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Keine Ruhe an der Grenze

Ukraine beklagt starken Widerstand der "Terroristen" / Russland revidierte Rückzugspläne

Von Klaus Joachim Herrmann *

Der ukrainische Konflikt konzentriert sich zunehmend auf die Grenzregion. Auch Russland verstärkt dort wieder seine Truppen.

»Nicht so effektiv wie gewünscht« könne die Sicherung der ukrainischen Grenze zu Russland durchgesetzt werden, klagte am Donnerstag der »Informationelle Widerstand« im Dienste der Kiewer Übergangsregierung. Die »Terroristen« leisteten zu starken Widerstand. Nun wolle man zusätzlich 200 Freiwillige gegen sie aufbieten.

Die Sicherung der Grenzregion hatte Präsident Petro Poroschenko zur Vorbedingung für die Umsetzung eines »Friedensplans« gemacht. Dessen bislang bekanntes Kernstück wäre eine kurze Feuerpause, in der die Separatisten ihre Waffen strecken und durch Korridore nach Russland verschwinden sollen. Außer bei den Planern selbst, ihren Parteigängern und westlichen Verbündeten stieß das Vorhaben kaum auf Zustimmung.

Besorgt habe Russlands Außenminister Sergej Lawrow gegenüber seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier geäußert, Kiew setze statt auf Dialog weiter auf Gewalt, teilte das Außenamt in Moskau mit. Wenn es diesen »Friedensplan« Poroschenkos aber nicht mittrage, drohten die USA Russland mit weiteren Sanktionen.

Russland verlegte wieder Truppen an die Grenze zur Ukraine. Es gehe um eine Sicherheitsmaßnahme, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Unter Hinweis auf den Generalstab in Moskau berichteten russische Medien, die Pläne für einen Rückzug der Einheiten von der Grenze seien »revidiert« worden. »Die Situation hat sich zugespitzt.« Genannt wurden Angriffe auf russische diplomatische Vertretungen in ukrainischen Städten, das nicht gehaltene Versprechen Poroschenkos zur Feuereinstellung und Provokationen an der Grenze. Kosakenkommandeure wurden in ukrainischen Medien mit dem Hinweis wiedergegeben, dass sich der südliche Militärbezirk in erhöhter Gefechtsbereitschaft befinde.

Aus dem ostukrainischen Lugansk fliehen die Familien des SOS-Kinderdorfs, informierte ein Sprecher der Organisation. »Die Region nahe der Innenstadt und die Vorstädte sind inzwischen Kriegsgebiet«, teilte Louay Yassin mit. Laut SOS-Mitarbeitern haben sich die Kämpfe zwischen separatistischen Milizen und ukrainischen Truppen immer stärker in die Innenstadt verlagert. »Angst und Panik greifen um sich, erzählen uns unsere Kollegen«, sagte Yassin. Nur wenige Menschen trauten sich wegen der Kämpfe aus dem Haus. Viele Kinder gingen wegen der Gefahr auch nicht mehr zur Schule.

Am Vortag waren in Donezk rund 3000 Bergleute und Anhänger einer von Kiew unabhängigen Region zum Protest gegen die »Anti-Terror-Operation« der Übergangsregierung und für Frieden auf die Straße gegangen. Auf Plakaten hieß es »Wir sind gegen Faschismus« oder »NATO – Nein!«.

Die OSZE konnte zu ihren seit rund drei Wochen verschleppten Beobachtern wieder Kontakt herstellen. »Sie sind okay und nicht verletzt«, sagte der Sprecher der OSZE-Mission in Kiew, Michael Bociurkiw, der Nachrichtenagentur dpa. Einzelheiten nannte er nicht, um die Sicherheit der Mitarbeiter nicht zu gefährden.

* Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014


Großoffensive im Donbass

Ukrainische Regierungstruppen greifen mit Panzern und Bombern Städte an. Russischer Politiker spricht erstmals von »Genozid«

Von Reinhard Lauterbach **


Einen Tag nach der »Friedensplan« genannten Aufforderung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko zur Kapitulation haben die Kiewer Streitkräfte eine Großoffensive gegen Stellungen der Aufständischen in den Bezirken Donezk und Lugansk begonnen. Schwerpunkt der Kämpfe war die von den Aufständischen gehaltene Stadt Krasni Liman im Norden des Bezirks Donezk. In ihrem Vorfeld setzten die Kiewer Truppen bis zu 20 Panzer, etwa 50 gepanzerte Fahrzeuge, schwere Artillerie und ihre Luftwaffe gegen die Kämpfer der »Volksrepublik Donezk« ein. Die Aufständischen räumten große Verluste ein, berichteten aber auch, daß sie mehrere Panzer der Gegenseite vernichtet hätten.

