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Tiefe Besorgnis über Tote in Kiew

Krisentreffen mit Opposition / Neue Zusammenstöße / USA annulliert Visa *

Überschattet von Nachrichten über den Tod von möglicherweise bis zu fünf Demonstranten trafen sich der Ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch sowie die Oppositionspolitiker Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjagnibok am Mittwoch zu einem dreistündigen Krisengespräch im Präsidialamt. Ergebnisse sollten am Abend den Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz mitgeteilt werden. Namens der Ukrainischen Rechtgläubigen Kirche warnte Mitropolit Antoni vor einem Bürgerkrieg. Alle sollten sich besinnen, bevor es zu spät sei, sagte der Geistliche.

Bei den Protesten sollen zwei Männer an Schussverletzungen, ein weiterer nach einem Sturz vom Eingang des Dinamo-Stadions gestorben sein. Opposition und Regierung machten sich für die Todesfälle in scharfen Worten gegenseitig verantwortlich.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte in Brüssel ein »sofortiges« Ende der Gewalt. Die Verantwortlichen seien zur Rechenschaft zu ziehen. Ashton rief Regierung und Opposition zu einem Dialog »auf höchster Ebene« auf, da Gewalt die politische Krise in dem Land nicht lösen könne. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso drohte der Regierung in Kiew »mögliches Handeln« der EU an. »Wir sind aufrichtig besorgt, wohin diese Ereignisse die Ukraine tragen«, sagte er. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte, dass Gewalt keine Lösung sei: »Das sagen wir beiden Seiten.«

Mit einem Appell, von »Gewalt in jeder Form« abzusehen und in einen »konstruktiven Dialog mit der Macht« einzutreten, wandte sich die Russische Staatsduma an die Opposition. Neben Extremisten machten die Abgeordneten des Russischen Parlaments auch westliche Politiker verantwortlich, die sich »grob in die inneren Angelegenheiten der souveränen Ukraine eingemischt« hätten.

Wegen der Polizeieinsätze gegen die prowestliche Opposition in Kiew habe die US-Botschaft die Visa mehrerer ukrainischer Behördenvertreter annulliert, teilte die US-Vertretung in Kiew mit.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 23. Januar 2014


Hochspannung über dem Zentrum Kiews

Demonstranten erwarteten Räumung des Unabhängigkeitsplatzes / 37 Journalisten verletzt

Von Klaus Joachim Herrmann **


Hochspannung am Mittwoch in Kiew. Nach dem Tod dreier Demonstranten wurde am Nachmittag mit der Räumung des Unabhängigkeitsplatzes als Zentrum des Protestes gerechnet.

Die Meldung über den Tod eines Mannes bei Zusammenstößen im Zentrum der Hauptstadt wurde am Mittwoch vom ukrainische Fernsehkanal Fünf verbreitet. Die Staatsanwaltschaft teilte etwas später mit, es seien insgesamt zwei Aktivisten während der Proteste von Kugeln tödlich getroffen worden. Ein dritter Demonstrant starb nach Angaben von Regierungsgegnern nach einem Sturz vom Rande des Stadions aus über zehn Metern Höhe. Er soll zuvor Brandsätze geworfen haben.

Am Nachmittag wurde bekannt, dass Präsident Viktor Janukowitsch mit den Spitzen der Opposition verhandele. Nähere Informationen gab es nicht. Nur auf der Webseite des Präsidenten fand sich eine Erklärung, dass sich die Opposition an den Verhandlungstisch setzen und die Konfrontation beenden solle. »Ich bin gegen Blutvergießen, gegen Gewaltanwendung und gegen das Anheizen von Feindseligkeit. Ich bitte die Menschen, nach Hause zu gehen. Wir müssen Frieden, Ruhe und Stabilität in der Ukraine wiederherstellen.«

Keinen Widerhall fand dieser Appell bei der inhaftierten ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko. Sie bezeichnete Janukowitsch als Mörder und rief die »demokratische Welt« dazu auf, »eine zweite große Front gegen die in der Ukraine aufgerichtete Diktatur zu schaffen«.

Gegen 15 Uhr Ortszeit verbreiteten sich in der Hauptstadt Hinweise, dass der Unabhängigkeitsplatz als Zentrum des Protestes in Kürze gestürmt werden könnte. Hier hielten sich etwa 30 000 Regierungsgegner auf. Schwarzer Rauch stieg von brennenden Autoreifen auf. In einer nahe gelegenen Straße sei gepanzerte Technik aufgefahren. Umliegende Büros würden evakuiert, die Einsatzkräfte hätten trotz des Frostes die Erlaubnis zum Einsatz von Wasserwerfern erhalten. Befürchtet wurde ein Einsatz der Armee. Später hieß es, dass sie nicht eingesetzt werde und dass sich alle Einheiten an ihren Standorten befänden.

