Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Weder Ruhe noch Dialog in Kiew

Irritationen um Krisenkommission / Bewegung »nicht mehr unter Kontrolle«

Von Klaus Joachim Herrmann *

Nach brutalen Zusammenstößen in Kiew blieb die Wende aus. Die Krisenkommission des Präsidenten tagte, Oppositionsführer Klitschko dementierte Meldungen über seine Teilnahme.

Für Irritationen sorgte eine angebliche Beteiligung des Chefs der oppositionellen Partei UDAR, Vitali Klitschko, an der Sitzung der Krisenkommission unter dem Sekretär des Sicherheitsrates, Andrej Klujew. Die vermeldete am Nachmittag der präsidiale Pressedienst. Das deutete erstmals auf ein Einlenken. Prompt kam das Dementi. Klitschko erklärte, er habe mit Präsident Viktor Janukowitsch sprechen wollen. Dieser sei in einer Besprechung gewesen, da sei er wieder umgekehrt.

Bereits am Vorabend hatte Klitschko die Teilnahme Janukowitschs zur Vorbedingung seiner eigenen Mitwirkung gemacht. Die Opposition in der Ukraine forderte ultimativ vorgezogene Präsidenten- und Parlamentswahlen sowie die Rücknahme des verschärften Demonstrationsrechts. Das trat laut Agenturen mit der Veröffentlichung im Amtsblatt noch am Dienstag in Kraft. Klitschko wurde in Medien mit der Einschätzung zitiert, dass die Opposition »die Bewegung nicht mehr unter Kontrolle« habe.

Hintergrund waren die schweren Zusammenstöße von radikalen Demonstranten und Sondereinheiten der Polizei zu Wochenbeginn mit mehr als 200 Verletzten auf beiden Seiten. In der Nacht zu Dienstag waren erneut Sicherheitskräfte in der ukrainischen Hauptstadt von Hunderten Gewaltbereiten angegriffen worden. Sie warfen Brandsätze und Steine auf Polizisten. Die Milizionäre versuchten ihrerseits, die Stellungen der Oppositionellen nahe dem Dynamo-Stadion im Zentrum zu räumen.

Klitschko beschuldigte die ukrainische Führung, sie wolle mit dem Einsatz von Provokateuren die Lage verschärfen. Die Regierung ihrerseits beteuerte höchsten Einsatz für eine friedliche Regelung.

Versuche, Gewalt zu provozieren, sah Russlands Außenminister Sergej Lawrow, »in bedeutendem Maße« im Ausland. Durch ihre Teilnahme an den Straßenprotesten heizten Politiker westlicher Länder die Situation auf, sagte er in Moskau vor Journalisten. »Wir würden es vorziehen, wenn sich einige unserer europäischen Kollegen im Zusammenhang mit der Krise in der Ukraine nicht so unverfroren aufführen würden.«

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon äußerte sich besorgt über die gewaltsamen Ausschreitungen. Er rief alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf, um weitere Eskalation und Gewalt zu verhindern. Meinungs- und Versammlungsfreiheit müssten gewährleistet sein.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. Januar 2014


Ruhe nach dem Sturm

In der ukrainischen Hauptstadt werden die Schäden der Ausschreitungen vom Sonntag bilanziert. Angekündigte Verhandlungen mit der Opposition verzögern sich

Von Reinhard Lauterbach **


In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat sich die Lage an der Oberfläche wieder beruhigt. Am Montag hatten Gruppen nationalistischer Demonstranten noch Steine und Brandflaschen auf die Polizei geworfen; bis Dienstag morgen hatten diese Vorfälle aufgehört. Die militanten Regierungsgegner, Angehörige der Organisation »Rechter Block«, errichteten jedoch weiterhin Barrikaden am Ort der Straßenkämpfe vom Sonntag, und die Sicherheitskräfte ließen sie offenbar gewähren.

Präsident Wiktor Janukowitsch hatte auf die Eskalation der Gewalt am Sonntag mit einer Doppelstrategie reagiert: Er empfing einerseits Oppositionsführer Witali Klitschko und bot Gespräche über die Entspannung der politischen Krise an; andererseits ließ er seinen Innenminister die Polizei zum Schußwaffengebrauch in Situationen ermächtigen, die dem deutschen Tatbestand des schweren Landfriedensbruchs ähneln. Auf den bedingten Schießbefehl reagierte inzwischen der Verband der Waffenbesitzer der Ukraine und warnte die Regierung davor, auf eigene Bürger das Feuer zu eröffnen. Der Verband erinnerte daran, daß sich im Besitz von Privatpersonen allein in Kiew etwa 400000 Schußwaffen befänden (bei ca. drei Millionen Einwohnern); die Gesamtzahl der registrierten Waffen im ganzen Land schätzte er auf zwei Millionen plus einer erheblichen Dunkelziffer.

Die indirekte Drohung, die Ukrainer könnten ihre Jagdgewehre aus dem Schrank holen und zurückschießen, mag auf den ersten Blick weit hergeholt wirken; andererseits sind die Emotionen inzwischen namentlich auf Seiten der Opposition so hochgekocht, daß solche Situationen zumindest in Einzelfällen nicht mehr ausgeschlossen werden können. An der Entschlossenheit des »Rechten Blocks«, die Staatsmacht auch mit Gewalt herauszufordern, kann nach den Kämpfen vom Sonntag nicht mehr gezweifelt werden.

