, dass ein Land am Rande oder schon inmitten eines Bürgerkrieges nicht demokratisch wählen könne. Schon das würde die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses ernstlich erschüttern.

Nicht erwähnen mochte er wohl, dass gerade im umkämpften Südosten eine Stichwahl kaum noch auf Interesse stoßen dürfte. Da blieben die beiden stramm westeuropäisch orientierten Oligarchen Poroschenko und Julia Timoschenko unter sich. Die 53-Jährige führt mit rund acht Prozent Zustimmung das abgeschlagene Verfolgerfeld an.

Erst in der zweiten Runde hätte Schokoladenkönig Poroschenko laut Umfragen mit mehr als 52 Prozent seine absolute Mehrheit in bester Aussicht, Timoschenko würde mit knapp zehn Prozent geschlagen. Doch klein beigeben mochte sie trotz mehrfacher Aufforderung nicht. Für den – höchst wahrscheinlichen – Fall ihrer Niederlage kündigte sie vorsorglich schon die »dritte ukrainische Revolution« an. Für den Osten wäre das Duell der Oligarchen aber keine Alternative mehr. Sogar ein Viertel des gesamten Wahlvolkes erklärte bereits, es würde in einem solchen Falle gar nicht mehr abstimmen wollen.

Das Verhältnis der beiden führenden Kandidaten zum großen Nachbarn lässt sich günstigsten Falles mit pragmatisch und wütend antirussisch andererseits beschreiben. Expremier Timoschenko hat aus ihrem Drang nach Westen in EU und NATO nie ein Hehl gemacht. Poroschenko zeigt sich diplomatischer. Er möchte die Eurointegration in den Rang einer »nationalen Idee« erheben und mit ihr die Ukraine einen. Trotz der gefälligeren Aufschrift wäre auch das im Osten kein leichtes Unterfangen. Es sollte noch nicht vergessen sein, dass die Krise über den Streit um die Hinwendung nach Brüssel oder nach Moskau ausbrach und kräftig angeheizt wurde.

In der Ukraine haben allerdings Rechtsextreme, die seit dem Umsturz in Kiew mitregieren, wenig und im Osten keine Chancen. Schon gar nicht die als Faschisten und »Banderowzy«, also die einst mit den deutschen Nazis kollaborierenden Bandera-Leute, verachteten und gefürchteten Oleg Tjagnibok (45 Jahre) von der Freiheitspartei oder Dmitro Jarosch (42 Jahre) vom militanten Rechten Sektor. Sie sind eine düstere Erinnerung an die Feinde aus dem Großen Vaterländischen Krieg. Der wurde im Verbund der Sowjetunion unter größten Opfern siegreich bestanden.

Wenn auch aussichtslos, gibt es in der ersten Runde doch wenigstens noch einige Vertreter aus dem Donbass. So den früheren Charkower Gouverneur Michail Dobkin (44 Jahre) und den aus Dnjepropetrowsk stammenden Vizepremier Sergej Tigipko (54 Jahre). Der stammt aus jener gestürzten Regierung, die unter dem in die Flucht geschlagenen Präsidenten Viktor Janukowitsch gebildet worden war. Bei ihnen sähe laut Umfragen ein bemerkenswerter Teil der prorussischen Mehrheit der östlichen und südlichen Landesteile ihre Sprache und andere Rechte vertreten.

Ob nun aber Sieg im ersten oder zweiten Anlauf, Poroschenkos Sorge um die Legitimität der Wahl bleibt berechtigt. Denn die Ausgestaltung des ausgeschriebenen Amtes beruht auf einer erzwungenen eiligen Rückkehr zur Verfassung, die vor Janukowitsch galt. Eine Verfassungsreform kam trotz international garantierter Abmachungen nie voran. Trotz der Präsidentenwahl wird die wirkliche Macht dort bleiben, wo sie nach dem Maidan landete: bei Julia Timoschenkos Vertrauten. Das sind Parlamentspräsident Alexander Turtschinow und Premier Arseni Jazenjuk. Auch mit nur zehn Prozent und weniger bliebe Timoschenko Verliererin – aber graue Eminenz.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 23. Mai 2014


Anhaltende Kämpfe im Osten **

Bei Gefechten zwischen ukrainischen Regierungstruppen und Separatisten in der Ostukraine sollen am Donnerstag mindestens 20 Menschen getötet und mehr als 42 verletzt worden sein.

Gefechte tobten nach Angaben der Agentur Interfax etwa 60 Kilometer südlich von Donezk, aber auch in der Nähe von Lugansk. Regierungsnahe Quellen in Kiew hatten zuvor berichtet, dass in Wolnowacha neun ukrainische Soldaten erschossen worden seien. Übergangspremier Arseni Jazenjuk kündigte bei einem Truppenbesuch nahe Kiew an, die Ukraine werde kurzfristig eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates beantragen, weil »die russische Seite Versuche zur Eskalation des Konflikts« unternehme. Jazenjuk beschuldigte Moskau, die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai vereiteln zu wollen.

