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Artillerie gegen Slowjansk

Kiews Truppen beschießen ostukrainische Großstadt mit Raketenwerfern. Tausende Menschen sind auf der Flucht. Angekündigter Friedensplan weckt Mißtrauen

Von Arnold Schölzel *

Am Sonntag und Montag griffen Truppen der Machthaber in Kiew erneut mit Artillerie und Kampfflugzeugen ostukrainische Städte und deren Vororte an. Die schwersten Schäden gab es in der Stadt Slowjansk. Die Angreifer feuerten u. a. mit Raketenwerfern vom Typ »Grad«. Nachrichtenportale zeigten Einschläge in Wohnhochhäusern und die Brandruine eines der ältesten Gebäude der Stadt, das heutige Kulturzentrum »Kaufmannshaus«, das den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte. Getroffen wurden außerdem eine Kirche, Verwaltungsgebäude, eine Möbel- und eine Lackfabrik. Strom und Wasser gibt es praktisch nicht mehr. Auch in anderen Städten wie Kramatorsk, Lugansk und Mariupol kam es erneut zu Kämpfen. Mehrere Quellen sprachen von zahlreichen Toten und Verletzten. Offensichtlich scheuen die von Kiew in Marsch gesetzten Verbände den Nahkampf. Darauf deuten mehrere Meldungen in ukrainischen und russischen Medien über Desertionen, Überläufer und Waffenverkäufe an die Widerstandskämpfer.

Zehntausende Einwohner der Region sind in andere Teile der Ukraine, vor allem nach Odessa und Kiew, geflüchtet, allein 20000 seit Freitag über die Grenze nach Rußland. An den Kontrollpunkten zur Krim stauen sich kilometerweit Autos mit Kennzeichen aus dem Donbass. Die Kiewer Behörden leugnen die Fluchtbewegung, die allerdings am Montag erneut vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge bestätigt wurde. Einwohner von Slowjansk beklagten sich gegenüber Journalisten nicht nur über den Beschuß der Stadt, sondern auch darüber, daß kein Korridor eingerichtet werde, durch den der Belagerungsring der Kiewer Truppen ohne Lebensgefahr verlassen werden kann.

Die Angriffe begannen unmittelbar nach Amtseinführung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am Sonnabend. Er kündigte in seiner Antrittsrede erneut eine Reise in die Ostukraine und einen Friedensplan an. Eine Föderalisierung des Landes lehnte er ab, sprach aber von »Dezentralisierung«. Ukrainisch werde die einzige Amtssprache sein, die »freie Entwicklung des Russischen und anderer Sprachen« sei garantiert. Am Rande einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vermittelten Diplomatenrunde am Sonntag in Kiew erklärte Poroschenko laut dpa: »Wir sollten in dieser Woche das Feuer einstellen«. Einen genauen Zeitpunkt nannte er nicht.

Rußland fordert seit Tagen mit Nachdruck ein Ende des Krieges Kiews gegen die eigene Bevölkerung. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Samstag verschärfte Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze zur Ukraine angeordnet, um das weitere Eindringen Bewaffneter in die Krisenregion zu unterbinden.

Ein Sprecher der »Volksrepublik Lugansk« reagierte auf die Äußerungen Poroschenkos am Montag mit den Worten: »Diesen Leuten ist nicht zu trauen«. Die Mobilisierung sei nicht beendet: »Wir haben Krieg. Wir eröffnen nicht zuerst das Feuer, sondern nur zur Verteidigung.« Aus Kiew berichtete dpa, das ukrainische Verteidigungs- und das Innenministerium seien auf ein Ende der Operation nicht vorbereitet. Die Truppen würden vielmehr gerade mit besserer Ausrüstung versorgt.

Moskau und Kiew verhandelten am Montag weiter über eine Lösung im Konflikt um russische Gaslieferungen. Sollte die Ukraine nicht bis Dienstag ihre Milliardenschulden begleichen, will Rußland nur noch gegen Vorkasse liefern.

* Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014


Nur ein Drittel der Stimmen

Legitimität des Wahlsiegers ist wenig überzeugend

Von Manfred Schünemann **


Nach der Präsidentenwahl in der Ukraine beeilten sich EU, USA, OSZE und NATO, das Ergebnis für Petro Poroschenko als »überzeugende Legitimation« zu werten. Dazu wurde auf die hohe Wahlbeteiligung (60,3 Prozent) und das Wählervotum von 54,7 Prozent verwiesen.

Die absoluten Zahlen vermitteln ein anderes Bild. Nach den offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission gab es (ohne Krim und Sewastopol) knapp 33,7 Millionen Wahlberechtigte. In den Wählerlisten waren am Wahltag nur 29,6 Millionen registriert. Durch Änderungen des Wahlgesetzes konnten die Ergebnisse anhand der Wählerlisten, die noch am Wahltag korrigiert werden konnten, festgestellt werden. Etwa 4,1 Millionen Wählerstimmen fielen unter den Tisch.