Die Lage in Kiew war bereits seit den Morgenstunden äußerst angespannt. Im Umfeld des Dinamo-Stadions stürmten Einsatzkräfte Barrikaden und nahmen Protestierer fest. Auf die Polizisten wurden Brandsätze und Steine geworfen. Die Einheiten feuerten Blendgranaten und Tränengas, zogen sich danach aber wieder zurück. Nach Informationen der Ukrainskaja Prawda wurden zehn Personen verhaftet, weil sie bei den Unruhen im Umfeld des Stadions »Pogrome geschürt« hätten.

Die Vereinigung ukrainischer Waffenbesitzer warnte vor einem Blutbad. Allein in der Hauptstadt seien allein 400 000 registrierte Schusswaffen in den Händen der Menschen. Die Zeitung »Segodnja« berichtete warnend von einem sprunghaften Anstieg der Waffenverkäufe auf dem Schwarzmarkt.

Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften seien in der ukrainischen Hauptstadt mindestens 37 Journalisten verletzt worden, berichtete die Organisation »Reporter ohne Grenzen«. Viele seien gezielt von Polizisten angegriffen worden, hieß es. Ein ukrainischer Kameramann habe gefilmt, wie ein Polizist frontal in seine Kamera schoss.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 23. Januar 2014


Tote in Kiew

Staatsmacht schlägt nach mehreren Tagen bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen zurück. Nationalisten maßen sich Polizeifunktionen an

Von Reinhard Lauterbach ***


Die Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch in der Ukraine haben nun auch Menschenleben gekostet. Zwei Teilnehmer der militanten Unruhen auf der Gruschewski-Straße in der Hauptstadt Kiew starben in der Nacht zum Mittwoch an Schußverletzungen. Vertreter der Opposition erklärten einmütig, nunmehr habe Janukowitsch Blut an den Händen. Der ukrainische Ministerpräsident Nikolaj Asarow wies jede Verantwortung der Sicherheitsorgane für die Toten zurück. Die Miliz führe keine Schußwaffen bei sich, sagte Asarow bei einer Kabinettssitzung. Das Dementi ist vermutlich eine Halbwahrheit: die Anti-Aufstandspolizei »Berkut«, die geschossen haben könnte, gehört formal nicht zur Miliz, sondern untersteht direkt dem Präsidenten. Ein Film des ukrainischsprachigen Dienstes der BBC, der am frühen Morgen aus einer Position hinter und über den Reihen der stürmenden Polizisten aufgenommen wurde, zeigt Uniformierte, die im Rahmen eines Einsatzes aus Sturmgewehren feuerten.

Bis zum Mittag drängten starke Einheiten der Polizei die militanten Demonstranten von der Gruschewski-Straße und dem Europaplatz ab. Von dort sind es auf dem breiten Boulevard Kreschtschatik nur wenige hundert Meter bis zum Unabhängigkeitsplatz, dem sogenannten Maidan. Die Demonstranten errichteten Barrikaden aus brennenden Autoreifen; gegen Abend setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um sie zu löschen. Mit einem Angriff der Polizei auf den Platz wurde für den Mittwoch abend gerechnet.

Die Entscheidung der Staatsmacht, die Demonstranten frontal anzugehen, kam nach mehreren Tagen bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen. Mehrere tausend Anhänger einer Organisation namens »Rechter Block« hatten seit Sonntag immer wieder Absperrungen der Polizei vor dem Regierungsviertel mit Stöcken, Steinen, Brandsätzen und Zwillen angegriffen. Die Zahl der Verletzten auf beiden Seiten wird offiziell mit 200 angegeben, inoffiziell mit bis zu 1500. Den Ausschlag für das gewaltsame Vorgehen der Polizei gab offenbar, daß die Nationalisten in der Kiewer Innenstadt begonnen hatten, sich Polizeifunktionen anzumaßen. Patrouillen ihres »Selbstschutzes« kontrollierten die Straßen auf »Provokateure« und »verhafteten« etwa 150 junge Männer. Sie wurden gezwungen, vor Videokameras Geständnisse abzulegen, wonach sie für monatlich 500 Euro – eine für ukrainische Verhältnisse erhebliche Summe – angeheuert worden seien, und mußten anschließend mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in einem »Marsch der Schande« durch die Stadt ziehen.

Parallel zu den Kämpfen erfüllte wenige hundert Meter entfernt Staatspräsident Janukowitsch eine Forderung der Führer der parlamentarischen Opposition und empfing sie zu Gesprächen über eine Beilegung der Krise. Über Ergebnisse des Treffens wurde zunächst nichts bekannt. Die Opposition verlangt vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.

Politiker der »internationalen Gemeinschaft« bewiesen unterdessen im Zusammenhang mit den Kiewer Vorgängen ihre Fähigkeit zum Wegsehen. Unter völliger Abstraktion von der tagelangen Gewaltanwendung durch einen Teil der Demonstranten machten sie Präsident Janukowitsch für die Eskalation verantwortlich. Die USA kündigten Sanktionen gegen Vertreter der Regierung an und annullierten fürs erste die Einreisevisa einiger von ihnen.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. Januar 2014


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