In der Ukraine stehen auf der einen Seite die Protestierer, die vielleicht anfangs tatsächlich mehrheitlich nur wollten, daß Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. Sie sind nach Umfragen inzwischen in wachsendem Maße frustriert, daß sich die Lage im Land nicht nur nicht in ihrem Sinne verändert hat, sondern daß die Staatsmacht die Zügel anzieht – wie es die verschärften Versammlungsgesetze von letzter Woche zeigen. Alarmistische Parolen von der bevorstehenden Diktatur in der Ukraine, wie sie die Führer der parlamentarischen Opposition in immer kürzeren Abständen ausgeben, tragen zu dieser Entwicklung bei: Sie können Aktionismus ebenso auslösen wie Resignation. Von ukrainischen Medien interviewte Militante erklärten, sie seien es leid gewesen, nur auf dem Maidan »herumzustehen«. Es ist eine bittere Ironie, daß die politischen Hauptnutznießer der Proteste die Faschisten von der Freiheitspartei sind. Sie haben in den zurückliegenden Wochen das Gros der Aktivisten der Proteste – im Unterschied zu den Feierabenddemonstranten, die die Großkundgebungen füllten – gestellt und sich damit der Bewegung in gewissem Sinne unentbehrlich gemacht. Sie beherrschen, wie es aussieht, inzwischen das Kiewer Stadtzentrum, in das sich offenbar auch die Polizei nicht mehr hineintraut. Anders ist nicht zu erklären, daß sich die Polizei angesichts der Angriffe am Sonntag darauf beschränkte, das Regierungsviertel zu schützen. Der immer wieder beschworene Sturm auf den Maidan hat bis zur Stunde nicht stattgefunden.

Auf der anderen Seite stehen die parlamentarischen Oppositionsführer. Zumindest Klitschko und Arsenij Jazenjuk orientieren auf einen parlamentarischen Machtwechsel mit außerparlamentarischer Unterstützung: vorgezogene Neuwahlen. Je mehr sie sich mit den Militanten gemein machen, könnten sie jene politische »Mitte der Gesellschaft« verlieren, aus deren Unterstützung sie ihre Legitimation ziehen. Wenn sie aber zur Mäßigung aufrufen, laufen sie Gefahr, das Momentum der Massenbewegung abzuschneiden und so das eigene Druckpotential gegenüber der Regierung zu schwächen.

Auf dieses Dilemma scheint Janukowitsch auch mit seinem Verhandlungsangebot zu setzen. Er weigerte sich, persönlich mit den Oppositionsführern zu verhandeln und schickte statt dessen den Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Andrej Kljujew, vor. Den aber hält die Opposition für den Verantwortlichen für einen Polizeieinsatz auf dem Maidan Ende November und fordert deshalb seit langem seine Entlassung, geschweige denn, daß sie mit ihm zu verhandeln bereit wäre. Ob also die Gespräche tatsächlich zustande kommen, ist einstweilen offen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Januar 2014


Senior UN officials urge restraint, dialogue to defuse tensions fuelling protests in Ukraine ***

21 January 2014 – Urging restraint amid widespread anti-Government protests in Ukraine, United Nations Secretary-General Ban Ki-moon and High Commissioner for Human Rights Navi Pillay called today for sustained and inclusive dialogue to defuse tensions in the country.

“The violent clashes over the past few days in the centre of Kiev, which reportedly resulted in many people being injured, are very worrying,” said Ms. Pillay. “I appeal to all parties to engage in constructive dialogue to avoid further escalation of the unrest.

“The longer they wait, the more difficult it will become to resolve the impasse,” she added.

Demonstrators have been gathering in the Ukrainian capital, Kiev, since late November, when thousands marched on municipal buildings in protests reportedly sparked by a Government decision not to sign an agreement on broader integration with the European Union.

The demonstrations flared up again this week with violent clashes reported for a second consecutive night, according to the High Commissioner’s Office (OHCHR).

Last night, a spokesperson for Mr. Ban issued a statement in New York saying that the UN chief continues to follow “closely and with concern” these developments.

“He reiterates his appeal to all concerned to act with restraint, avoid any further escalation and violence and to uphold the democratic principles of freedom of expression and peaceful assembly,” according to the statement.

Noting renewed efforts by authorities to initiate dialogue with opposition leaders, Mr. Ban urged all parties to engage in “meaningful, sustained and inclusive dialogue.” He urged Ukrainians to mutually agree on the future path of their country.

Echoing these statements, Ms. Pillay noted that the demonstrations are taking place in the wake of legislation constricting conditions for the exercise of fundamental rights, including the rights to freedom of association, assembly and expression, and imposes penalties, including prison sentences, for breaches. The laws were passed on 16 January and published today.

“I call on the authorities to suspend application of the laws to allow time for a thorough review of their content,” the High Commissioner said in her statement. She added that the laws must be in full compliance with international human rights standards, in particular Ukraine’s obligations under the relevant treaties it has ratified.

“I am particularly concerned by the potential that these laws have to curtail the right to freedom of expression and freedom of assembly, the right to information, the right of civil society to work freely. The laws also have the potential to result in impunity for human rights violations,” she added.

Among its provisions, the law compels non-governmental organizations (NGOs) receiving international funding to register as “foreign agents,” to lose their non-profit status, and to regularly publish accounts of their activities.

“Such provisions will roll back the enjoyment of human rights for the people of Ukraine, stifle debate and dissent, and jeopardise the democratic achievements of the past two decades,” Ms. Pillay said.

*** UN News Centre, 21 January 2014; http://www.un.org


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage