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Weniger Öl im Feuer der Krise

Einigung im Gasstreit mit Moskau / Aber am Sonntag wählt der ukrainische Osten

Von Klaus Joachim Herrmann *

Etwas Entspannung brachte die Einigung über russisches Gas für die Ukraine und dessen Bezahlung. Neuen Konfliktstoff bergen die Wahlen im abtrünnigen Donbass.

Zu guter Letzt setzte sich in den russisch-ukrainischen Gas-Verhandlungen die urschwäbische Weisheit des EU-Vermittlers Günther Oettinger durch: »Rechnungen müssen bezahlt werden.« Mit der Einigung der zerstrittenen Parteien in letzter Minute seiner Amtszeit feierte der scheidende Energiekommissar Donnerstagabend in Brüssel auch einen persönlichen Erfolg. Er freute sich über einen Schritt »hin zu Deeskalation und Vertrauensbildung.«

Alle konnten mit seiner Mission zufrieden sein. Bis März soll die Ukraine, wie dpa die zuständigen Minister wiedergab, einen Preis von 378 US-Dollar (knapp 300 Euro) je Tausend Kubikmeter Gas zahlen. Das wäre nach russischer Lesart ein Preisnachlass um 100 Dollar. Aber erst sind die Schulden zu begleichen, unterstrich Gazprom-Chef Alexej Miller. Er rechnete damit bis Ende nächster Woche.

Für 1,5 Milliarden US-Dollar (knapp 1,2 Milliarden Euro) will die Ukraine Gas kaufen. Zur Begleichung alter Schulden sind bis Jahresende 3,1 Milliarden US-Dollar (rund 2,5 Milliarden Euro) an den russischen Konzern Gazprom zu zahlen. Trotz leerer Kiewer Kassen scheint Geld da zu sein. Laut Oettinger liege es auf einem Sonderkonto bei der ukrainischen Staatsbank. Eine Tranche von 1,45 Milliarden US-Dollar soll »in den nächsten Tagen« gezahlt werden.

Europa zeigte sich zufrieden. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso sah »keinen Grund dafür, dass die Menschen in Europa es in diesem Winter kalt haben«. Die Ukraine war als Transitland Ukraine ein großer Unsicherheitsfaktor. Denn wie in früheren Jahren musste damit gerechnet werden, dass das Land für Europas Versorgung bestimmte Leitungen einfach anzapfe. Russland setzte angesichts der Zahlungs(un)moral des ukrainischen Kunden Vorkasse durch. Die Ankündigung, dezimierte Lieferungen um gestohlene Mengen zu verringern, trieb auch die EU an den Verhandlungstisch. Der Gasfrieden ist bis März 2015 befristet.

»Wir werden das Erdgas billiger als die Ukraine bekommen«, hatte zuvor der Regierungschef der abtrünnigen »Volksrepublik Donezk«, Alexander Sachartschenko, ohne nähere Erklärungen frohlockt. Giftig hieß es hingegen aus Kiew, Russland solle ruhig den Donbass mit Gas versorgen. Das könnten dann ja die Aufständischen bezahlen. Es bleibt immer noch genug Öl im Feuer der Krise.

Denn nach den ukrainischen Wahlen, an denen der Osten faktisch nicht teilnahm, halten Sonntag die prorussischen Regionen eigene ab. Am Sonntag sollen Führungen und Parlamente bestimmt werden. In der »Volksrepublik Donezk« treten die Parteien »Donezker Republik« der führenden Vertreter der »Volksrepublik« und als eine Art Alternative »Freies Donbass« an. Die »Lugansker Volksrepublik« bietet mit »Frieden für Lugansk« um das amtierende Oberhaupt der Volksrepublik, Igor Plotnizki, die »Lugansker Wirtschaftsunion« und die »Volksunion« drei Parteien auf. Die Kommunisten wurden im Vorfeld verboten, eine angekündigte Neugründung spielt keine Rolle.

Die Erwartung, dass sich die Ostukraine normalisieren und stabilisieren könne, kam vom Chef der präsidialen Administration in Moskau, Sergej Iwanow. Außenminister Sergej Lawrow versicherte, das Votum werde anerkannt. Es legitimiere die Macht und sei »eine der wichtigsten Richtungen der Minsker Vereinbarungen«, sagte er laut RIA/Nowosti.

Die Zentralmacht in Kiew und ihre westlichen Verbündeten behaupten genau das Gegenteil und lehnen die Wahlen ab. Sie sehen einen Verstoß gegen Minsk und fürchten Destabilisierung. Nach dem Gesetz über den Sonderstatus der Region sollten territoriale Selbstverwaltungsorgane am 7. November gewählt werden.

Rechtzeitig vor dem Wahltag erreichte der vierte Hilfskonvoi Russlands die Ostukraine. Ihn begleitete der Vorwurf aus Kiew, die Lieferung sei nicht angekündigt worden. An deren Notwendigkeit gab es angesichts der dramatischen Lage im Donbass aber keine Zweifel.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 1. November 2014

NATO besorgt über Russlands Luftmanöver

Flugsicherung nennt Aktivitäten »völlig legal«

»Keinen Grund zur Sorge« mochte die in Moskau erscheinende »Njesawissimaja Gasjeta« dem Westen am Freitag zugestehen. Die Flüge russischer Kampfjets über der Arktis, dem Atlantik, dem Schwarzen Meer und der Ostsee seien selbst nach NATO-Angaben über neutralen Gewässern und im offenen internationalen Luftraum erfolgt. Gewarnt werde immer nur wieder vor der »russischen Gefahr«.

Die NATO hatte ihrer Meinung nach außergewöhnlich umfangreiche Manöver der russischen Luftwaffe am Dienstag und Mittwoch beobachtet. Zwei Langstreckenbomber seien sogar bis westlich von Portugal und Großbritannien vorgedrungen. Am Donnerstag testete Moskau zudem eine mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalrakete.

Kurz vor den russischen Manövern hatte der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag darauf hingewiesen, dass die Zahl der NATO-Jets im Luftraum der östlichen Alliierten in den vergangenen Monaten verfünffacht wurde. Ziel sei es, die durch Russlands Verhalten in der Ukraine-Krise besorgten Partner wie die Balten und Polen zu beruhigen. Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte gelassen: »Ich bin jetzt akut nicht besorgt, dass hier eine Verletzung des Luftraums stattfindet«, sagte sie. Die Deutsche Flugsicherung betonte, die Flüge seien »völlig legal« gewesen.

nd, 1.11.2014



Hin zum Gruselkabinett

Nach den Wahlen in der Ukraine geraten sich die Sieger in die Haare

Von Reinhard Lauterbach **


Nach den Parlamentswahlen in der Ukraine haben die Auseinandersetzungen um die Regierungsbildung begonnen. Präsident Petro Poroschenko schlug der bei den Zweitstimmen mit knappem Vorsprung stärksten Partei, der »Volksfront« von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, eine Koalition vor, die auch die neu ins Parlament gekommene Partei »Selbsthilfe« umfassen solle. Jazenjuk wies diesen Vorschlag zurück; als Chef der stärksten Partei beanspruchte er das Recht zur Regierungsbildung und schlug ein Bündnis ohne den »Block Petro Poroschenko« vor. Es solle aus seiner Partei, der »Selbsthilfe«, der »Vaterlandspartei« von Julia Timoschenko und der »Radikalen Partei« von Oleg Ljaschko gebildet werden.

Sollten Jazenjuks Pläne in Erfüllung gehen, entstünde ein wirkliches Gruselkabinett, in dem sich die Koalitionspartner in nationalistischen Erklärungen und antirussischem Populismus gegenseitig übertreffen würden. Eine Neuauflage des Bürgerkrieges im Osten wäre sehr wahrscheinlich. Die »Volksfront« spricht sich für einen neuen Versuch zur militärischen Rückeroberung des Donbass aus. Ljaschko, Chef der »Radikalen Partei«, hat zur Politik gegenüber den Aufstandsgebieten die Parole ausgegeben, mit Terroristen gebe es nichts zu verhandeln, sie gehörten erschossen. Und Julia Timoschenko war noch im Frühjahr durch ein vermutlich von ihr selbst zu Wahlkampfzwecken in die Presse lanciertes Telefonat aufgefallen, in dem sie erklärt hatte, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am liebsten eine Kugel in den Kopf schießen und Russland als ganzes mit Atombomben verwüsten zu wollen.

Poroschenko, dessen Partei zwar dank zahlreicher Direktmandate mit 150 von 423 Abgeordneten die stärkste Fraktion im neuen Parlament stellen wird – 27 Mandate sind wegen der Abspaltung der Krim und des Aufstands im Donbass nicht besetzt worden – , droht damit ausgebootet zu werden. So rief er seine Leute auf, Jazenjuks Kandidatur für das Amt des Regierungschefs zu unterstützen.

Ungemach droht den Maidan-Kräften derweil von anderer Seite. Die faschistische »Swoboda«-Partei, die nur durch einige als Direktkandidaten gewählte Abgeordnete im nächsten ukrainischen Parlament sitzen wird, wirft den Regierungsparteien Wahlbetrug zu ihren Lasten vor und kündigte den auf dem Maidan geschlossenen Burgfrieden auf. Parteichef Tjagnibok erklärte auf einer Protestversammlung in Kiew, das Ergebnis seiner Partei sei von 5,2 auf 4,8 Prozent heruntermanipuliert worden, um die »Swoboda« aus dem Parlament herauszuhalten. Hinter dem unterstellten Manöver vermutete Tjagnibok eine bizarre Koalition aus Russland, der ukrainischen Oligarchie und der EU.

Wahrscheinlicher ist, dass die Anhängerschaft der »Swoboda« in vielen Fällen mit der Zweitstimme die »Volksfront« gewählt hat; denn deren regionale Hochburgen decken sich mit den Gegenden, wo »Swoboda« traditionell stark war und wo sie auch bei diesen Wahlen die Fünfprozenthürde mit Ergebnissen bis zu neun Prozent locker übersprungen hat. Dazu gehört übrigens auch die Hauptstadt Kiew und ihre Umgebung, wo überdies der Vizechef des „Rechten Sektors“ sich ein Direktmandat sichern konnte. Die Wahl bestätigte auch die regionale Stärke der politischen Gegenseite. Der aus der »Partei der Regionen« hervorgegangene »Oppositionsblock« kam im Landesmaßstab auf 9,4 Prozent und wurde damit viertstärkste von sechs in der Rada vertretenen Parteien. Im russischsprachigen Osten blieb die Partei aber mit großem Vorsprung stärkste politische Kraft und erzielte Ergebnisse von bis zu knapp 40 Prozent.

Am Sonntag sollen auch die Wähler in den Aufstandsgebieten abstimmen. Die Wahl wird vom Westen bereits im Vorfeld als illegitim bezeichnet; Russland dagegen hat angekündigt, ihr Ergebnis anzuerkennen. Über den Charakter der Wahl in Donezk und Lugansk kann man geteilter Meinung sein; in beiden »Volksrepubliken« sind ad hoc eine Regierungspartei und ein alternatives Angebot aus dem Boden gestampft worden; der Kommunistischen Partei der Ukraine wurde dagegen die Registrierung verweigert.

** Aus: junge Welt, Samstag, 1. November 2014


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