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Die Macht in Kiew rüstet ab

Rücktritt des Kabinetts von Premier Asarow / Erfolgreiche Opposition will nicht ins Kabinett

Von Klaus Joachim Herrmann *

Abdank der Regierung. Das Parlament annullierte Gesetze. Die Macht in der Ukraine rüstete ab, die Opposition rückte vor.

Den Rücktritt der Regierung von Mykola Asarow bestätigte am Dienstagnachmittag Präsident Viktor Janukowitsch. Asarow hatte das Amt seit vier Jahren inne – und zuletzt zwei Misstrauensanträge der Opposition überstanden. Das Kabinett bleibt unter dem Ersten Vizepremier Sergej Arbusow geschäftsführend – bis eine neue Regierung gebildet ist. Für die Rücknahme der Gesetze hatte das Parlament auf seiner Sondersitzung mit 361 gegen nur zwei Stimmen votiert.

Während in der Hauptstadt Kiew die Lage ruhig blieb, wurde aus dem südukrainischen Cherson der Tod eines Milizionärs nach einem Zusammenstoß mit Demonstranten berichtet. Angaben über den Verlauf waren widersprüchlich. In Odessa verbarrikadierte sich die Gebietsverwaltung mit Betonblöcken. Gerüchte über eine von Armeekreisen geforderte Verhängung des Ausnahmezustandes blieben unbestätigt.

Die Bildung einer neuen Regierung wird offenbar schwierig. Die prowestliche Opposition hielt sich demonstrativ zurück. UDAR-Führer Vitali Klitschko sprach von einem »Schritt zum Sieg«. Doch schloss er eine Mitwirkung an einer Regierung unter Präsident Janukowitsch kategorisch aus. Er habe nie »irgendwelche Ämter« angestrebt, sagte Klitschko. Allerdings strebt er eine Kandidatur bei kommenden Präsidentschaftswahlen an.

Er wolle erst die Entlassungsurkunde des Premiers sehen, spielte Arseni Jazenjuk, Fraktionschef der Vaterlandspartei, wenigstens auf etwas Zeit. Er hatte bereits am Wochenende ein Angebot Janukowitschs, das Kabinett zu leiten, abgelehnt. Die inhaftierte ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko ließ ihre Tochter Jewgenija erklären, die Opposition gehe nicht in eine Regierung unter Janukowitsch.

Druck zur Übernahme von Verantwortung räumte der Chef der rechtsextremen Swoboda-Partei, Oleg Tjagnibok, allerdings ein. Eine Absage der Opposition würde die Beziehungen zu Amerika und Europa verschlechtern. Aber wäre es erfreulich, fragte er laut ukrainischen Medien, jetzt irgendein Büro zu übernehmen?

Verlängert wurden Verhandlungen über eine Amnestie. Oppositionelle sollen freigelassen und strafrechtlich nicht verfolgt werden. Die Regierung fordert die Räumung besetzter Straßen und Verwaltungsgebäude. Das Parlament vertagte sich auf den heutigen Mittwoch.

Die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats warf dem Westen Einmischung in der Ukraine vor. Sprecher Vasily Anisimov verwies auf eine »böse Rache« der EU und USA an ukrainischen Regierungsstellen für die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU.

Die Ukraine bestimmte auch den Gipfel der EU-Führung mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Dieser versicherte, die Milliardenkredite für die Ukraine seien nicht an bestimmte Regierungen gebunden. Vereinbart wurden Gespräche über Auswirkungen der »Östlichen Partnerschaft« der EU.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Januar 2014


Janukowitsch gibt nach

Ukrainisches Parlament hebt Verschärfung der Versammlungsgesetze wieder auf. Faschist will »Revolutionsführer« werden. Polizist von Nationalisten erstochen

Von Reinhard Lauterbach **


Das ukrainische Parlament hat am Dienstag die am 16. Januar beschlossenen verschärften Versammlungsgesetze wieder aufgehoben. Es kam damit einer zentralen Forderung der auf dem Maidan versammelten Opposition wie auch der westlichen Einflußnehmer nach. Damit sind die Polit-Korsos des »Automaidan« sowie Helme und Masken auf Demonstrationen wieder erlaubt, und vom Ausland finanzierte Gruppen können sich wieder als unabhängige NGOs darstellen. Der Sinneswandel der regierenden »Partei der Regionen« kam, nachdem mehrere ukrainische Großunternehmer Präsident Wiktor Janukowitsch intern klargemacht hatten, daß sie eine gewaltsame Räumung der Kiewer Innenstadt nicht wollten. Hintergrund sind offenbar die westlichen Drohungen mit Sanktionen und Kontosperrungen.

