Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Parlament in Kiew vor dem Kompromiss

Offenbar Einigung über Amnestie und Verfassungskommission / Scharfe Warnung aus der Region Luhansk an "Extremisten"

Von Klaus Joachim Herrmann *

In schwierigen Verhandlungen einigten sich Regierungslager und Opposition offenbar auf eine Amnestie und eine Verfassungskommission in der Ukraine.

Den Kompromiss kündigte Parlamentschef Wladimir Rybak am Abend an. Eine 20-minütige Pause zur Verteilung der Entwürfe wurde ohne Angabe von Gründen jedoch weit überschritten. Die Sondersitzung hatte sich zuvor in Kiew immer wieder festgelaufen. Abgeordnete der Regierungspartei der Regionen verlangten vor einer Freilassung, die Räumung aller besetzten Gebäude und Plätze, die Opposition beharrte auf dem Unabhängigkeitsplatz »Maidan« und dem Gewerkschaftshaus in Kiew als faktischen Machtzentralen.

Internationaler Druck hielt an. Präsident Viktor Janukowitsch wurde von EU-Außenkommissarin Catherin Ashton besucht. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) drohte mit Sanktionen, wenn die Lage eskaliere. Russlands Präsident Wladimir Putin zeigte keine Eile mit Milliardenhilfen. Er wolle auf die neue Regierung warten. Premier Dmitri Medwedjew erinnerte an Schulden von 2,7 Milliarden Dollar für Gaslieferungen aus dem Vorjahr.

Eine scharfe Warnung an »Extremisten« kam aus der Halbmillionenstadt Luhansk im Südosten. Der Chef der Gebietsverwaltung, Wladimir Pristjuk, wandte sich an »Jungs aus der Westukraine, die in Luhansk ihre Ordnung aufrichten wollen«. Sie würden »etwas auf die Zähne bekommen, und das sehr schmerzhaft«. Man sei gegen »Hexensabbat« wie in anderen Gebieten.

Der Lage in den Regionen galt nach seiner Ernennung am Vortag an seinem ersten Arbeitstag die besondere Aufmerksamkeit des amtierenden Premiers Sergej Arbusow. Er verwies auf wachsende Rückstände bei Gehaltszahlungen, die von den örtlichen Verwaltungen möglichst rasch ausgeglichen werden sollten. Das Leben unter den Bedingungen des Winters müsse gesichert werden. Dafür sei allerdings die »Aufhebung der Blockade der Verwaltungsgebäude unbedingt notwendig«.

Nach Agenturangaben hielten Regierungsgegner in bis zu zehn der 25 ukrainischen Provinzen örtliche Verwaltungen besetzt. Dies galt insbesondere für den Westen mit der Stadt Lwiw als Zentrum. Hier wurden ein neues »Volksparlament« und ein »Exekutivrat« formiert. Am Wochenende stürmten Anhänger der Opposition die Regionalverwaltung von Poltawa östlich von Kiew und westlich der Hauptstadt die Exekutive von Winniza. Im Osten und Südosten blieb es bei der Vorherrschaft der regierenden Partei der Regionen.

Im zentralukrainischen, rund 240 000 Einwohner zählenden Kirowograd attackierten etwa 50 Anhänger des örtlichen »Euromaidan« das Gebäude des Exekutivkomitees. Ihnen stellten sich rund 30 Frauen und zehn Männer entgegen, die für »Stabilität« eintraten und den Zugang zur Tagung des Stadtrates verwehrten.

Aus zentralen und östlichen Regionen war zu Wochenbeginn berichtet worden, dass in Saporoschje, Dnjepropetrowsk und Tscherkassy gegen Demonstrationen von Regierungsgegnern gewaltsam vorgegangen worden sei. Die Stadtverwaltung von Sumy wurde von Protestierenden wieder geräumt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Januar 2014


Sondergipfel besorgter Nachbarn in Budapest

Visegrad-Bündnis berät über die ukrainische Krise, doch eine gemeinsame Haltung scheint fraglich

Von Jindra Kolar, Prag **


Aus Bratislawa, Prag und Warschau reisen Regierungschefs zum Sondergipfel nach Budapest. Die Sorge um die ukrainische Entwicklung führt sie zusammen.

Wenige Stunden nach der Vereidigung seines Kabinetts reiste der frisch gebackene tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka zum Arbeitsdinner in die ungarische Hauptstadt. »Wir werden in Budapest darüber beraten, wie die Stellung der vier Visegrad-Länder zur Krise in der Ukraine ist und welchen Anteil wir haben können, die Problematik in Kiew zu lösen«, erklärte Sobotka vor dem Treffen.

Beteiligt sind die Regierungschefs Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns, die sich 1991 zum informellen Visegrad-Bündnis zusammengeschlossen haben. Benannt ist die Gruppe nach dem Tagungsort Visegrad im Donauknie. Das Abkommen von 1991 sah vor, dass sich die beteiligten Seiten – darunter damals noch die Tschechoslowakei – über die aus dem Zerfall des Ostblocks und der Beendigung des Kalten Krieges ergebenden Probleme beraten und gemeinsame Lösungen finden wollten.

Sobotka äußerte vor dem jetzt anberaumten außerordentlichen Gipfeltreffen die Überzeugung, dass die politische Krise in Kiew auch mit Hilfe der Nachbarstaaten gelöst werden sollte. Deren Interessen sind von einer instabilen Lage in der Ukraine direkt betroffen. Sein Außenminister Lubomir Zaoralek ist bemüht, auf beiden Seiten Partner für eine Verständigung zu finden. »Wir haben es in der Ukraine mit zwei politischen Eliten zu tun, der regierenden Gruppe um Janukowitsch und der Opposition aus der Orange Revolution um Juschtschenko und Timoschenko. Mit beiden müssen wir sprechen.« Nach Zaoraleks Ansicht lässt sich der Konflikt in Kiew nicht einfach auf den Nenner »tendiert die Ukraine nach Westen oder nach Moskau« reduzieren. Dieses Denken eines Entweder-oder sei das des Kalten Krieges und der Vergangenheit. Traditionelle Bindungen der Ukraine an Russland müssten ebenso berücksichtigt werden wie das Streben vieler Menschen, die moderne Entwicklung des europäischen Westens mit der Ukraine zu verbinden.

Ob die vier Teilnehmer des Sondergipfels – der aus einem Arbeitsdinner am Mittwochabend und einer Konferenz am Donnerstag besteht – zu einer einmütigen Haltung finden werden, ist indes fraglich. Denn auch die Beziehungen der Staaten untereinander sind nicht spannungsfrei. Polen und Ungarn sind rechtsbürgerlich regiert, der Slowakei und Tschechien stehen jeweils sozialdemokratische Regierungschefs vor.

Der ungarische Premier Viktor Orban ist mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin verbündet. Seine Regierung handelte mit Moskau ein milliardenschweres Geschäft über den Ausbau des Kernkraftwerks Paks aus. Zehn Milliarden Euro will Russland investieren. Ungarns Opposition wirft Orban vor, das Land mit zehn Prozent seines Bruttoinlandproduktes an Moskau verschuldet zu haben.

Um zu punkten, erbat sich Orban Putins Einfluss zum Rückkauf des Stahlkonzerns Dunaferr durch den ungarischen Staat. Damit verbindet der Regierungschef die Absicht, angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen im April Arbeitsplätze zu sichern. Für die Ukraine-Problematik könnte dies heißen, dass Viktor Orbán eher zur Position Janukowitschs tendieren wird, während der Tscheche Sobotka und sein slowakischer Kollege Robert Fico die Opposition unterstützen dürften.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Januar 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage