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Ukraine vor der Zerreißprobe

Der Westen macht klare Schuldzuweisungen, aber sträflich Versäumtes nicht wett

Von Klaus Joachim Herrmann *

Bei allem Entsetzen waren dem Westen am Tag nach den tödlichen Auseinandersetzungen in Kiew Vorgeschichte und Hintergründe keine Betrachtung wert.

Die Schuldzuweisung des Westens an die Führung in Kiew kam prompt und eindeutig. Die Folgerung ebenso: Druck machen! Der soll besonders Präsident Viktor Janukowitsch treffen, gern auch den Kremlchef Wladimir Putin. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton will »alle möglichen Optionen« für Strafmaßnahmen prüfen.

Die sollten »rasch und gezielt« eingesetzt werden, erklärte Frankreichs Präsident Hollande. Da war er sich schon mit dem polnischen Premier Donald Tusk einig und wollte es danach auch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel werden. Deren Außenminister Frank-Walter Steinmeier ließ vorauseilend wissen, man könne Vermögen einfrieren und Einreisesperren in die EU verhängen. Die EU blieb bei ihrer unversöhnlichen Parteinahme. Die Ukraine steht unmittelbar vor ihrer lang befürchteten Zerreißprobe.

Nur zuweilen wurde noch daran erinnert, dass es den Demonstranten um die Hinwendung des Landes nach Europa gehe. Dem hatte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch am 21. November des Vorjahres ja eine Absage erteilt. Das lange ausgehandelte Abkommen zur Zusammenarbeit mit der EU legte er auf Eis und wandte sich Russland zu. Das ist ein Nachbar der Ukraine, mit dem sie viele Gemeinsamkeiten hat. Die reichen mit der Kiewer Rus bis zu den Urgründen der Staatswerdung.

Die EU war blamiert, entsetzt und völlig verblüfft. Dabei hatte sie einfach nicht ihre Hausaufgaben gemacht. Dafür aber die Führung in Kiew. Die Ukraine steckt tief in wirtschaftlichen und finanziellen Problemen. Russland ist der traditionelle Partner, die Wirtschaften sind verflochten. Abgewogen wurden Kosten und Nutzen. Die EU stellte gut 600 Millionen Euro Hilfe in Aussicht. Der Kreml aber senkte den Gaspreis und bot eine Finanzhilfe von 15 Milliarden Dollar. Davon gehen dieser Tage weitere zwei Milliarden nach Kiew.

Nicht wenige Ukrainer sahen sich allerdings um eine Zukunft näher am Westen, Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen, weniger Korruption und mehr Demokratie betrogen. Sie wählten den Unabhängigkeitsplatz für ihre Demonstration.

Nicht bei der eigenen Führung, aber in den westlichen Hauptstädten fanden der Protest Gehör und Unterstützung. Vorgebliche Vermittlungsmissionen US-amerikanischer und europäischer Spitzenpolitiker gerieten zu demonstrativer Parteinahme. Sträflich Versäumtes sollte mit wachsendem Druck auf die Kiewer Führung wettgemacht werden. Selbstgefällig bastelte man an neuen Regierungen. Bislang vergebens.

Präsident Janukowitsch wird von Gegnern und weithin medial als das Böse schlechthin dargestellt. Mag schon sein. Doch vor allem bleibt die Ukraine in ihrer geopolitischen Schlüsselposition. Sie ist hart umstritten zwischen der EU sowie den USA und Russland – alte Rivalen aus dem Kalten Krieg der Supermächte. Wollte die EU nicht nur sich selbst, sondern eben der Ukraine Gutes tun, wäre das von ihr zu bedenken und, besser noch, darüber gemeinsam mit den Beteiligten zu reden gewesen. Es ließe sich immerhin nachholen.

Ohne Russland werde es keine Lösung in der Ukraine geben, weiß jedenfalls LINKE-Fraktionschef Gregor Gysi. Es sei falsch gewesen, von ihr zu verlangen, sich zu einer Seite zu bekennen. Dieses Land müsse eine Brücke sein. Den Vorschlag zur Vermittlung lehnte Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ab. Aber die große Sorge, »dass die Ukraine sich spalten könnte«, sollte unverzüglich geteilt werden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Februar 2014


Im Geiste von Stepan Bandera

Hannes Hofbauer über die Rolle der Rechtsradikalen in Kiew **

Selbst geübte Beobachter politischer Doppelmoral verlieren angesichts zerbröselnder Maßstäbe die Orientierung. Da machen sich Ende Januar 2014 schwarz gekleidete Antifas aus Hamburg und Berlin in Bussen nach Wien auf, um ein paar rechte Recken vom Tanz in der Hofburg abzuhalten. Dort werden beim jährlichen »Akademikerball« großbourgeoise Riten simuliert. »Wehret den Walzerklängen« also im antifaschistischen Wien, während 1000 Kilometer östlich die Faschisten zur Sache gehen. In den Straßen von Kiew genießen sie uneingeschränkte Sympathie auch von Medien und Politik in Deutschland.

Nun stehen die deutschen Antifas mit dem deutschen Mainstream auf solidem Kriegsfuß und man kann sich fragen, was es soll, die beiden Ereignisse gedanklich zusammenzuführen. Sie haben insofern miteinander zu tun, als dass die Sympathie der herrschenden Meinungsbildner im Angesicht anti- bzw. faschistischer Aktivisten mal hier und mal dort sehr ungleich verteilt ist. Die kleine Straßenschlacht in Wien löste in Teilen der politischen Schickeria klammheimliche Freude aus; sogar Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer empfahl, den rechten Tänzern künftig die Hofburg zu verweigern. Gleichzeitig überbieten sich die politischen Lager in Solidaritätsbekundungen für den Aufstand in der Ukraine, obwohl dort Straßen, Plätze und besetzte Amtsgebäude in der Hand der Rechten und Tote zu beklagen sind. Einzig in der deutschen Linkspartei sind dazu kritische Stimmen zu hören. Von Antifas, die sich auf den Weg zum Maidan machen, um sich den Faschos in den Weg zu stellen, hatte man in den vergangenen Wochen nichts gelesen. Dabei verurteilen die Nazi-Gegner deren Aufmärsche ebenso wie die Vorgänge auf dem Akademikerball.

Natürlich wäre es unredlich, die ukrainische Opposition über den faschistischen Kamm zu scheren. Die allgemeine Unzufriedenheit ist sicher nicht »rechts« oder gar »faschistisch« grundiert. Anders die kämpfenden Aktivisten an den Barrikaden und ihre Führer: Ohne die Rechte geht dort gar nichts. Sie treten als »Rechter Sektor« oder »Patrioten der Ukraine« auf. Die »Allukrainische Vereinigung Swoboda« bildet ein parlamentarisch-politisches Dach, und die anderen großen Oppositionsparteien, »Vaterland« und »Schlag«, gehen damit Hand in Hand.

Historisch sieht sich »Swoboda« in der Nachfolge der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Deren Führer Stepan Bandera gilt der ukrainischen Rechten als Held. Ihm sind in der Westukraine über zwei Dutzend Denkmäler errichtet worden, Straßen wurden ihm gewidmet und Ehrenbürgerschaften vergeben. Bandera war Adolf Hitlers wichtigste Ansprechperson in der Region. Im September 1939 von den Nazis aus einem polnischen Gefängnis befreit, wo er wegen Mordes am polnischen Innenminister Bronislaw Pieracki einsaß, kämpfte seine OUN unter deutscher Anleitung an vorderster Front gegen die Rote Armee. Banderas radikaler Nationalismus brachte ihn allerdings auch in Widerspruch zu den Nazis, deren Großmachtpläne keine selbstständige Ukraine vorsahen. Sie sperrten Bandera ins KZ Sachsenhausen. Mit dem Nahen der Front erinnerte man sich in Berlin wieder seiner Dienste, entließ ihn im September 1944 aus der Haft, versorgte die mittlerweile gebildete »Ukrainische Aufstandsarmee« mit Waffen und schickte sie gen Osten.

Die Funktionalität rechtsradikaler Organisationen für bürgerlich-kapitalistische Interessen ruft manche Erinnerung wach. Auch beim von außen dynamisierten Zerfall Jugoslawiens bediente man sich ohne Scham rechtsradikaler Gruppen und Ideologien. »Unsere Kettenhunde« nannte der US-Sonderbeauftragte Richard Holbrooke in seinem Buch »Meine Mission« die kroatischen Faschisten und rechtfertigte deren Verwendung gegen die serbische Seite: »Jetzt ist nicht die Zeit für Überempfindlichkeiten«, später müsse man allerdings »versuchen, sie zu kontrollieren«. Das ukrainische Szenario wirkt gespenstisch ähnlich. Man bedient sich der Rechtsradikalen, macht sie stark, um sie morgen wie weiland Tudjman oder Izetbegović auszubooten und durch willfährige Verwalter zu ersetzen. Wenn’s schief geht, arrangiert man sich halt mit den Faschisten, es wäre nicht das erste Mal.