Angriffe der Kiewer Truppen gab es auch im benachbarten Bezirk Lugansk. Sie waren bis zum Donnerstag mittag offenbar nicht erfolgreich. Die militärische Führung der Lugansker Aufständischen teilte mit, man habe zwei Versuche der Regierungseinheiten, in die Regionalhauptstadt durchzubrechen, abgewehrt. Dabei sei ein Freiwilligenbataillon aufgerieben worden. Die Sturmtruppen der Kiewer Seite sind dabei offenbar weniger reguläre Armeeeinheiten als vielmehr solche Freiwilligenbataillone. Sie rekrutieren sich aus Aktivisten faschistischer Gruppierungen und hassen die Bewohner des Ostens offenbar – anders als wohl die Soldaten der Armee – aus tiefstem Herzen.

Diese Haltung demonstrierte ein Foto, das vor einigen Tagen bei der Rückeroberung der Stadt Mariupol aufgenommen wurde. Es zeigte Kämpfer im Räuberzivil, die von Lastwagen herunter die von ihnen »befreiten« Anwohner mit dem Stinkefinger begrüßten. Das Kiewer Internetportal Ukrainskaja Prawda veröffentlichte dieser Tage ein Heldeninterview mit dem Kommandeur des Bataillons »Asow«, das Mariupol für die Kiewer Machthaber zurückerobert hatte. Danach besteht die Einheit aus mehreren hundert Nationalisten aus Charkiw und Umgebung – also Bewohnern des russischsprachigen Teils der Ukraine. Die Truppe sei dem Oberkommando der »Antiterroroperation« gar nicht oder nur locker unterstellt (»wir sprechen uns ab«) und führe Aufgaben aus, für die die Armeeeinheiten nicht bereit seien. Was für Aufgaben das sind, läßt sich aus Informationen aus dem Gebiet Lugansk schließen. Dort berichteten Bewohner der Ortschaft Schtschastje (»Glück«), Kämpfer der Nationalgarde seien ohne Kampf in den Ort eingedrungen und hätten jeden Zivilisten erschossen, den sie zu Gesicht bekommen hätten.

Rußland fordert seit Tagen diplomatische Schritte, um das Blutvergießen in der Ostukraine zu beenden. Versuche, in der UNO entsprechende Resolutionen durchzubringen, werden nach Angaben des Moskauer Außenministeriums aber regelmäßig von den westlichen Vetomächten zu Fall gebracht. Unterdessen verschärft sich die Kommentierung der Vorgänge durch russische Politiker. Der Leiter der Präsidentenadministra­tion von Wladimir Putin, Sergej Iwanow, sprach erstmals von »Völkermord«. Bei einem Auftritt im von einer Flüchtlingswelle aus der Ostukraine betroffenen Gebiet Rostow sagte er, der Bürgerkrieg gehe allmählich in einen Genozid der Kiewer Truppen an der eigenen Bevölkerung über. Das ist mehr als eine emotionale Steigerung; das Stichwort »Völkermord« bezeichnet diplomatisch die Stufe innerstaatlicher Gewalt, ab der sich die »westliche Wertegemeinschaft« in den Fällen Kosovo, Libyen und Syrien das Recht zur bewaffneten Intervention im Sinne ihrer »Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung« herausgenommen hatte.

** Aus: junge Welt, Freitag 20. Juni 2014


Keine Eile mit dem Frieden

Klaus Joachim Herrmann über den Präsidenten und die ukrainische Krise **

Der neue Chef in Kiew hat keine Eile mit dem Frieden in seinem Land. Nachdem Poroschenko seinen Wahlsieg eingefahren hatte, wurden im abtrünnigen Osten massiv wie nie zuvor Luftwaffe und Artillerie eingesetzt – nicht eben die übliche Praxis gegen Terroristen. Nach der Amtseinführung kam Wille zu Frieden und Ausgleich nur als Ankündigung und in Telefonaten vor. Eine Reise in den blutig umkämpften Osten gab es ebenso wenig wie eine Waffenruhe. Solcher Hinweis ist nicht wohlfeile Mäkelei, sondern nur die Erinnerung an wiederholte Zusagen.

Selbst Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung, deren Opfer an Toten und Verletzten längst in die Hunderte, wenn nicht weit darüber hinaus gehen, bleiben Waffe in der »Anti-Terror-Operation«. Es könnten ja Feinde entwischen. Deshalb müssen erst Kontrollposten her, wo Personalien aufgenommen werden, sagt das Innenministerium. Krieg und Bürokratie nehmen sich gelassen jene Zeit, die für Frauen und Kinder Leben heißt.

Der Präsident verhandelt nach Art des genau daran gescheiterten Runden Tisches nicht mit seinen Gegnern. Er setzt auf schwere Waffen, auf ein Ultimatum mit der Tarnbezeichnung Friedensplan, auf Flucht der Abtrünnigen und die Schuld der Russen an allem. Erst Krieg, dann Sieg und später weitersehen ist natürlich auch ein Plan – allerdings ohne Frieden.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 20. Juni 2014 (Kommentar)


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