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Kiews Plan setzt auf Kapitulation

Verwirrung um die Präsentation des Friedensangebots, Panzer unter russischen Fahnen und kampfbereite Kumpel

Von Klaus Joachim Herrmann *

Das Konzept des ukrainischen Präsidenten gegen die Krise sickerte dank der Medien in die Welt. Eine offizielle Präsentation blieb angekündigt, aber ohne Termin. Das passte zum »Friedensplan«.

Die Ankündigung der Vorlage des Friedensplans durch Präsident Petro Poroschenko für Freitag wurde am Abend auf den »allgemeinen Wunsch, den Plan noch heute zu veröffentlichen«, heruntergestuft. Es gebe komplizierte Diskussionen, hieß es aus dem Präsidialamt in Kiew. Umstritten blieben offenbar die bereits mehrfach angekündigte »kurze Feuerpause« und möglicherweise erstmalig ein Gesprächsangebot an Vertreter der abtrünnigen Region.

Für weitere Verwirrung sorgten zu diesem Zeitpunkt Berichte über Panzer, Schützenpanzerwagen und Lkw mit Geschützen, die unter russischen Fahnen in den Regionen Lugansk und Donezk gesichtet worden seien. Der Verdacht lag nahe, dass sie bedrängte prorussische Milizen unterstützen sollen. Doch auf Videos waren Ort und Zeit der Bewegung von Militärfahrzeugen ebenso wenig auszumachen wie Hoheits- oder andere Zeichen.

Nach allen seinen bekannt gewordenen Punkten setzt der »Friedensplan« allerdings gerade die völlige und bedingungslose Kapitulation der Milizen voraus. Sie sollen die Waffen strecken und durch Korridore Richtung Russland verschwinden. Völlig ungeklärt blieb bislang, wie eine Amnestie praktisch anzuwenden wäre. Dazu bedürfte es neben einer Waffenruhe auch einer Überprüfung: Wer soll bleiben, wer darf gehen?

Offenbar mehrfach hatte Poroschenko allerdings laut übereinstimmenden Agenturberichten telefonisch mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin über das Konzept beraten. Demnach erläuterte er »Schlüsselpositionen und den Zeitplan«, während Putin seinerseits »eine Reihe von Hinweisen« gab und unter anderem »das sofortige Ende des Militäreinsatzes« gegen die Separatisten im Osten der Ukraine forderte. Poroschenko ließ mitteilen, er zähle auf die Unterstützung Moskaus.

Die Führung der Donezker Volkswehr fühle sich vom russischen Präsidenten Wladimir Putin verraten, vermutete die in Moskau erscheinende Zeitung »Nesawissimaja Gaseta«. Der Befehlshaber der Volkswehr der »Donezker Volksrepublik«, Igor Strelkow, habe gewarnt, dass deren Lage ohne eine »reelle, umfassende und unverzügliche« Militärhilfe Russlands hoffnungslos sei. Die Volkswehr verliere den Kampf, weil sich Russland nach den Unabhängigkeitsreferenden geweigert habe, Friedenstruppen zu schicken. Damit werde der russische Präsident von den Aufständischen in der Ostukraine unter Druck gesetzt, die Moskau im Grunde selbst »geweckt« habe. Solche Vorwürfe könnten nun dazu führen, dass Putin die Initiativen seines ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko günstig aufnehme.

Währenddessen schien sich neben den bisherigen Gegnern der Kiewer Zentralmacht in der Ostukraine eine neue Kraft zu formieren. Unter Berufung auf die »Volksrepublik Donezk« berichteten russische Medien, dass im Kohlerevier Bergarbeiter eine eigene »Division« aufstellen würden. Bereits 500 Kumpel hätten sich eintragen lassen, die »ihre Häuser und Familien verteidigen wollen«, hieß es.

Aus der Stadt Rowenko berichtete dagegen die Agentur UNIAN, dass die dortige Bevölkerung von Kosaken »terrorisiert« werde. Bergarbeiter würden am Einfahren in den Schacht gehindert, die Bürger würden – mit russischen Fähnchen ausgestattet – zu einer Kundgebung gegen die »Anti-Terror-Operation« der ukrainischen Übergangsregierung gezwungen. Um nicht zu den Meetings gehen zu müssen, weigerten sich Kumpel, aus den Schächten auszufahren, hieß es unter Berufung auf eine Menschenrechtlerin in sozialen Medien.

