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Putins Dilemma

Moskau fordert Verhandlungen, Kiew schießt – Granaten auf russische Grenzposten. Kreml geht auf Distanz zu Aufständischen

Von Reinhard Lauterbach *

Rußlands Präsident Wladimir Putin hat die von seinem ukrainischen Kollegen Petro Poroschenko ausgerufene Waffenruhe als ersten Schritt zu einer Beruhigung der Lage im Donbass begrüßt. In einer am Samstag in Moskau veröffentlichten Erklärung forderte Putin darüber hinaus, daß Kiew und die Rebellen im Donbass direkte Verhandlungen aufnehmen sollten; anders sei Poroschenkos Plan unrealistisch und ohne jede Perspektive. Putins Erklärung ist die bisher deutlichste Distanzierung von den Äußerungen der Anführer des Aufstands in Donezk und Lugansk. Diese hatten Poroschenkos Aufforderung, die Waffen niederzulegen, als Ultimatum zurückgewiesen und verlangen als Vorbedingung für Verhandlungen einen Abzug der Kiewer Truppen aus der Region.

Die Chancen, daß Poroschenko auf diese Forderung eingeht, sind freilich äußerst gering. Denn hinter seinem Plan – der nichts anderes als ein Angebot zu freiem Abzug nach Rußland bei Kapitulation der Kämpfer ist – stehen nicht nur führende westliche Politiker; seine Armee hat in den letzten Tagen große Fortschritte dabei gemacht, entlang der ukrainisch-russischen Grenze vorzustoßen und das Aufstandsgebiet so von Nachschub aus Rußland abzuschneiden. Die Nationalgarde kontrolliert offenbar den Nordabschnitt, das aus Faschisten rekrutierte Bataillon »Asow« den Küstenstreifen am Asowschen Meer. Derzeit wird noch um einen schmalen Streifen der Ostgrenze des Donbass gekämpft. Zwar sind die Meldungen aus dem Kampfgebiet im einzelnen widersprüchlich, doch sprechen Berichte russischer Medien darüber, daß Grenzabfertigungsanlagen auf russischer Seite von ukrainischem Militär beschossen worden seien, eine deutliche Sprache.

Daß der Aufstand im Donbass zum Scheitern verurteilt ist, wenn die Re­gion auf sich selbst gestellt bleibt, hatten einige Anführer der Rebellion schon in den letzten Tagen eingeräumt. Sie gaben dem Widerstand für diesen Fall noch eine Frist zwischen zwei Wochen und drei Monaten. Die von den Aufständischen erbetene direkte russische Unterstützung bleibt unterdessen aus. Moskau beschränkt sich auf die diskrete Lieferung von Waffen und bisher wenig erfolgreiche Diplomatie. Rußland war, anders als die westliche Propaganda seit Monaten behauptet, nie daran interessiert, sich eine Region vom Umfang Bayerns mit einer sanierungsbedürftigen und auf Rohstoffe aus der Zentralukraine angewiesenen Schwerindustrie einzuverleiben, die nicht einmal über eine direkte Landverbindung auf die Krim verfügt. Seine Unterstützung für den Aufstand sollte dazu dienen, die Regionen im Osten als Unterpfand zu verwenden, um in einer föderalisierten Ukraine weiter Einfluß auf die Regierungspolitik in Kiew nehmen zu können. Genau aus diesem Grund ist Poroschenko bereit, von einer Aufwertung der russischen Sprache bis hin zu vorgezogenen Neuwahlen in den Regionen einige Konzessionen zu machen, nicht aber den Umbau der Ukraine in einen Bundesstaat zuzulassen. Rußland will sich nicht direkt in die Kämpfe hineinziehen lassen, und auch die neuen Manöver von bis zu 60000 Soldaten knapp ostwärts der russisch-ukrainischen Grenze scheinen eher eine Drohkulisse zu sein – auch wenn die russischen Streitkräfte nach wie vor den ukrainischen weit überlegen sind. Doch scheut Moskau das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation des Verhältnisses zum Westen. Es ginge dabei nicht nur um weitere Sanktionen, etwa gegen den russischen Öl- und Finanzsektor. US-Außenminister Kerry hatte seinem russischen Gesprächspartner Lawrow Medienberichten zufolge vor einigen Wochen auch mit Luftangriffen auf Munitionsdepots oder Truppenkonzentrationen auf russischem Boden und damit faktisch mit Krieg gedroht. So steht Putin im Moment vor einem Dilemma: Ihm droht ein Gesichtsverlust. Die erfolgreiche Krim-Aktion im Frühjahr hat nicht nur im eigenen Land seine Zustimmungswerte auf lange nicht mehr gesehene Werte hochgetrieben; er hat dadurch auch bei den Teilen der Bevölkerung, die sich dem Aufstand angeschlossen haben, Hoffnungen geweckt.

Ihnen gegenüber machte Putin deutlich, daß die Übernahme durch »Mütterchen Rußland« keine Option ist. Bei einer Kranzniederlegung aus Anlaß des Jahrestags des deutschen Angriffs von 1941 rief er am Sonntag in Moskau ausdrücklich zu einer Kompromißlösung im Donbass-Konflikt auf. Es gehe darum, daß die Bewohner des Südostens der Ukraine sich als untrennbarer Teil jenes Landes fühlen könnten. Jenes Landes. Man darf gespannt sein, ob die Westmedien diese Aussage Putins zur Kenntnis nehmen. Mit ihren eigenen Annexionsspekulationen ist sie nicht vereinbar.

