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Ukraine-Konflikt: It's geopolitics, stupid!

Rückfall in Schwarz-Weiß

Von Peter Wahl *

Die Integration der Krim in den russischen Staatsverband ist der vorläufige Höhepunkt einer Eskalationsspirale, die im letzten November vergleichsweise harmlos begann. Beteiligt waren neben ukrainischen Akteuren von Anfang auch die EU, die USA und Russland. Wenn man aus dieser Gesamtentwicklung nur einen Teilabschnitt herauslöst, kommt man nicht nur zu einer selektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern ist auch zu einer konstruktiven Problemlösung unfähig, schreibt Peter Wahl.

Als der Kalte Krieg endete, schien auch plattes Schwarz-Weiß-Denken in den Ost-West-Beziehungen obsolet geworden zu sein; zumal mit der Globalisierung Interdependenzen und Komplexität im internationalen System noch einmal dramatisch zugenommen hatten. Jetzt feiert die Einteilung der Welt in Gut und Böse wieder fröhliche Urständ, und das lange bevor die Bevölkerung der Krim sich für Russland entschied. Wie im Lehrbuch für Konflikttheorie gibt es die typischen Begleiterscheinungen: manipulative Berichterstattung von grotesken Ausmaßen, hemmungslose Feindbildproduktion, Ausgrenzung von kritischen Stimmen im eigenen Lager. Wer sich der binären Logik entzieht, wird zum Putinversteher, so etwas wie die aktuelle Variante des vaterlandslosen Gesellen. Es geht dann nur noch darum, auf der richtigen Seite zu stehen, Recht zu haben und zu gewinnen.

Permanentes Roll-back gegen Russland

Geopolitik ist grundsätzlich problematisch. Ihr ist die Logik des Kampfes um die Stellung des eigenen Landes im internationalen System inhärent. Ressourcen sind dabei Militär, ökonomische und technologische Stärke, politische und kulturelle Ausstrahlung. Daher verhält sich systemkonform, wer Machtressourcen akkumuliert und in Stärke nach außen verwandelt. Insofern ist in Geopolitik ein Moment von Expansivität strukturell angelegt.

Wie jede Ideologie erfasst Geopolitik aber auch einen Teil der Wirklichkeit, zumal wenn diese Weltsicht für die Akteure handlungsleitend ist. Dies gilt für EU ebenso (s. demnächst Joachim Becker) wie für die USA und Russland.

Nimmt man den Gesamtprozess und nicht nur einen genehmen Ausschnitt in den Blick, wird als Grundmuster der westlichen Politik ein permanentes Roll-back Russlands sichtbar. Im postsowjetischen Chaos der Ära Jelzin wurde die Schwäche Russlands skrupellos ausgenutzt. War Gorbatschow bei der deutschen Wiedervereinigung noch blauäugig auf das Versprechen hereingefallen, die NATO würde „sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen“, so konnte Putin bei seinem Amtsantritt die Osterweiterung nur noch zur Kenntnis zu nehmen. Es lag von Anfang an ein Hauch von Versailles über den Beziehungen zwischen den Siegern des Kalten Krieges und Russland.

Die USA führte sich als einzige Supermacht im unipolaren System mit imperialer Arroganz auf (schöne Einzelheiten bei Martin Khor nachzulesen (The hypocrisy of some nations [externer Link]). Selbst im Falle Libyens, wo Putin einer Flugverbotszone zugestimmt hatte, wurde er von Washington und seinen Hintersassen in Paris und London über den Tisch gezogen.

Doppelstandard oder Wertegemeinschaft?

Als dann die Proteste in Kiew losgingen, wurden sie sofort internationalisiert und gegen Russland instrumentalisiert. So z.B. als Gauck seinen Boykott der Winterspiele ankündigte. So sympathisch der Impetus der Demonstrationen gegen Oligarchen und Korruption ist – auch Putin hat dafür seine Sympathie geäußert – so naiv ist es, die Teilnahme der Ashton, Westerwelle, Kerry und Co. an der Demonstration in Kiew für Solidarität gegen den crony capitalism zu halten. Die tiefe Gespaltenheit des Landes und seine unzähligen Verbindungsfäden mit Russland wurden beiseite gewischt. Es zählte nur das Interesse, das Land aus den Pranken des russischen Bären zu befreien. Und dieser hatte dabei gefälligst die Klappe zu halten. Dass er Edward Snowden Schutz vor Verfolgung gewährt und in Syrien gemeinsam mit China die Wiederholung der Libyen-Nummer abgeblockt hatte, waren ohnehin schon zwei Frechheiten zu viel.