Eine kleine historische Nachreichung zum Verständnis der engen Bande zu den radikalen Rechten in Kiew: Der OUN-Gründungskongress fand im Winter 1929 in Wien statt. Es war mitten in der Ballsaison.

** Hannes Hofbauer ist Verleger und Publizist in Wien.

Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Februar 2014



Moskau fürchtet Staatsstreich

Das russische Außenministerium hat der Opposition in der Ukraine am Mittwoch einen versuchten Umsturz vorgeworfen.

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Auslöser der jüngsten Unruhen in Kiew war die Entscheidung des ukrainischen Kabinetts, den Assoziierungsprozess mit der Europäischen Union auszusetzen und stattdessen die Kooperation mit Russland auszubauen. Damit sind die Entwicklungen in der Ukraine ein neuer Härtetest für das ohnehin getrübte Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Beide lasten dem jeweils anderen an, dass der Konflikt zwischen prowestlichem und pro-russischem Lager nach kurzer Pause erneut dramatisch eskaliert ist.

Alexander Lukaschewitsch, Sprecher des Außenamtes in Moskau, zählte vor allem die USA wegen »unverfrorener Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine« an. Washington versuche, Kiew den westlichen Entwicklungsweg als einzig richtigen aufzuzwingen und den Behörden eines souveränen Landes vorzuschreiben, was sie zu tun hätten. Wozu das führe, sei aus »jüngsten historischen Beispielen« bekannt. Die EU wolle mit der Assoziierung der Ukraine zeigen, dass sie ihre Krise überwunden hat, erkenne aber nicht an, dass Russland dasselbe Recht auf Wahrung seiner Interessen habe, rügte auch der Chef des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Alexei Puschkow.

Moskau fürchtet, die Ukraine könnte ihre Neutralität aufgeben und Pläne für eine NATO-Mitgliedschaft aus der Versenkung holen, wenn in Kiew erneut eine prowestliche Regierung die Macht übernimmt. Kriegsschiffe des westlichen Militärbündnisses könnten dann auf der Krim und damit an Russlands hochsensibler Südwestflanke stationiert werden. Dazu kommt, dass mit der Ukraine – nach Russland die bevölkerungsreichste Ex-Sowjetrepublik mit der stärksten Volkswirtschaft – die Pläne des Kremls für die wirtschaftliche Re-Integration der UdSSR-Nachfolger stehen und fallen. Bliebe es nur beim Beitritt »armer Verwandter« wie Armenien oder Kirgisistan zu Strukturen wie Zoll- oder Eurasischer Union, hätte das auf Unentschlossene eher abschreckende Wirkung.

Dass der »Freiheitskampf« in der Ukraine auf Russland übergreift, ist dort angesichts der Schwäche von Opposition und Zivilgesellschaft nicht zu erwarten. Politiker und Experten in Moskau treibt eher Angst vor einem Bürgerkrieg um, in dessen Ergebnis sich die Ukraine spaltet. Das Land, so Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der einflussreichen außenpolitischen Zeitschrift »Russland in der globalen Politik«, mache derzeit die tiefste politische Krise seit der Unabhängigkeit nach dem Ende der Sowjetunion 1991 durch.

Gefährlich sei vor allem die Pattsituation, die seit Wochen andauert. Regierungsmacht wie Opposition wüssten nicht, was sie tun sollen, und hätten ohnehin nicht die Kraft, ihre Beschlüsse durchzudrücken. Präsident Viktor Janukowitsch werde sich allein schon deshalb nicht auf vorgezogene Neuwahlen von Parlament und Präsident einlassen, weil er damit seinen Gegnern einen Stellenwert einräumen würde, den sie real nicht besitzen. Die Opposition sei fragmentiert, Dutzende würden die Führung beanspruchen und auf den Lagerfeuern des Maidan ihr eigenes Süppchen kochen.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Februar 2014


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