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Rätseln über Putins Schachzug

In Moskau spekuliert man über ein Tauschgeschäft zwischen Russland und dem Westen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Wladimir Putins Appell an Separatisten in der Ostukraine, geplante Referenden zu verschieben, hat auch in Russland manche Spekulationen ausgelöst.

Moskau, sagt Leonid Slutzki, der Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Angelegenheiten der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS, werde keine Beobachter zu Referenden entsenden, bei denen Bewohner der prorussischen Ostukraine am Sonntag über den künftigen Status ihrer Regionen entscheiden wollen. »Unterstützen Sie den Akt über die staatliche Selbstständigkeit der Donezker Volksrepublik?«, lautet die Frage auf den Abstimmungszetteln im Gebiet Donezk. Solche Volksentscheide seien eine »innere Angelegenheit der Ukraine«, erklärte Slutzki in Moskau.

Vor allem aber finden sie gegen den ausdrücklichen Wunsch des russischen Präsidenten statt: Wladimir Putin hatte die Führung der »Donezker Volksrepublik« nach dem Treffen mit dem amtierenden Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Didier Burkhalter, am Mittwoch in Moskau zum Aufschub der Abstimmung aufgefordert. Vor allem das lässt hoffen, dass Moskau deren mögliche Ergebnisse ebenso ignoriert wie die des Volksentscheids in der Dnjestr-Republik 2007 und das offizielle Gesuch um einen Russland-Beitritt, das die von der Republik Moldau abtrünnige Region kürzlich nachreichte.

Russische Beobachter ließen die Widerspenstigkeit der Separatisten, die auf ihrem Referendum am Sonntag bestehen, denn auch weitgehend außer Acht und versuchten sich stattdessen an plausiblen Erklärungen für Putins Aufforderung an die ostukrainischen Aufständischen.

Mit einem »Einlenken« des Kremls, hinter dem die Furcht vor westlichen Sanktionen stehen könnte, habe dieser Appell nichts zu tun, unterstreichen russische Politikanalytiker. Es handele sich vielmehr um ein diplomatisches Tauschgeschäft, glaubt Fjodor Lukjanow, Vorsitzender des Rates für Außen- und Sicherheitspolitik beim Präsidenten und Chefredakteur der außenpolitischen Zeitschrift »Russland in der globalen Politik«. Spätestens nach dem Blutbad in Odessa am vergangenen Freitag sei Europa und den USA klar geworden, dass der Konflikt in der Ukraine zum Bürgerkrieg zu eskalieren droht. Der Westen habe daher hinter den Kulissen Bereitschaft signalisiert, die für den 25. Mai geplanten Präsidentenwahlen in der Ukraine zu verschieben und die erst nach der Abstimmung geplante Verfassungsreform vorzuziehen, mit der die Kompetenzen zwischen Kiew und den Regionen zugunsten Letzterer umverteilt werden sollen. Im Gegenzug habe Putin sich gegen den Volksentscheid erklärt.

Das sei es, was international zähle, und nicht der Starrsinn der Separatisten. Deren Festhalten an der Abstimmung erschüttert überdies die These des Westens, wonach Russland die Revolte in der Ostukraine steuere. Ein Trumpf, den Putin beim Gerangel um die Verfassungsreform ausspielen könnte, um Russlands außenpolitischen Erfolg in der Ukraine zu vollenden. Denn Moskau hält dem Westen und dessen Kiewer Schützlingen seit Beginn der Krise vor, sie wollten das Pferd von hinten aufzäumen.

Ohne Verfassungsreform, argumentiert die russische Führung, ergäben Wahlen von Präsident und Parlament keinen Sinn. Sie konservierten lediglich den gegenwärtigen Status und würden im schlimmsten Falle dafür sorgen, dass die Ukraine sich früher oder später in ein halbes Dutzend Zwergstaaten zerlegt, was für andauernde Instabilität sorgen würde. Ein solches Horrorszenario, glaubt Stanislaw Belkowski vom Institut für Strategien, könnte den Westen dazu bewegen, einen Russland-Beitritt der ukrainischen Spaltprodukte als geringstes aller möglichen Übel zu betrachten.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 9. Mai 2014


OSZE will schon entwaffnen

Signal des Kreml ist Ermutigung zum Dialog **

In der Ukraine wuchs am Donnerstag Hoffnung auf einen Dialog der Konfliktparteien. Die prowestliche Führung in Kiew betonte, sie wolle Gespräche mit politischen Kräften und Vertretern sowie der Gesellschaft in den russisch geprägten Regionen im Südosten des Landes führen. Übergangspräsident Alexander Turtschinow hatte zuvor allerdings Verhandlungen mit den Kämpfern ausgeschlossen, die »Blut an den Händen haben«.

Als einer der Anführer der »Donezker Volksrepublik« hatte Denis Puschilin seine Bereitschaft erklärt, sich mit der Regierung an einen Tisch zu setzen. Es gehe darum, weiteres Blutvergießen zu verhindern. Er sei aber skeptisch, ob Kiew darauf eingehe, sagte Puschilin dem russischen Staatsfernsehen.

In Brüssel und in Berlin war der Vorstoß Putins zu einem Aufschub des Referendums in der Ostukraine als ermutigendes Signal interpretiert worden. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bot an, mit ihren Experten die Separatisten in der Ostukraine entwaffnen zu helfen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte nun von allen Seiten Kompromisse. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier begrüßte die »konstruktive Tonlage« des russischen Präsidenten. Es bestehe die Chance, mit diplomatischen Mitteln eine »weitere Eskalation der Gewalt und völligen Kontrollverlust im Osten der Ukraine zu verhindern«.

Knapp drei Wochen vor der Präsidentenwahl in der Ukraine drohte die frühere Regierungschefin Julia Timoschenko mit einer neuen Revolution, sollte das Volk sie nicht wählen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 9. Mai 2014


Ein Hauch von Hoffnung

Klaus Joachim Herrmann über Folgen der russischen Forderung nach Aufschub des Referendums in der Ostukraine ***

In der ukrainischen Krise ist ein Hauch von Wandel zu spüren. Ausgelöst wurde er von der Bereitschaft Russlands, mit der Forderung nach Verschiebung der Volksabstimmung über eine Donezker und eine Lugansker »Republik« mäßigend auf die nach Föderalisierung strebenden Kräfte im russischsprachigen Osten einzuwirken. Wichtig ist in der geopolitischen Auseinandersetzung nicht zuerst diese Abstimmung, sondern das, was daraus gemacht werden soll.

Putin wird ausgerechnet von den seinem Kommando zugerechneten Milizen nicht erhört. Doch angesichts der brandgefährlichen Eskalation zwischen Russland und dem Westen zählt bereits die Absicht. Sie wurde erkannt und rasch aufgegriffen. Auch aus Kiew kam mehr als die arrogante Absage des Premiers an »heiße Luft«. So würde der Übergangspräsident mit Vertretern der Selbstverwaltung, Aktivisten und Unternehmern im Donbass reden. Auf die Fortsetzung der blutigen »Anti-Terror-Aktion« setzt jedoch ungerührt der Chef des Sicherheitsrates.

Vielleicht kommt es trotz aller Widersprüche jetzt zu Runden Tischen und aussichtsreicheren Genfer Verhandlungen. Der Wind der Veränderung weht aber noch nicht. Die Falken, die sie riefen, werden die auch künftig streitenden Seiten ohnehin nicht einfach so wieder los.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 9. Mai 2014 (Kommentar)


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