Mit gut 9,8 Millionen Stimmen (54,7 Prozent der abgegebenen Stimmen) hat Poroschenko keinen besonders überzeugenden Wahlsieg errungen. Bezogen auf die Zahl der in Wählerlisten Eingetragenen erhielt er etwa ein Drittel der Stimmen. Alle früheren Präsidenten hatten mehr, als schlechtester Kam Vorgänger Viktor Janukowitsch auf 11,3 Millionen (ohne Krim und Sewastopol).

Im Gebiet Donezk gab es offiziell rund 3,3 Millionen Wahlberechtigte, von denen nur etwa 745 000 in Wählerlisten registriert waren. An der Wahl beteiligten sich knapp 116 000 Bürger, deren Stimmen aber die Grundlage für das prozentuale Stimmenergebnis für Poroschenko von 36,15 Prozent waren. Gewählt haben Poroschenko im Gebiet Donezk nur 41 880 Wähler. Ähnlich war es im Gebiet Lugansk.

In vielen Gebieten der West- und Zentralukraine war fairer Wahlkampf kaum möglich. Regierungskritische Kandidaten waren Behinderungen und Anfeindungen bis zu Morddrohungen ausgesetzt. Gegner des Regierungskurses gingen nicht zur Wahl, waren durch bürgerkriegsähnliche Zustände daran gehindert oder nicht registriert – ein Stimmenpotenzial von etwa zwölf Millionen Wählern.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 10. Juni 2014




Schlächterprobleme

Kiew verschärft Angriffe im Donbass

Von Arnold Schölzel ***


NATO, EU und ihre Kiewer Statthalter verschärfen den Krieg in der Ost­ukraine. Wer mit Artillerie, Raketenwerfern und Kampfbombern Wohnviertel von 100000-Einwohner-Städten beschießt, ist ein Massenmörder – nach allen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts für den Schutz der Zivilbevölkerung. Der Westen und die in der ukrainischen Hauptstadt maßgeblich die sogenannten Sicherheitskräfte führenden Faschisten haben alle Gründe, über das, was sie im Donbass anrichten, zu schweigen, es zu leugnen oder den Widerstandskämpfern in die Schuhe zu schieben.

Der neue Präsident Petro Poroschenko setzt diese Linie der von Steinmeier und Co. installierten Putschjunta vom Februar fort. Wie schon bei seinem ersten Auftritt nach seinem Wahlsieg, kündigte er auch bei seiner Amtseinführung am Sonnabend einen »Dialog« mit der Bevölkerung der Ostukraine an – anschließend wurde der Befehl zum Beschuß durch schwere Artillerie gegeben. Um mehrere Städte wurden Belagerungsringe aus Panzern und Geschützen gelegt. Da die Herrschaften in Kiew der Kampfbereitschaft ihrer eigenen Truppen nicht sicher sein können, verlegt man sich aufs Massakrieren aus der Distanz. Die Kaltblütigkeit, mit der Poroschenko seine Antrittsrede mit dem Maidan-Kampfruf »Ruhm der Ukraine!« beendete und anschließend auf Landsleute schießen ließ, deutet darauf hin: Die Mentalität der Nazikollaborateure ist lebendig. Poroschenkos antirussische Beschwörung der ukrainischen Geschichte, die Behauptung, die Ukraine kehre nun zurück zu »ihrem natürlichen, europäischen Staat«, ist eine Kampfansage. Die sozialen und nationalen Gegensätze des Landes sollen mit Gewalt gelöst werden. Gleiches gilt für seine Äußerungen zur Krim. Wer Verhandlungen oder Bemühen um einen Modus vivendi mit der von der Mehrheit der Krim-Bewohner gewollten Sezession ablehnt, kann nur eine militärische Lösung anstreben. Seine Äußerungen zur Sprachenfrage dürften die russischsprachigen Ukrainer nicht beruhigen, im Gegenteil.

Poroschenko hat die Attitüde seiner NATO- und EU-Oberen übernommen. Bundeskriegsministerin Ursula von der Leyen hat soeben noch einmal kühl bestätigt: Rußland sei »kein Partner« mehr, mit ihm sei aus einer »Position der Stärke« heraus umzugehen. Diese Aufgabe verstehen die Poroschenko und Co. nicht nur als Auftrag, die russische militärische Bereitschaft ständig herauszufordern oder sogar zu testen, sondern auch als Freibrief, die eigene russischsprachige Bevölkerung zu unterdrücken und zu bekämpfen. Frank-Walter Steinmeier mahnte zwar am Sonntag an: »Das Ergebnis militärischer Operationen in der Ostukraine darf nicht sein, daß die Separatisten noch mehr Zulauf bekommen.« Aber Poroschenko soll den NATO-Schlächter spielen, seine Kommandeure erwarten mit Ungeduld Ergebnisse.

*** Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014 (Kommentar)


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