Geopolitik hat ein grundlegendes Legitimationsproblem. Und da die Christianisierung von Heiden oder die Zivilisierung von Wilden heute nicht mehr angesagt sind, wurden Demokratie und Menschenrechte zum Legitimationsanker. Beides in der Tat hohe Güter, aber sie haben einen großen Nachteil: man muss sich selbst dran halten und darf auch bei Dritten keine Ausnahme machen. Sonst kommt nur heuchlerische Doppelmoral heraus.

Nun ist Russland gewiss keine lupenreine Demokratie. Aber es braucht schon die bigotte Selbstgerechtigkeit der USA, um angesichts der totalitären Züge von NSA und Big Data, angesichts des Folterzentrums Guantanamo, der täglichen Killerdrohne und der schwulenfeindlichen Gesetze in zahlreichen Bundesstaaten mehr als eine nur noch quantitative Differenz zu Russland zu erkennen. Und nicht zu vergessen: das notorische Demokratiedefizit der EU, das vordemokratische Notstandsregime im europäischen Krisenmanagement oder die Debatten um Postdemokratie.

All das legitimiert nicht das unverhältnismäßige Vorgehen gegen Pussy Riot, noch das Oligarchen- und Kosakenunwesen oder das reaktionäre Bündnis zwischen Staat und orthodoxen Popen. Aber es entzieht jenen die Glaubwürdigkeit, die sich für Demokratie und Menschenrechte nur dann interessieren, wenn sie ins geostrategische Kalkül passen – also z.B. nicht in Saudi-Arabien, Palästina oder der Türkei. Kein Wunder, wenn 80% der Deutschen gegen Sanktionen sind.

Völkerrecht?

Nicht anders sieht es beim Völkerrecht aus. Beispiel: 2003 begannen die USA ihren Angriffskrieg gegen den Irak, gerechtfertigt mit der fetten Kriegslüge von Saddam Chemiewaffen. Damals mit von der Partie übrigens auch das neue Europa, vorneweg Polen und die drei baltischen Staaten, sowie die Ukraine und Georgien. Sehr gerne hätte auch die damalige Oppositionschefin im Bundestag, Merkel, bei dem Gemetzel mitgemacht. Aber der Genosse der Bosse weigerte sich, bei der Durchsetzung der westlichen Werte in Bagdad mitzumachen.

Über das Verfahren, mit dem die Krim an Russland kam, kann man aus völkerrechtlicher Sicht streiten. So hält es z.B. der Dekan der juristischen Fakultät an der Uni Nizza, Robert Charvin [externer Link], für verfassungs- und völkerrechtlich legal. Aber man kann es nicht isoliert von der provokativen Eskalationspolitik des Westens betrachten, oder, wie Kissinger sagt: „Der Test von Politik ist nicht wie sie beginnt, sondern wie sie endet.“ Und da das Ganze dem starken Wunsch der Bevölkerung und damit dem Selbstbestimmungsrecht der UN-Charta entspricht, verfügt es mindestens über so viel demokratische Legitimität wie die Veränderung der Grenzen in Europa durch die Unabhängigkeit des Kosovo.

Haudraufpolitik löst keine Probleme

Der kurze Sommer der unipolaren Weltordnung ist vorbei. Die USA und ihre Juniorpartner werden sich daran gewöhnen müssen, dass das internationale System zu einer polyzentrischen Ordnung wird. Soll diese nicht in neuen Blöcken und Kalten Kriegen erstarren – schon jetzt bildet sich eine Achse Moskau-Peking als Reaktion auf das transatlantische Kondominium – braucht es statt hergebrachter Geopolitik Kooperation, Interessenausgleich, Entspannung und Deeskalation, kurzum: Wandel durch Annäherung – auch im Westen. Schließlich gibt es neben der Gesichtswahrung von US-Präsidenten auch noch ein paar andere Menschheitsprobleme: den Klimawandel, die globale Armut und einige mehr.

* Dieser Beitrag erschien in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 24. März 2014; www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org


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