Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ukrainische Mütter lassen ihre Söhne nicht in den Krieg

Kiew verweigerte das Gespräch mit dem Osten im "nationalen Dialog" *

Den Abmarsch junger Soldaten zum Einsatz im Osten der Ukraine nach nur zweiwöchiger Ausbildung verhinderten am Mittwoch Mütter und Angehörige in der Stadt Poltawa. Sie wollen eine Kaserne Tag und Nacht blockieren, um den Einsatz im Donbass zu verhindern. Nach einem Gespräch mit dem Kommandeur der Einheit waren sie laut der Agentur UNIAN nicht bereit aufzugeben.

Einen »nationalen Dialog« ohne die Vertreter des abtrünnigen Ostens veranstaltete derweil das offizielle Kiew bei einem Runden Tisch unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Übergangspräsident Alexander Turtschinow versuchte die Verweigerung des Gespräches mit den Kräften zu begründen, die eine Abspaltung der Regionen Donezk und Lugansk fordern. Diese führten »einen Krieg gegen ihr eigenes Land« und seien Erpresser und Plünderer, klagte er. Am Dialog nahmen unter anderen Regierungsvertreter, Abgeordnete sowie religiöse Würdenträger teil. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) macht eine Teilnahme der Separatisten von Gewaltverzicht abhängig.

Russlands Außenminister versicherte in einem TV-Interview: »Wir haben nicht die geringste Absicht, Truppen zu schicken.« Kategorisch werde sich Russland aber gegen Versuche wenden, die Ukraine in die NATO einzubeziehen. Lawrow nannte den Verdacht begründet, dass sich in der Ukraine »westliche Söldner, vor allem aus den USA« befänden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014


Neue Opfer am Rande des Bürgerkrieges

Versorgungslage in der Ostukraine angespannt

Von Klaus Joachim Herrmann **


Die wirklichen Konfliktparteien trafen sich in Kiew am Runden Tisch nicht – dies aber bei bewaffneten Zusammenstößen im Osten der Ukraine. Dabei gab es Mittwoch erneut Opfer unter den Soldaten der Zentralmacht und den Kämpfern der prorussischen Milizen. »Wenn Ukrainer sich gegenseitig töten, dann befinden wir uns so nahe wie nur irgend möglich an einem Bürgerkrieg«, charakterisierte Russlands Außenminister Sergej Lawrow die Lage.

Bei neuen Kämpfen im Donbass nahe der Stadt Slawjansk hatte es in der Nacht zu Mittwoch mindestens acht weitere Tote gegeben. Am Abend wurden dort Zugänge zur Stadt von der Nationalgarde abgeriegelt.

Die »Volkswehr« im Südosten der Ukraine sei aber bereit, dem Appell der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu folgen und die Waffen zu strecken, berichtete RIA/Novosti.

»Bedingung dafür ist aber der Abzug aller ukrainischen Truppen aus der Region«, hatte Denis Puschilin als einer der Wortführer der Separatisten am Vorabend erklärt. »Nach dem Abzug der Truppen durch Kiew werden wir keine Waffen mehr brauchen.«

Unter Hinweis auf die »komplizierte Lage« in der Region informierte der Chef des Rentenfonds im Donezker Gebiet, Oleg Tschaus, dass im Nordosten an rund 18 000 Pensionäre die Rente nicht rechtzeitig ausgezahlt worden sei, wie Nowosti Donbassa meldete. Betroffen seien vor allem das von der ukrainischen Armee belagerte Slawjansk und Mariupol. Die Stadt Donezk, hieß es, gerate in eine äußerst schwierige Versorgungslage, weil Lieferanten das Risiko der Kontrollpunkte an den Zufahrtswegen scheuen würden.

Darüber geht der Streit mit dem russischen Nachbarn über Rohstofflieferungen weiter. Die staatliche ukrainische Wasseragentur bestätigte, dass die Versorgung der Krim mit Wasser aus dem Nord-Krim-Kanal eingestellt sei. Sie erhob Forderungen in Höhe von 1,7 Millionen Griwna (rund 106 000 Euro) für Versorgungsleistungen im Jahr 2013.

