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Viele Telefonate in der Feuerpause

EU-Spitzenpolitiker im Gespräch mit Moskau und Kiew / USA machen Druck auf Russland

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Feuerpause im ukrainischen Konflikt läuft an diesem Freitag aus. Europäische Spitzenpolitiker versuchten, die letzten Stunden zur Entschärfung der Krise zu nutzen.

»Für die Einschüchterung Russlands, für eine politische Erpressung und für Drohungen mit Sanktionen gibt es keinen Grund«, wehrte sich Valentina Matwijenko, Vorsitzende des Russischen Föderationsrates, am Donnerstag. Ihr Land trage zum Friedensprozess im Südosten der Ukraine bei, versicherte sie laut RIA/Novosti. Der Verzicht auf die Vollmacht des Präsidenten zum Einmarsch in die Ukraine sei eine anschauliche Demonstration der russischen Absichten.

Wladimir Putin seinerseits telefoniert erneut mit Bundeskanzlerin Angela Merkel »zwecks Beilegung der Krise«, wie der Kreml mitteilte. Dabei sei es um eine Verlängerung der Waffenruhe, deren Überwachung und die stärker werdenden Flüchtlingsströme gegangen. Mehr als 20 000 Menschen haben bereits in Russland offiziell Zuflucht gesucht. Täglich sollen Tausende im südrussischen Rostow am Don eintreffen. Bereits am Vorabend hatten Merkel und Putin mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Frankreichs Staatschef François Hollande über eine Entspannung des Konfliktes in einer Konferenzschaltung beraten.

Zum Telefon griff laut AFP auch US-Präsident Barack Obama. Er drohte nach Angaben des Weißen Hauses am Mittwoch in einem Telefongespräch mit dem italienischen Regierungschef Matteo Renzi, einmal mehr Russland mit Sanktionen. Sollte es nicht »schnelle Maßnahmen« für eine Entschärfung der Situation in der Ukraine ergreifen, werde das Land dafür »einen zusätzlichen Preis« zahlen müssen. Sein Außenminister John Kerry forderte in Paris, Russland müsse »buchstäblich in den nächsten Stunden« zur Entwaffnung der Separatisten beitragen. Als nächsten Schritt erwägt der Westen Sanktionen gegen ganze russische Wirtschaftszweige.

Beim EU-Gipfel in Brüssel steht die Unterzeichnung des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union (EU) mit der Ukraine auf der Tagesordnung. Dazu wird Präsident Poroschenko erwartet. Für den 11. Juli ist ein Treffen von Vertretern der EU, der Ukraine und Russlands angekündigt, bei dem über die Umsetzung des Abkommens beraten werden soll. Moskau hatte wiederholt negative Konsequenzen angekündigt.

* Aus: neues deutschland, Freitag 27. Juni 2014


Bedingungen der Aufständischen

Poroschenko droht mit »wichtiger Entscheidung«

Von Reinhard Lauterbach **


Der militärische Anführer der Kämpfer in Slowjansk, Igor Strelkow, hat erstmals Waffenstillstandsbedingungen der Aufständischen genannt. Er sagte, die Volkswehr verlange einen Rückzug der Kiewer Streitkräfte auf eine Distanz von zehn Kilometern zu den eigenen Stellungen, ein Ende des Artilleriebeschusses von Wohnvierteln sowie der Überflüge durch ukrainische Flugzeuge. Vor allem die erste Bedingung ist ein deutliches Nachgeben gegenüber dem bisherigen Standpunkt der Aufständischen, die Kiewer Regierung solle ihre Truppen als Vorbedingung für Gespräche aus dem ganzen Donbass abziehen.