Derweil kosteten die blutigen Gefechten in der Ostukraine erneut zahlreiche Menschen das Leben. Im Raum Donezk seien mindestens 12 ukrainische Soldaten erschossen und 25 verletzt worden, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Binnen 48 Stunden seien 300 aufständische Kämpfer getötet worden. Die Angaben über Opferzahlen weichen äußerst stark voneinander ab und sind nicht nachprüfbar.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Juni 2014


Moskau warnt Kiew

Putin-Sprecher: Grenzverletzungen werden mit aller Härte beantwortet. Weiter Kämpfe im Donbass. Ukrainische Truppen versuchen, Grenze zu Rußland abzuriegeln

Von Reinhard Lauterbach **


Im umkämpften Donbass stehen die ukrainischen Regierungstruppen offenbar kurz davor, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk von der russischen Grenze abzuschneiden. Am Freitag mittag waren nach einer vom ukrainischen Sicherheitsdienst verbreiteten Karte noch zwei Grenzübergänge ins Gebiet Rostow unter Kontrolle der Aufständischen. Der Sicherheitsdienst dementierte damit frühere Aussagen des ukrainischen Verteidigungsministers Michail Kowal über die angeblich bereits vollzogene Einschließung des Aufstandsgebietes. Nach ukrainischen Angaben kamen 13 eigene und 300 Kämpfer der Aufständischen ums Leben. Ein Sprecher der Volksrepublik Lugansk dementierte die letzte Zahl, machte aber keine eigenen Angaben zu den Verlusten. Nach ukrainischer Darstellung werden weiterhin russische Militärfahrzeuge über die Grenze in den Donbass verlegt; angeblich sei ein ursprünglich in Tschetschenien stationierter Panzerspähwagen von ukrainischen Kämpfern erbeutet worden. In Kramatorsk schlugen die Regierungstruppen einen Angriff der Aufständischen auf eine Panzerkaserne zurück.

In der Nacht zum Freitag telefonierte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin. Im Mittelpunkt stand nach Angaben aus Kiew die Sicherung der Grenze. Über die Lage dort gab es auch wieder Streit zwischen Rußland und der NATO. Moskau wies Aussagen des Paktes zurück, es habe seine Truppen im Grenzgebiet wieder verstärkt. Die Militäreinheiten dienten dem Schutz der Grenze, den der Westen selbst von Rußland verlangt habe. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Hollande drohten Rußland mit weiteren Sanktionen, wenn es nicht zur »Deeskalierung« der Lage beitrage und auf die »Separatisten« einwirke, den »Friedensplan« Poroschenkos anzunehmen. Vor diesem Hintergrund verdient eine Äußerung von Putins Sprecher Aufmerksamkeit, in der er die ukrainische Armee vor Verletzungen der Grenze zu Rußland warnte. Jeder solche Versuch werde mit aller Härte beantwortet, so der Sprecher. Indirekt bedeutet diese Aussage auch, daß Rußland nicht auf der ukrainischen Seite intervenieren will. Führer der Aufständischen hatten in den letzten Tagen mehrfach erklärt, ohne aktive russische Hilfe sei die Niederlage der Rebellion im Donbass eine Frage von zwei bis drei Wochen.

Aus dem von Aufständischen gehaltenen Kramatorsk wurden allein am Freitag 700 Kinder nach Rußland in Sicherheit gebracht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR veröffentlichte unterdessen einen Bericht, nach dem seit März 38000 Personen aus der Krim und dem Donbass geflohen sind. Aus den Angaben läßt sich errechnen, daß rund 32000 von ihnen in Rußland Zuflucht suchten. Der russische Migrationsdienst gab an, seit dem Machtwechsel Ende Februar seien schon 400000 ukrainische Staatsbürger nach Rußland gekommen. Die meisten scheinen freilich auf eine baldige Rückkehr zu setzen; nach denselben Angaben haben nur 6 000 von ihnen um Asyl gebeten oder längerfristige Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen beantragt. Ins von Kiew kontrollierte Gebiet sind nach UN-Angaben etwa 6 000 Menschen geflohen. Von den mindestens 400 000 ukrainischen Bewohnern der Krim ist das nur ein kleiner Teil. Kiewer Medien kritisieren seit Tagen, daß es keinerlei organisatorische Vorbereitung für ihre Aufnahme gebe. Die Flüchtlinge könnten sich allenfalls auf Verwandte stützen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juni 2014

Lesen Sie hierzu:

Poroschenkos Frieden: eine Kriegserklärung
Kommentar von Kai Ehlers zu einem exemplarischen Meisterstück der Demagogie (23. Juni 2014)

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