Kiew solle Moskau nicht für alle seine Nöte verantwortlich machen, sondern die berechtigten Forderungen des Volkes beachten, erklärte Russlands Außenminister Sergej Lawrow schon zuvor. Gerade um keine Spekulationen aufkommen zu lassen, Russland würde »die Präsidentenwahl behindern«, ziehe man Truppen von der ukrainischen Grenze zurück, hatte Präsident Wladimir Putin am Vortag in Shanghai gesagt. Die Tatsache des Rückzugs musste am Donnerstag auch die NATO bestätigen.

Allerdings rechnet Putin auch nach der Präsidentenwahl nicht mit einer schnellen Normalisierung der bilateralen Beziehungen. »Ein gutes Verhältnis zu Menschen, die vor dem Hintergrund einer Militäraktion gegen die Bevölkerung im Südosten der Ukraine an die Macht kommen, wird kompliziert sein«, sagte er bei seinem China-Besuch.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 23. Mai 2014


Spaltungswahlen

Ukraine stimmt über neuen Präsidenten ab

Von Reinhard Lauterbach ***


Immerhin gibt es eine gute Nachricht aus der Ukraine: Die Wahrscheinlichkeit, daß die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen gefälscht werden wie die meisten zuvor, ist diesmal gering. Es gibt dazu keinen Anlaß, denn alle aussichtsreichen Kandidaten wollen dasselbe: die raschestmögliche Integration der Ukraine in EU und NATO. Sie mögen sich in Nuancen und taktischen Varianten unterscheiden, aber im strategischen Ziel sind sich die beiden Oligarchen Petro Poroschenko und Julia Timoschenko, die auf den Plätzen eins und zwei der Umfragen stehen, einig. Alle Kandidaten mit anderen Zielsetzungen wurden erfolgreich an den Rand gedrängt. Zuletzt hatte der Bewerber der duch Repressionen dezimierten ukrainischen Kommunisten seine Bewerbung nach einem versuchten Mordanschlag selbst zurückgezogen. Daß in den Aufstandsgebieten die Wahlen wahrscheinlich nicht stattfinden werden, schwächt die Position des aussichtsreichsten Kandidaten der Anti-Maidan-Kräfte, Sergej Tigipko, ebenso wie unter dem Strich die Abspaltung der Krim. Insofern muß man illusionslos eingestehen: Diesmal hat der vom Westen mit angeblich fünf Milliarden Dollar gesponserte Machtwechsel geklappt. Und die Wahl vom Sonntag hat nur eine Aufgabe: den »Regime change« nachträglich zu legitimieren, die Verfassungswidrigkeit des Umsturzes von Ende Februar zu überdecken.

Ob allerdings die Hoffnung wahr wird, mit einem schönen Wahlergebnis und einem frisch gekürten Präsidenten an der Spitze werde die Ukraine zur Stabilität zurückkehren, ist bei weitem nicht so klar. Denn die Leute, die in Kiew an der Macht sind, haben weiterhin kein Konzept dafür, wie sie die Bevölkerung der Ostukraine, besonders die des aufständischen Donbass, in ihren ukrainisch-nationalistischen Staat integrieren könnten. Sämtliche Umfragen haben gezeigt, daß etwa 40 Prozent der Bevölkerung dieser Region entweder nicht zur Wahl gehen oder »Gegen alle« stimmen wollen. Sie haben in der neuen Ukraine keine politische Heimat mehr. Wenn Kiewer Hofschreiber jetzt erklären, die in 20 Jahren oligarchischem Kapitalismus gewachsene Tradition der sozialen Passivität werde dazu führen, daß die Donbassler auch die jetzige Macht akzeptieren würden, dann ist das Hochmut frei nach dem Adenauerschen Motto: Et hätt noch immer joot jejange.

Muß es nämlich diesmal nicht. Es sind wiederum die Kiewer Neoliberalen, die im Tonfall der Verachtung darauf hinweisen, daß die Aufständischen im Osten sich aus den Marginalisierten rekrutierten, den Opfern der Transformation, den Losern von der »Unterschicht«. Jetzt haben diese Verlierer aber Waffen. Wählt Kiew das Blutbad, um sie zu demütigen, bespritzt es damit die eben erst durch die Wahl blankpolierte Legitimation.

Diese Abstimmung besiegelt die Spaltung der Ukraine. Die soziale – und womöglich die politische.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 23. Mai 2014 (Kommentar)


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