Morgen soll nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ein weiteres Treffen der Verhandlungskommission aus Vertretern der Kiewer Machthaber, Rußlands und der OSZE stattfinden. »Leider« würden keine Vertreter der aufständischen Regionen teilnehmen, sagte Poroschenko bei einem Auftritt in Strasbourg beim Europarat. Daß diese bei einer Teilnahme ihre Verhaftung riskierten, sagte er nicht dazu. Wie jetzt aus Poltawa in der Zentralukraine berichtet wurde, nahm der Sicherheitsdienst einen Mann fest, der einige Exemplare einer Zeitung mit dem Titel Noworossija (Neurußland) im Kofferraum hatte. Ihm wird jetzt ein »Anschlag auf die territoriale Unversehrtheit der Ukraine« vorgeworfen. Poroschenko forderte die Aufständischen ein weiteres Mal auf, bis morgen seinem Friedensplan zuzustimmen; ansonsten werde er eine »wichtige Entscheidung« treffen.

Die Waffenruhe scheint unterdessen besser zu halten als in den ersten Tagen. Berichtet wurde nur von vereinzelten Schußwechseln. Die Aufständischen in Lugansk erklärten, sie hätten wegen des Waffenstillstands darauf verzichtet, ein Transportflugzeug der ukrainischen Armee mit Nachschub für die auf dem Flughafen der Stadt eingeschlossenen etwa 2000 Soldaten der Regierungsarmee abzuschießen, obwohl ihre Luftabwehr die Maschine im Visier gehabt habe. In Donezk erklärten Vertreter beider Volksrepubliken deren Vereinigung und beschlossen eine gemeinsame Verfassung.

In Kiew überfielen am Donnerstag Angehörige des Rechten Sektors ein Hotel, wo der Jahreskongreß der ukrainischen Gewerkschaften tagte. Die Angreifer waren mit Tränengaspatronen, Feuerwerkskörpern und Stahlruten ausgerüstet und sprengten die Veranstaltung. Ein Vertreter der »Teilnehmer der Orangen Revolution« erklärte zur Begründung, die Aktion richte sich nicht gegen Gewerkschafter. Auf dem Kongreß hätten jedoch mit dem alten Regime verbundene Funktionäre versucht, einander das Eigentum an gewerkschaftseigenen Sanatorien zuzuschanzen. Am Mittwoch hatten Aktivisten des Rechten Sektors in Kiew eine Autovermietung überfallen und eine Reihe von Luxusfahrzeugen »enteignet«. Auch hier hieß es, man hole sich zurück, was das Janukowitsch-Regime gestohlen habe.

** Aus: junge Welt, Freitag 27. Juni 2014


Angst vor Plan B

Klaus Joachim Herrmann über das Ende der Feuerpause in der Ukraine ***

Plan B ist für den Fall des Scheiterns des sogenannten Friedensplanes von Präsident Poroschenko längst angekündigt: als Fortsetzung der offenen Gewalt per »Anti-Terror-Operation«. Selbst die Feuerpause, die am Freitag ausläuft, kam als Ultimatum in die Ostukraine. Gebt auf und flieht nach Russland, sonst werdet ihr vernichtet, lautete das Kiewer »Friedensangebot« an die Gegner. Es war so nicht erkennbar beabsichtigt, doch führte die zeitweilige, widerwillige und vielfach durchbrochene Abkehr beider Seiten vom Waffengang sogar mit den als Terroristen geächteten Separatisten zu einer zögerlichen Aufnahme von Gesprächen. Das aber wäre das allemal jedem Krieg vorzuziehende Mittel zur Konfliktlösung.

Zwischen Moskau, Kiew, Paris und Berlin wurde deshalb besonders häufig telefoniert. Washington forderte derweil unter fast ultimativen Sanktionsdrohungen Russland auf, »in den nächsten Stunden« die prorussischen Milizen entwaffnen zu helfen. Das wird aus vielen Gründen so nicht gehen. Die legalisierten Milizen des »Rechten Sektors« werden ja auch ebenso wenig wie CIA-, FBI- und sonstige in Kiew von den USA besonders gut platzierte Leute einfach abgezogen. Denn der in der Ukraine ausgetragene Grundkonflikt der Großmächte um geostrategischen Einfluss im postsowjetischen Raum ist längst nicht gelöst. Auch hier ist Verhandeln geraten. Plan B macht Angst.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 27. Juni 2014 (Kommentar)


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