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"Möglicherweise steht die Ukraine vor der Spaltung"

Gespannte Ruhe auf dem Maidan, Ausbildung an Waffen. Klitschko hat abgewirtschaftet. Ein Gespräch mit Wilfried Handwerk *


Wilfried Handwerk ist Geschäftsführer der »DUB Deutsch-Ukrainische-Bulgarische Investmanagement und Handelsgesellschaft mbH« und als freier Berater für die Ukraine tätig.


Sie kommen soeben vom Maidan in Kiew zurück, dem zentralen Platz in der Hauptstadt der Ukraine, auf dem sich seit Wochen Regierungsgegner verbarrikadiert haben. Wie lange wollen die noch durchhalten?

Die Menschen auf und hinter den Barrikaden wollen vor allem eins: Daß Präsident Wiktor Janukowitsch geht. Bis dahin wollen sie auf dem Platz bleiben, neuerdings fordern sie auch die Auflösung des Parlaments. Die Atmosphäre dort ist so etwas wie die Ruhe vor dem großen Sturm. Als ich auf dem Platz war, habe ich nur einige hundert Demonstranten getroffen – die Bewegung ist aber mittlerweile so stark, daß per Telefon Tausende mobilisiert werden können.

Die Demonstranten müssen Miete und Lebensmittel bezahlen, wahrscheinlich auch Familien versorgen. Auf dem Maidan steht mittlerweile eine komplette Proteststruktur: Zelte mit W-Lan-Anschluß, Toiletten, Sanitätsdienst, Fahrbereitschaft etc. Wer bezahlt das?

Genau das wollte ich auch wissen. Zunächst einmal muß die Stadt zahlen – nach eigenen Angaben kostet sie der Maidan pro Tag umgerechnet etwa 800000 Euro: Reinigung, Strom, Verkehrsumleitung etc.

Die Demonstranten versorgen sich selbst, es gibt eine Reihe Feldküchen, wie im Krieg. Privatleute bringen Spenden, auch Firmen. Die einen liefern Brenn- und Bauholz, andere karren gleich ein komplettes Fertigdach an. Das ist ziemlich perfekt organisiert.

Haben Sie auch mit Anhängern der Regierung gesprochen?

Dazu fand ich keine Gelegenheit. Interessant ist, daß Tag für Tag im Parlament über die Krise debattiert wird. Alles wird landesweit vom Fernsehen übertragen, die Bevölkerung ist also recht gut informiert. Ich habe vor allem mit ehemaligen Abgeordneten sowie mit Leuten aus der Wirtschaft gesprochen – sie sehen die Lage ähnlich wie die Demonstranten auf den Barrikaden.

Janukowitsch schwimmen also die Felle davon?

Das kann man wohl sagen, für ihn gibt es wohl kein Zurück mehr. Möglicherweise steht das Land sogar vor der Spaltung. Ich habe das mehrfach gehört, sogar bei offiziellen Gesprächen im Landwirtschaftsministerium. Als ich dort war, kam gerade die Nachricht, daß das Parlament der Krim droht, sich Rußland anzuschließen, wenn nicht bald Ordnung einzieht. Auch im Westen der Ukraine gibt es den Wunsch nach Teilung.

Der Boxer Witali Klitschko wird im Westen als Oppositionsführer bejubelt. Er ist aber unter den Demonstranten umstritten – wie äußert sich das?

Seine Beliebtheit ist stark zurückgegangen. Im Ministerium hörte ich, daß laut Umfragen nur zwölf Prozent der Bevölkerung hinter ihm stehen, Tendenz fallend. Das trifft auch auf die inhaftierte frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zu, mehrere Leute auf dem Maidan kündigten mir gegenüber an, sie wollten jetzt Plakate mit ihrem Porträt abhängen. Was diese Politiker uns vorschlagen, so lautet die Kritik, ist Propaganda des Westens.

Die Mehrheit sagt: Laßt uns Ukrainer die Dinge selbst regeln, wir brauchen weder den Westen noch Rußland. Die Meinung ist weit verbreitet, daß die Ukraine ihre Schulden auf einen Schlag los wäre, wenn die Oligarchen, Regierungsmitglieder und Parlamentarier ihr im Westen angelegtes Geld in die Ukraine zurückholten.

Welche Rolle spielen nach Ihrer Beobachtung die Rechtsextremen?

Ich habe mit einigen geredet. Sie vertreten auch diese Position, verbunden allerdings mit einem extremen Haß auf Rußland.

Zieht sich nicht durch die gesamten Proteste eine stark antirussische Haltung?

Es gibt Plakate, auf denen man den russischen Präsidenten Wladimir Putin am Galgen sieht.

Und wie steht die Armee dazu? Ist ein Eingreifen der Streitkräfte zu erwarten?

Das hat dessen Führung auch angedeutet. Zur Zeit steht das Militär wohl vorwiegend auf der Seite von Janukowitsch – möglicherweise wird sich seine Haltung ändern, falls es eine neue Regierung gibt. Ich glaube jedenfalls, daß die Zeit noch nicht für einen Militärputsch reif ist.

Auf dem Maidan jedenfalls wird sogar der bewaffnete Kampf vorbereitet. Ich habe dort einen Stand gesehen, an dem Demonstranten in den Umgang mit verschiedenen Arten von Waffen eingewiesen wurden. Auch mit Handgranaten.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, Samstag, 8. Februar 2014


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