Der russische Energiekonzern Gazprom seinerseits fordert unter Hinweis auf angehäufte Milliardenschulden vom ukrainischen Unternehmen Naftogas Ukrainy, 1,6 Milliarden US-Dollar für 3,4 Milliarden Kubikmeter Gas im Voraus zu zahlen, die im Juni geliefert werden sollen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014


Stellungskrieg um Slowjansk

Ukraine: Kiew setzt Hubschrauber mit UN-Kennzeichen gegen Aufständische ein

Von Reinhard Lauterbach ***


In der seit Tagen von ukrainischen Truppen belagerten Stadt ­Slowjansk im Donbass beginnen offenbar die Lebensmittel auszugehen. Wie die englischsprachige Kiewer Zeitung Kyiv Post am Mittwoch berichtete, gehen die Bewohner zu Hamsterkäufen über. Die Mobiltelefone funktionierten immer seltener. Gleichzeitig scheint die ukrainische »Nationalgarde« wenig Lust zu haben, die Stadt im Sturm zu nehmen. Ihr örtlicher Kommandant erklärte dem Reporter der Zeitung, in den Hochhäusern der Stadt säßen zahlreiche Scharfschützen mit reicher Kampferfahrung. Das Argument der Rücksicht auf die Zivilbevölkerung brachte der Offizier nicht vor. Die Zurückhaltung der Kiewer Truppen mag auch damit zusammenhängen, daß eine andere Einheit der Truppe in der Nacht zum Mittwoch bei Kramatorsk in einen Hinterhalt der Aufständischen geriet, wobei mindestens sechs Soldaten getötet und weitere neun verletzt wurden.

In der Nähe von Kramatorsk setzte die ukrainische Nationalgarde offenbar Hubschrauber mit Kennzeichen der Vereinten Nationen ein. Ein russisches Fernsehteam filmte mindestens vier solcher Maschinen, die nach Art der Friedenstruppen weiß gespritzt und mit blauen »UN«-Aufschriften gekennzeichnet waren. Das russische Außenministerium verlangte von Kiew Aufklärung, wie es dazu habe kommen können. Nach dem UN-Statut müssen die Kennzeichen der Vereinten Nationen entfernt werden, sobald von den Mitgliedsstaaten gestelltes Militärgerät aus Friedenstruppen abgezogen ist. Da ein wesentlicher Täuschungseffekt von den vermeintlichen UN-Hubschraubern im Donbass mangels Vereinbarung einer Friedenstruppe nicht zu erwarten ist, dürfte die wahrscheinlichste Erklärung des Vorfalls Schlamperei oder auch schlichter Geldmangel für einen neuen Anstrich sein. Die ukrainische Armee hatte in den letzten Jahren angesichts der erbärmlichen Besoldung ihrer Soldaten aus der Beteiligung an internationalen Missionen geradezu einen Erwerbszweig gemacht.

Rußland setzte derweil seine zurückhaltende Kommentierung der Volksabstimmungen in der Ostukraine fort. Außenminister Sergej Lawrow sagte dem US-Fernsehsender Bloomberg, die Frage einer Aufnahme der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk analog zur Krim sei völlig hypothetisch. Es gehe darum, zunächst einmal das innerukrainische Problem zu lösen. Das Land sei dem Bürgerkrieg so nahe wie noch nie. Solange diese Gefahr nicht beigelegt sei, hätten Präsidentschaftswahlen weder Sinn noch Berechtigung. Lawrow sagte, einem Beitritt der Ukraine zur NATO werde sich Rußland entschieden widersetzen. Eine EU-Integration möge die Ukraine unter Berücksichtigung ihrer außenpolitischen Verpflichtungen selbst abwägen.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Mai 2014


Runder Tisch bleibt leer

Kiewer Machthaber konferieren mit sich selbst. Steinmeiers Kranz in Odessa unerwünscht

Von Reinhard Lauterbach ****


Das ukrainische Regime ist weiterhin nicht bereit, mit Vertretern der Aufständischen im Osten des Landes zu verhandeln. »Regierungschef« Arseni Jazenjuk sagte am Mittwoch, er habe Vertreter der regionalen Eliten im Osten der Ukraine zu den Gesprächen eingeladen. Wen er damit meinte, war zunächst nicht bekannt. Gespräche Kiews mit den von ihm selbst eingesetzten Gouverneuren – so dem in Donezk amtierenden Oligarchen Serhij Taruta oder seinem in Dnipropetrowsk amtierenden Kollegen Ihor Kolomoiski, der Kopfgelder auf die Ausschaltung von »Separatisten« ausgesetzt hat – dürften wenig Chancen bieten, die Lage zu entspannen. Bei einer solchen Besetzung der Verhandlungen kann es allenfalls darum gehen, die finanziellen und politischen Ressourcen der Oligarchie für die Kiewer Machthaber zu instrumentalisieren.

Nach wie vor entzieht sich jedoch der das Donbass beherrschende Oligarch Rinat Achmetow diesen Kalkulationen und versucht, sein eigenes Spiel zu spielen. Seine Holdinggesellschaft »System Capital Management« gibt etwa im Wochenrhythmus politische Erklärungen ab, die letzte am vergangenen Wochenende. Durchgehender Tenor sind Aufforderungen an die Kiewer Machthaber, die Militäraktion im Donbass abzubrechen und die Truppen abzuziehen. Auf der anderen Seite tritt die Achmetow-Firma für einen Verbleib des Donbass innerhalb eines föderalisierten ukrainischen Staates ein. Der Oligarch ist offensichtlich bemüht, den politischen Einfluß, den er durch die Entmachtung von Wiktor Janukowitsch und der »Partei der Regionen« verloren hat, auf neuer Grundlage wieder zu errichten. In diesem Zusammenhang ist ein Interview mit dem »Volksgouverneur« von Donezk, Pawel Gubarjow, interessant, das die Rossijskaja Gaseta, Organ der russischen Regierung, Anfang der Woche veröffentlichte. Gubarjow behauptete darin, Achmetow finanziere den Aufstand im Donbass. Etwa zwei Drittel der Aufständischen seien von ihm gekauft, um dem Aufstand seine ursprünglich auch antioligarchische Stoßrichtung zu nehmen. Wer sich Achmetow nicht unterordne, werde eingeschüchtert und mundtot gemacht. Wenig verwunderlich ist, daß Achmetow diese Vorwürfe zurückgewiesen hat. Auffallender ist aber, daß sie in einem offiziösen russischen Presseorgan an prominenter Stelle erhoben werden konnten. Abgesehen von der Entlastung, die diese These gegenüber den Kiewer Vorwürfen bedeutet, hinter dem Aufstand stehe Rußland, deutet das darauf hin, daß Moskau politisierende Oligarchen in seinem »nahen Ausland« ebensowenig liebt wie im eigenen Land.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sieht dies offenbar anders. Er traf sich bei seiner jüngsten Ukraine-Reise bereits zum zweiten Mal mit Achmetow. Steinmeiers anschließende Stippvisite in Odessa geriet zur Peinlichkeit. Auf sein Vorhaben, vor dem am 2. Mai ausgebrannten Gewerkschaftshaus einen Kranz für die inzwischen offiziell 48 Opfer niederzulegen, mußte er auf Anraten des örtlichen Gouverneurs verzichten. Dieser hatte gefürchtet, ein solcher Akt könnte von den Bürgern als Verhöhnung wahrgenommen werden und so die Lage in der trauernden Stadt wieder verschärfen.

Die Kiewer Machthaber, denen das Donbass de facto entglitten ist, ziehen unterdessen im eigenen Herrschaftsbereich die Zügel an. »Präsident« Olexander Turtschinow startete am Dienstag einen neuen Anlauf für ein Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU). Als deren Vorsitzender Petro Simonenko von der Rednertribüne des Parlaments Nationalgarde und »Rechten Sektor« als Schlägerbanden und »Halsabschneider« bezeichnete, warf ihm Turtschinow Separatismus und Hochverrat vor und entzog ihm mit dem denkwürdigen Satz das Wort, Lügner hätten im Parlament nichts zu suchen. Die Tätigkeit der KPU ist inzwischen ohnehin auf die östlichen Teile der Ukraine beschränkt, da Angehörige rechter Gruppen im Februar und März ihre Büros in Kiew und dem westlichen Landesteil systematisch zerstört und die örtlichen Funktionäre durch Mißhandlungen und Morddrohungen gezwungen haben, das Land zu verlassen.

**** Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Mai 2014


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