Eine Mehrheit von 355 der 450 Abgeordneten stimmte zunächst im Eifer des Gefechts auch dafür, zwei am 16. Januar beschlossene Bestimmungen mit antifaschistischer Zielsetzung zu kippen. Es bedurfte einer zweiten Abstimmung, um das Verbot der Verherrlichung des deutschen Faschismus und seiner Kollaborateure sowie das Verbot der Zerstörung von Denkmälern für seine Opfer mit deutlich knapperer Mehrheit wieder in Kraft zu setzen. Dies rief alsbald den Zorn des Chefs der faschistischen Freiheitspartei, Oleg Tjagnibok hervor. Seine Anhänger betrachten den Terroristen und Nazikollaborateur Stepan Bandera und seine Leute als Nationalhelden.

Am Morgen hatte auch Ministerpräsident Nikolaj Asarow seinen Rücktritt angeboten; bis zum Nachmittag war nicht klar, wen Janukowitsch als Nachfolger vorschlagen wird. Der Präsident hatte das Amt schon vor Tagen dem Führer der oppositionellen Vaterlandspartei, Arsenij Jazenjuk, angeboten; dieser hatte die Offerte unter dem Druck der Stimmung auf dem Maidan aber nicht angenommen. Das Kabinett soll geschäftsführend im Amt bleiben, bis eine neue Regierung gebildet ist.

Den rechten Demonstranten, die weiterhin auf den Barrikaden der Polizei gegenüberstehen, reichten die Zugeständnisse des Morgens nicht. Sie verlangten die sofortige Ausschreibung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, zu denen freilich alle Parteien, die sie als »antistaatlich« einstufen, nicht zugelassen werden sollen. Dmytro Jarosch, der selbsternannte Führer des »Rechten Blocks« der Schlägertrupps, erklärte seine Bereitschaft, die »Führung der Revolution« zu übernehmen.

In der südukrainischen Hafenstadt Cherson starb am Dienstag ein Polizist an den Folgen eines Messeranschlags vom Vortag. Zwei weitere Beamte sind schwer verletzt. Wie die Polizei mitteilte, wurden die Täter ermittelt: es handle sich um drei Studenten einer örtlichen Hochschule, die zu den aktivsten Teilnehmern am »Euromaidan« gehört hätten. Ihre Untersuchungshaft wird womöglich nur kurz dauern: die Opposition verlangt von Janukowitsch auch die Freilassung aller »politischen Gefangenen«.

Auf der Krim beschloß unterdessen der Stadtrat von Sewastopol, sich im Falle eines »Staatsstreichs« in Kiew von der Ukraine loszusagen und gemeinsam mit der Halbinsel Krim einen eigenen Staat namens »Kleinrußland« zu gründen. Dies war der offizielle Name der Ukraine im zaristischen Rußland. Das Krim-Parlament hatte Janukowitsch vorher aufgefordert, den Unruhen in Kiew mit dem Mittel des Ausnahmezustands entgegenzutreten.

** Aus: junge welt, Mittwoch, 29. Januar 2014


Janukowitschs vergiftete Praline

Klaus Joachim Herrmann über die Angst der Opposition vor Verantwortung ***

Der große Jubel der ukrainischen Opposition blieb am Dienstag aus. Dabei war sie bereits bis Mittag mit wesentlichen Forderungen durchgekommen. Es fiel der Regierungschef als eine der stärksten Figuren. Das Parlament machte bei der Gesetzgebung Rückzieher im Paket. Der Präsident ist angeschlagen und befindet sich unter schwerem Druck der USA und Westeuropas. Ein solcher Sieg erlegt dem Sieger aber große Verantwortung auf. Das wäre wohl mindestens eine Regierungsbeteiligung, wenn nicht sogar die völlige Übernahme des Kabinetts.

Damit aber müsste die Opposition in eben jene »vergiftete Praline« beißen, die sie noch vor Tagen wütend zurückwies. Sie weiß, dass alle Probleme bleiben und eine mit aufmunternden Worten garnierte EU-Assoziierung sie nicht lösen wird. Wir sind »ins Messer gelaufen«, wird der Swoboda-Führer Tjagnibok zitiert. Denn es gehe um Verantwortung in einem Staat, der faktisch pleite sei.

Zum Geldgeber im Kreml vergrößert sich der Abstand. Es empört sich eine Opposition der Opposition gegen eine aufziehende Herrschaft des Westens und formiert im Bergarbeitergebiet Donezk sogar schon eine Bürgerwehr. Die soll vor jenen schützen, die jetzt für noch mehr Chaos verantwortlich gemacht werden. Das Ende der Krise ist sehr, sehr weit.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Januar 2014 (Kommentar)


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