* Aus: junge Welt, Montag 23. Juni 2014


Wer soll das bezahlen?

Kiews kreative Kriegsfinanzierung

Von Reinhard Lauterbach **


Die Finanzierung der ukrainischen Militäraktion im Donbass ist ein wohlgehütetes Geheimnis, auf das nur gelegentlich Zufallsinformationen etwas Licht werfen. Da die laufenden Steuereinnahmen der Regierung durch den Bürgerkrieg im Donbass – das in ruhigeren Zeiten mindestens ein Fünftel des ukrainischen Sozialprodukts erbrachte – einbrechen, die Landeswährung Griwna seit Jahresbeginn um fast 50 Prozent abgewertet hat und die makroökonomischen Indizes zurückgehen, sind offensichtlich kreative Finanzierungstechniken erforderlich.

Den Finanzbedarf für einen Tag Krieg in der Ostukraine schätzte die russische Zeitung Iswestija Ende Mai auf drei Millionen US-Dollar. Damit müßten seit dem Beginn der »Antiterroroperation« Kosten von rund 200 Millionen Dollar aufgelaufen sein; wahrscheinlich sind sie de facto höher, weil Kiew seit der Präsidentenwahl die Kampfhandlungen intensiviert hat. Nicht endlos verlängerbar sind die Ressource Patriotismus und das Vertrösten der Soldaten auf bessere Zeiten; Kommandeure von Freiwilligeneinheiten beschweren sich regelmäßig in ukrainischen Medien, daß die Kämpfer keinen Sold bekämen, was ein übler Undank des Vaterlandes sei.

Öffentlich am sichtbarsten sind Aufforderungen an die Bevölkerung, die Armee durch Spenden zu unterstützen. Im Kiewer Straßenbild und auf ukrainischen Internetseiten stolpert man ständig über Kurzwahlnummern für Spenden-SMS zugunsten der Armee. Es gibt auch klassische Kriegsanleihen im Nennwert von 1000 Griwna (zirka 60 Euro) pro Stück. Deren Absatz scheint aber schleppend zu verlaufen. Statt der umgerechnet 100 Millionen Euro, die das Finanzministerium seit Mitte Mai von der Bevölkerung einsammeln will, wurden bis Mitte der letzten Woche erst 16 Prozent des erhofften Betrags gezeichnet; zu einer zweiten, weit größeren Tranche von Unternehmen und institutionellen Investoren, die de facto einer Sondersteuer gleichkommt, werden in der ukrainischen Presse nur bruchstückhafte Angaben gemacht, aus denen wenig über den Erfolg der Aktion hervorgeht. Bekannt ist dagegen, daß mehrere mit Kiew verbundene Oligarchen aus ihrem Privatvermögen zweistellige Dollar-Millionenbeträge zur Finanzierung von Privatmilizen ausgegeben haben und der Armee teilweise sogar die Benzinkosten gespendet haben.

Im technischen Sinne wird die Liquidität der Kiewer Regierung, wie es scheint, derzeit aus zwei Quellen gesichert: zum einen aus den »Hilfskrediten« von EU und IWF, von denen seit dem Frühjahr rund zwei Milliarden US-Dollar geflossen sind; die in den jüngsten Gasverhandlungen zu beobachtende ukrainische Taktik, Abschlagszahlungen an Moskau unter allen denkbaren Vorwänden zu verweigern, dürfte nicht zuletzt damit zu erklären sein, daß das Geld aus Brüssel und Washington von Kiew für militärische Zwecke dringender benötigt wird.

Die andere aktuelle Finanzierungsquelle des Krieges scheint zu sein, daß die ukrainische Nationalbank Teile ihrer Goldreserven zu Geld macht. Es sind in den ukrainischen Medien gelegentlich unklar formulierte Meldungen zu lesen, wonach die Notenbank Goldbestände im Wert kleinerer dreistelliger Millionenbeträge aus der virtuellen Kasse, die offiziell als Währungsreserve deklariert ist, in andere Töpfe umbucht – wozu sie das tun sollte, außer um das Gold diskret zu verkaufen, ist dabei unverständlich, zumal wohlgefüllte Goldreserven ja eines der wichtigsten Elemente der Geldpolitik sind, um eine Landeswährung international abzusichern. Daß hier im Hintergrund »gedreht« wird, läßt auch der Beitrag eines ukrainischen Ökonomen vermuten, der am Wochenende in der Ukrainskaja Prawda erschien. Der Mann beschwor die patriotische Pflicht, die eigene Währung zu verteidigen, und forderte am Schluß eine Devisenbewirtschaftung mit Zwang zum Verkauf von Valutaguthaben an die Nationalbank. Die staatliche Einlagensicherung für Sparkonten solle nur noch für Guthaben in – leicht nachzudruckender – Inlandswährung gelten. Die Devisenguthaben der Bevölkerung und der Unternehmen sollten hingegen durch Devisenzertifikate der Nationalbank ersetzt werden. Was denen droht, zeigte indessen eine andere Meldung dieser Tage: Der staatliche Sicherungsfonds für Kleinsparer von insolventen Banken stelle seine Tätigkeit wegen Geldmangels ein. »Gold gab ich für Eisen«, durften sich im Ersten Weltkrieg deutsche Bürger rühmen, die ihre Ersparnisse der Kriegsfinanzierung geopfert hatten.

** Aus: junge Welt, Montag 23. Juni 2014


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